Aktenzeichen: 2 Ws 314/04 OLG Hamm
Leitsatz: Die Nachtragsentscheidung nach § 56 f StGB
ist an andere Voraussetzungen geknüpft als die Entscheidung über eine
bedingte Reststrafenaussetzung im Rahmen des § 57 Abs. 1 StGB. Deshalb ist
es ohne Belang, wenn der Beschwerdeführer wegen neuer Straftaten, die ihm
vorgehalten werden, noch nicht rechtskräftig abgeurteilt ist.
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: bedingte Entlassung; Strafhaft;
Unschuldsvermutung; neue Straftat; Feststellung; Sozialprognose
Normen: StGB 56 f; StGB 57
Beschluss: Strafsache
gegen S.H.
wegen
Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz,
(hier: sofortige
Beschwerde gegen die Ablehnung der bedingten Entlassung, § 57 Abs. 1
StGB).
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 22. November 2004 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vom 11. November 2004 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13. 12. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten verworfen.
Gründe:
I.
Gegen den Beschwerdeführer ist durch
Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom
10. November 2000, rechtskräftig
seit dem 15. Januar 2001, wegen unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, davon in
einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr in nicht geringer Menge eine
Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren verhängt worden.
Nachdem er sich zuvor seit dem 16. Juli 2000 in Untersuchungshaft befunden
hatte, verbüßte der Beschwerdeführer die Freiheitsstrafe ab dem
15. Januar 2001 zunächst in der Justizvollzugsanstalt Hagen und ab dem 22.
Juni 2001 im offenen Vollzug in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne. Am
08. Dezember 2001 kehrte er nach einem Ausgang nicht in die
Justizvollzugsanstalt zurück und blieb unauffindbar, bis er sich nach mehr
als zwei Jahren am 19. März 2004 den Justizbehörden in Berlin-Tegel
stellte. Seit dem 05. April 2004 befindet er sich nunmehr in der
Justizvollzugsanstalt Schwerte.
Zwei Drittel der gegen ihn verhängten
Freiheitsstrafe waren am 02. Dezember 2004 verbüßt; das Strafende
ist auf den 02. Dezember 2005 notiert.
Die Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Hagen hat nach mündlicher Anhörung des Verurteilten
durch den angefochtenen Beschluss vom 11. November 2004 die Aussetzung der
Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt, da ihm eine
günstige Sozialprognose u.a. wegen der Vielzahl der zwischenzeitlich gegen
ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht gestellt werden könne. Unter
anderem hat die Staatsanwaltschaft Mainz am 13. Juli 2004 gegen ihn Anklage
erhoben wegen des Vorwurfs des Betruges. Auf die Gründe des Beschlusses im
Einzelnen wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
Der Verurteilte wendet sich mit seiner rechtzeitig eingelegten
sofortigen Beschwerde, die er näher begründet hat, gegen die
Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung.
Die
Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet
zu verwerfen.
II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 StPO, § 57
Abs. 1 StGB statthafte und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des
Verurteilten kann in der Sache keinen Erfolg haben.
Die
Strafvollstreckungskammer hat entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft
Krefeld und in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Leiterin der
Justizvollzugsanstalt Schwerte vom 21. Juli 2004 zu Recht die vorzeitige
Entlassung des Verurteilten gemäß § 57 Abs. 1 StGB abgelehnt.
Nach § 57 Abs. 1 StGB kann nach Verbüßung von zwei Dritteln
der erkannten Strafe die Vollstreckung des Restes zur Bewährung ausgesetzt
werden, wenn eine günstige Sozialprognose gegeben ist und die
Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der
Allgemeinheit verantwortet werden kann.
Bei dieser Prognoseentscheidung
sind u.a. die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die
Umstände seiner Tat, sein Verhalten im Vollzug, seine
Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der
Aussetzung der Strafe für ihn zu erwarten sind.
Es ist nicht zu beanstanden, dass die Strafvollstreckungskammer
ihre negative Prognoseentscheidung darauf gestützt hat, dass der
Beschwerdeführer am 08. Dezember 2001 aus der Haft entwichen ist,
anschließend über zwei Jahre lang unauffindbar war und er in diesem
Zeitraum zahlreiche Straftaten begangen haben soll, die mittlerweile zu nicht
weniger als achtzehn Ermittlungsverfahren geführt haben, in denen
teilweise auch schon Anklagen erhoben worden sind.
Angesichts dieses
Verhaltens kann ihm eine günstige Prognose nicht gestellt werden. Bereits
sein Entweichen aus dem Vollzug stellt einen schwerwiegenden Angriff auf die
Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt dar, auch wenn ein solcher
Pflichtenverstoß nicht immer automatisch den Schluss auf eine fehlende
Schuldeneinsicht oder Sühnebereitschaft des Verurteilten zulässt mit
der Folge, dass in derartigen Fällen regelmäßig eine
günstige Sozialprognose nicht gestellt werden kann (vgl. hierzu auch OLG
München, StV 1986, 25). Vorliegend kommt aber hinzu, dass der Verurteilte
während seiner Flucht zahlreiche weitere Straftaten begangen haben soll.
Diesen Umstand durfte die Strafvollstreckungskammer bei ihrer
Prognoseentscheidungen berücksichtigen, auch wenn diese Straftaten noch
nicht rechtskräftig abgeurteilt sind. Ein Verstoß gegen die
Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK ist damit nicht zu besorgen.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ausgeführt, dass eine Verletzung der Unschuldsvermutung vorliege, wenn ein Bewährungswiderruf auf die in einem Verfahren ohne die Förmlichkeit einer Hauptverhandlung gewonnene Überzeugung, der Verurteilte habe eine neue Straftat begangen, gestützt werde, obwohl gleichzeitig bei einem anderen Gericht das Hauptverfahren wegen dieses Geschehens noch anhängig ist (vgl. Urteil vom 03. Oktober 2003, StV 2003, 82 ff.). In Anlehnung an diese Entscheidung hat der erkennende Senat in seinen jüngsten Beschlüssen demzufolge ausgesprochen, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung regelmäßig nur dann in Betracht kommen wird, wenn wegen der neuen Tat eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 17. Oktober 2003 in 2 Ws 243 u. 244/03; vom 11. November 2003 in 2 Ws 269/03; vom 09. November 2004 in 2 Ws 286 u. 287/04; sämtlich veröffentlicht unter www.burhoff.de; vgl. auch OLG Jena StV 2003, 574 u. 575; OLG Celle StV 2003, 575).
Diese Rechtsprechung hat jedoch vorliegend für den
Beschwerdeführer keine positiven Auswirkungen. Die Nachtragsentscheidung
nach § 56 f StGB (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) ist
nämlich an andere Voraussetzungen geknüpft als die Entscheidung
über eine bedingte Reststrafenaussetzung im Rahmen des
§ 57 Abs.
1 StGB (vgl. Beschluss des Senats vom 12. Juli 2004 in 2 Ws 168/04, VRS 107,
170 f.; Senat in NStZ 1992, 350; OLG Düsseldorf StV 1992, 287). Danach ist
es ohne Belang, ob die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten
bereits rechtskräftig abgeurteilt sind.
Für einen
Bewährungswiderruf nach § 56 f StGB ist nämlich
grundsätzlich die Feststellung einer neuen Straftat erforderlich. Im
Gegensatz dazu ist eine bedingte Reststrafenaussetzung (nur) an das Vorliegen
einer günstigen Sozialprognose geknüpft. Zwar ist die positive
Erwartung künftigen straffreien Verhaltens insbesondere dann nicht
gerechtfertigt, wenn der Verurteilte aus dem Vollzug heraus weitere erhebliche
Straftaten begangen hat. Insoweit wirkt sich also das Vollzugsverhalten
zumindest mittelbar auf die vom Gericht vorzunehmende Beurteilung aus, indessen
hat die Strafvollstreckungskammer daneben aber auch die Tat und die
Persönlichkeit des Verurteilten unter Berücksichtigung sonstiger
bekannter Umstände und Gesichtspunkte zu würdigen. Im Rahmen der
vorzunehmenden Gesamtbetrachtung gehen Zweifel über das Prognoseurteil zu
Lasten des Verurteilten (vgl. Tröndle/Fischer, 52. Aufl., § 56 StGB
Rn. 5 m.w.N.; § 56 f. StGB Rn.6 a). Dies bedeutet, dass bei verbleibenden
Unsicherheiten bei der Beantwortung der Frage, ob eine begründete und
reale Chance auf Resozialisierung und eine gewisse Wahrscheinlichkeit
straffreien Verhaltens besteht, eine bedingte Entlassung abzulehnen ist.
Insofern besteht ein gravierender Unterschied zu § 56 f. StGB, da im
Rahmen der nach dieser Vorschrift zu treffenden Entscheidung verbleibende
Zweifel an der Begehung neuer Straftaten einen Widerruf zwingend verbieten.
Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK ist im Übrigen, worauf
das Oberlandesgericht Düsseldorf (a.a.O.) ebenfalls zutreffend hingewiesen
hat, auch deshalb nicht berührt, weil es im Verfahren nach § 57 Abs.
1 StGB nicht um die Rechtsfolgen aus den neuerlichen Straftaten geht, sondern
allein um die Frage der Fortsetzung der Vollstreckung einer bereits
rechtskräftig erkannten Strafe wegen ungünstiger Prognosebeurteilung
(vgl. im Übrigen auch BVerfG NJW 1994, 377f. unter zutreffendem Hinweis
auf ansonsten auftretende Wertungswidersprüche zu der durch § 454a
Abs. 2 Satz 1 StPO geschaffenen, über die Widerrufsmöglichkeit
hinausreichenden Möglichkeit der Aufhebung der Strafaussetzung bei
Änderung der der Prognose zugrunde liegenden Tatsachengrundlage; BVerfG
NJW 1988, 1715 f.).
Dem entsprechend bedarf es nicht sicherer
Feststellungen über das Vorliegen einer neuerlich begangenen Straftat.
Vielmehr kann die Prognose bereits dann ungünstig erscheinen, wenn die
"hohe Wahrscheinlichkeit einer zwischenzeitlich begangenen weiteren Tat des
Verurteilten" besteht (vgl. BVerfG NJW 1994, 378 ).
Hinzu kommt, dass sich die Strafvollstreckungskammer anlässlich der mündlichen Anhörung des Verurteilten am 11. November 2004 ein umfassendes Bild von dessen Persönlichkeit machen konnte, das ebenfalls Grundlage für die Prognose geworden ist. Diesem auf die persönliche Anhörung gestützten Eindruck kommt nach der Rechtsprechung aller Strafsenate des Oberlandesgerichts Hamm eine wesentliche Bedeutung zu. Ein Abweichen von einer hierauf fußenden Prognose der Strafvollstreckungskammer kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht (vgl. hierzu Senat, Beschlüsse vom 18. September 2003 in 2 Ws 205/03, vom 24. November 2003 in 2 Ws 281-284, vom 19. April 2004 in 2 Ws 81-83,87/2004 und vom 06. Mai 2004 in 2 Ws 132 u. 137/04; OLG Hamm, Beschlüsse vom 17. Juni 2003 in 3 Ws 215/03 und vom 26. Mai 2003 in 3 Ws 220/03).
Die Verneinung einer günstigen Sozialprognose ist nach alledem zu Recht erfolgt. Das Beschwerdevorbringen gibt zu einer anderen Beurteilung keinen Anlass.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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