Aktenzeichen: 3 Ss OWi 583/04 OLG Hamm
Leitsatz: 1. Wenn der Tatrichter ein Fahrverbot für die Dauer von 2 Monaten anordnet, müssen ausreichende Feststellungen zu den persönlichen, insbesondere den beruflichen Verhältnissen des Betroffenen getroffen werden, damit es dem Rechtsbeschwerdegericht möglich ist zu prüfen, ob die Verhängung eines Fahrverbots etwa wegen besonderer Umstände in den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat darstellt.
2. Der Zeitrahmen von zwei Jahren zwischen der Tat und der Ahndung ist lediglich ein Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch erfüllen kann, nahe liegt. Sie ist anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen und stellt keinen Automatismus dar.
Senat: 3
Gegenstand: OWi
Stichworte: Aufhebung im Rechtsfolgenausspruch, Fahrverbot von zwei Monaten, zweimonatiges Fahrverbot, Ausführungen zur Angemessenheit erforderlich, Wahrunterstellung, andere Schlussfolgerung, Bedeutungslosigkeit, langer Zeitraum zwischen Tat und Urteil, mehr als zwei Jahre, Absehen vom Fahrverbot, Herabsetzung der Dauer des Fahrverbotes
Normen: StPO 244 Abs. 3, StVG 25 Abs. 1, BKatV
Beschluss: Bußgeldsache gegen L. K.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Minden vom 27. Mai 2004 hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 28. September 2004 durch den Richter am Oberlandesgericht als Einzelrichter gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG neuer Fassung nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Betroffenen bzw. seines Verteidigers gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 u. 4 StPO beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Im übrigen wird die Rechtsbeschwerde verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Minden zurückverwiesen.
Gründe: I. Das Amtsgericht Minden hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 175,- Euro und einem Fahrverbot von 2 Monaten verurteilt.
Das Amtsgericht hat zur Sache die folgenden Feststellungen getroffen:
"Der Betroffene hat ein geregeltes Einkommen.
Im Verkehrsregister sind vermerkt:
1) seit dem 31.10.1998 rechtskräftiger Bußgeldbescheid vom 13.10.1998, Bl. 3 a
2) seit dem 19.8.1998 rechtskräftiger Bußgeldbescheid vom 6.4.1998, Bl. 3 b
3) Urteil vom 10.8.1999
Der Betroffene befuhr am 21.8.2002 um 8.26 Uhr in Petershagen, OT Quetzen, die Bückeburger Straße in Fahrtrichtung Bückeburg (50 I.G.O.) mit dem Peugeot mit dem amtlichen Kennzeichen MI-XXXXX.
Mittels Radarmessung wurde er mit einer Geschwindigkeit von 107 km/h geblitzt abzüglich Toleranz 4 km/h.
Die Messung erfolgte innerhalb geschlossener Ortschaften. Die Fahrereigenschaft wurde nicht bestritten.
Der Betroffene und die Verteidigung haben beanstandet, dass die Beamten selbst von einem Standort gemessen haben, der zwar eine Messung durch das Radargerät Mutinova GF Nr. 11-86-198, geeicht bis 12/02, ermöglicht habe, den Beamten selbst aber den Blick in Fahrtrichtung verwehrt gewesen sei. Insoweit ist auf die Fotos Bl. 46, 47, 48 verwiesen worden.
Dies konnte jedoch keine Auswirkungen auf die Verwertbarkeit der Messung haben. Da Identitätsprobleme nicht auftauchten, kommt es nur auf die durch die Bilder Bl. 2 erfolgten Aufzeichnungen an. Diese wiesen das Messergebnis klar aus.
Da keine Gründe vorlagen, vom üblichen Rahmen abzuweichen, war der Betroffene, der zumindest fahrlässig zu schnell war, wie im Tenor niedergelegt zu verurteilen."
Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der eine Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird.
II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der erhobenen Sachrüge einen zumindest teilweise vorläufigen Erfolg. Sie führt zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils im Rechtsfolgenausspruch und zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.
1) Soweit der Betroffene mit der Verfahrensrüge einen Verstoß gegen den Grundsatz des "fairen Verfahrens" erhebt, ist diese Rüge nicht in zulässiger Weise ausgeführt worden. Sie verlangt unter anderem den vollständigen Vortrag, dass der Betroffene auf eine Zusage des Tatrichters betreffend den Rechtsfolgenausspruch hätte vertrauen dürfen. Vorliegend ist nach dem Vortrag des Beschwerdeführers seitens des Tatrichters keine ausdrückliche - den Rechtsfolgenausspruch betreffende - Erklärung zugunsten des Betroffenen abgegeben worden.
Eine konkludente Zusicherung könnte allenfalls in der Übersendung der Akte durch den Tatrichter an den Verteidiger mit der Anfrage, ob im schriftlichen Verfahren gemäß § 72 OWiG entschieden werden könne, gesehen werden. Dazu hätte aber der Vortrag gehört, dass der Betroffene und der Verteidiger dieser Verfahrensweise auch zugestimmt hätten. Dieser Vortrag ist aber nicht erfolgt.
2) Soweit der Rechtsbeschwerde darüber hinaus einen Verstoß gegen § 244 StPO rügt, ist die Rüge in noch zulässiger Weise erhoben, aber in der Sache unbegründet.
Nach dem eigenen Vortrag des Beschwerdeführer sollte mit dem - in missverständlicher Form - gestellten Beweisantrag bewiesen werden, dass die durchführenden Messbeamten während der Messung durch das Radargerät keinen Blickkontakt zum gemessenen Fahrzeug hatten.
In dieser Weise richtig verstanden, hat der Tatrichter den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, dieses könne als wahr unterstellt werden.
Diese Wahrunterstellung hat der Tatrichter auch in den Urteilsgründen - wenn auch verklausuliert - übernommen, als er ausführte:
"Dies konnte (gemeint ist die fehlende Einsichtsmöglichkeit der Messbeamten) jedoch keine Auswirkungen auf die Verwertbarkeit der Messung haben. Da Identitätsprobleme nicht auftauchten, kommt es nur auf die durch die Bilder Bl. 2 erfolgten Aufzeichnungen an. Diese wiesen das Messergebnis klar aus."
Damit widerspricht der Tatrichter aber nicht der Wahrunterstellung, sondern zieht lediglich andere Schlussfolgerungen, als der Antragsteller gezogen haben will. Dazu war der Tatrichter aber berechtigt, da als wahr unterstellte Indiztatsachen der freien Beweiswürdigung unterliegen (BGH NJW 1976, 1950; NStZ 82, 213; 83, 211; StV 1986, 467).
Soweit die Verteidigung der Auffassung ist, der Tatrichter habe den Beweisantrag nicht mit der Begründung einer Wahrunterstellung gemäß § 244 Abs. 3 StPO ablehnen dürfen, da nach dieser Vorschrift nur erhebliche Behauptungen zugunsten des Betroffenen als wahr unterstellt werden könnten, der Tatrichter aber gerade durch die Urteilsbegründung die Unerheblichkeit der behaupteten Tatsache dargelegt habe, stellt dies keinen Verfahrensfehler dar, auf dem das Urteil beruht. Zwar ist der Verteidigung zuzugeben, dass sich Bedeutungslosigkeit und Wahrunterstellung als Ablehnungsgründe ausschließen (BGH NStZ-RR 2003, 268 LS.1).
Eine Zusage, dass das Gericht die als wahr unterstellte Behauptung auch im Urteil als erheblich behandelt wird, liegt in der Wahrunterstellung aber nicht ( BGH NStZ 1983, 354) Daher ist auch eine Unterrichtung des Antragstellers darüber, dass das Gericht die Tatsache aufgrund der Urteilsberatung als unerheblich behandeln will, nicht erforderlich (BGH NStZ 1981, 295, 296; NStZ 1983, 354; OLG Hamm NStZ 1983, 522).
Soweit die Auffassung vertreten wird, dass auf einen dahingehenden Hinweis nicht verzichtet werden dürfe, wenn es nahe gelegen hätte, dass der Betroffene wegen der Wahrunterstellung davon absehen würde, andere Beweisanträge zu stellen (OLG Hamm aaO, BGHSt 30, 383 aaA BGH NStZ 1983, 354, Meyer-Goßner § 244 Rn.70 m.w.N.), ist weder ersichtlich, dass die Verteidigerin weitere gegen die Richtigkeit der Messung bedeutsame Beweisanträge gestellt hätte, noch werden solche von dem Beschwerdeführer in hinreichend substantierter Form behauptet.
3) Soweit sich der Betroffene mit der erhobenen Sachrüge gegen den Schuldspruch wendet, war die Rechtsbeschwerde auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Beschwerderechtfertigung insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO).
4) Der Rechtsfolgenausspruch hält dagegen der rechtlichen Überprüfung nicht Stand.
a) Soweit die Verteidigung allerdings rügt, der Tatrichter habe getilgte Voreintragungen zu Lasten des Betroffenen bei der Bemessung der Geldbuße berücksichtigt, geht diese Rüge erkennbar ins Leere. Zwar sind die Voreintragungen zu Ziffer 1) und 2) nicht mehr zu Lasten des Betroffenen verwertbar und daher auch nicht in das Urteil aufzunehmen.
Der Tatrichter hat aber die Regelbuße der zum Tatzeitpunkt geltenden Bußgeldkatalogverordnung gemäß Lfd. Nr. 11.3.8 entnommen, ohne die Voreintragungen bußgelderhöhend zu berücksichtigen, wobei er zugunsten des Betroffenen - trotz sich aufdrängender Umstände lediglich von einer fahrlässigen Begehungsweise ausgegangen ist.
b) Soweit der Tatrichter ein Fahrverbot für die Dauer von 2 Monaten angeordnet hat, begegnet dieses nach der bisherigen Urteilsbegründung allerdings erheblichen Bedenken.
Das Urteil enthält nämlich bis auf die Äußerung, der Betroffene habe ein geregeltes Einkommen, keine ausreichenden Feststellungen zu den persönlichen, insbesondere den beruflichen Verhältnissen des Betroffenen. Damit ist es dem Rechtsbeschwerdegericht nicht möglich zu prüfen, ob die Verhängung eines Fahrverbots etwa wegen besonderer Umstände in den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat darstellt. Die Notwendigkeit, hierzu Feststellungen zu treffen, entfällt auch nicht deshalb, weil der Regelfall nach der Bußgeldkatalogverordnung vorliegt. Denn gemindert ist in solchen Fällen für den Tatrichter allein der notwendige Begründungsaufwand (vgl. Senatsbeschluss vom 26.11.2002 - 3 Ss OWi 647/02 - ;OLG Hamm, Beschluss vom 9.11.1999 - 4 Ss OWi 1061/99 -, veröffentlicht in DAR 2000,130, m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 22.05.2002 - 2 Ss OWi 200/02 -, veröffentlicht in NZV 2002, 413).
c) Schließlich hätte der Tatrichter nicht von der am 1. März 1998 in Kraft getretenen Vorschrift des § 25 Abs. 2 a StVG absehen dürfen, da die Anwendung dieser Vorschrift bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen - wie hier - verbindlich ist.
5. Der Senat sieht sich gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden, da zunächst weitere Feststellungen zu treffen sind.
Aus diesen Gründen war die angefochtene Entscheidung im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Minden zurückzuverweisen, § 79 Absatz 6 OWiG, das auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu befinden haben wird, da deren Erfolg im Sinne des § 473 StPO in Verbindung mit § 46 Absatz 1 OWiG noch nicht feststeht.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat noch auf Folgendes hin:
Es kann zwar grundsätzlich gerechtfertigt sein, von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen, wenn die Tat lange zurückliegt und der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsgerecht verhalten hat. Denn das Fahrverbot nach § 25 I 1 StVG hat nach dem gesetzgeberischen Willen in erster Linie eine Erziehungsfunktion. Es ist als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme gedacht und ausgeformt (BVerfGE 27, 36/42). Das Fahrverbot kann daher seinen Sinn verloren haben, wenn zwischen dem Verkehrsverstoß und dem Wirksamwerden seiner Anordnung ein erheblicher Zeitraum liegt und in der Zwischenzeit kein weiteres Fehlverhalten im Straßenverkehr festgestellt worden ist.
Wann bei langer Verfahrensdauer der Zeitablauf entweder allein oder zusammen mit anderen Umständen ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen kann, ist eine Frage des Einzelfalls, die einen gewissen Beurteilungsspielraum eröffnet. In der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung ist zwar die Tendenz erkennbar, den Sinn des Fahrverbots in Frage zu stellen, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt (BayObLG, NStZ-RR 2004, 57; OLG Naumburg, ZfS 2003, 96, OLG Düsseldorf MDR 2000, 829; OLG Köln NZV 2000, 217; OLG Dresden, Beschl. v. 6.5.2003 - Ss(OWi) 565/02 ; OLG Hamm Beschluss v. 5.8.2003 - 3SS OWi 441/03 -).
Der Zeitrahmen von zwei Jahren, der sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung herausgebildet hat, ist aber lediglich ein Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch erfüllen kann, nahe liegt. Sie ist anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen und stellt keinen Automatismus dar, beim Ablauf eines mehr als zweijährigen Zeitraums zwischen der Tatbegehung und der tatrichterlichen Entscheidung von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, aus welchem Grund die lange Verfahrensdauer beruht, insbesondere ob hierfür maßgebliche Umstände im Einflussbereich des Betroffenen liegen oder Folge gerichtlicher oder behördlicher Abläufe sind (BayObLG NZV 2004, 210).
Der Umstand, dass seit der Tatbegehung nunmehr etwas über zwei Jahre verstrichen sind, macht die Anordnung eines Fahrverbots hier bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen, die noch aufzuklären sind, nicht zwangsläufig entbehrlich, weil erhebliche Verzögerungen während des amtsgerichtlichen Verfahrens auch im Einflussbereich des Betroffenen liegen. Insbesondere seine längere berufliche Ortsabwesenheit - Montage - ( Bl. 71 d. GA), der Umstand, nur durch den mehrfach verhinderten Verteidiger vertreten werden zu wollen (Bl. 26, 34), keine Reaktion auf die Anfrage des Gerichts, ob einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt wird (Bl. 67 r) , Beantragung einer dem Strafprozess nicht bekannten "Schriftsatzfrist" durch den Verteidiger (Bl. 78) haben zu mehrmonatigen Verfahrensverzögerungen geführt. Vor diesem Hintergrund hat ein anzuordnendes Fahrverbot nicht seinen Sinn verloren haben.
Sofern der Tatrichter in der erneuten Hauptverhandlung gleichwohl zu der Feststellung einer erheblichen Verfahrensverzögerung kommen sollte, ist darauf hinzuweisen, dass bei einem in Betracht kommenden mehrmonatigen Fahrverbot einer langen Verfahrensdauer im Übrigen in der Regel nicht durch einen gänzlichen Wegfall des Fahrverbots, sondern nur durch eine angemessene Herabsetzung seiner Dauer Rechnung zu tragen sein wird (BayObLG, NStZ-RR 2004, 57; OLG Naumburg, ZfS 2003, 96).
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