Aktenzeichen: 1 Vollz (Ws) 153/04 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Gewährung von Vollzugslockerungen, wenn der Verurteilte die Tat, wegen der er Strafe verbüßt, bestreitet.
Senat: 1
Gegenstand: Strafvollzugssache
Stichworte: Vollzugslockerungen; Bestreiten der Tat, Entscheidung der Vollzugsbehörde; Anforderungen
Normen: StVOllzG 112]
Beschluss: Strafvollzugssache
betreffend K.J.
wegen Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Vollzugsbehörde,
(hier: Gewährung von Vollzugslockerungen).
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vom 27. September 2004 gegen den Beschluss der 2. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve vom
19. August 2004 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 14. 12. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung des Präsidenten des Justizvollzugsamts Nordrhein-Westfalen beschlossen:
1. Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
2. Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes aufgehoben.
3. Der Bescheid des Leiters der Justizvollzugsanstalt Geldern vom 20. April 2004 und der Widerspruchsbescheid des Präsidenten des Landesjustizvollzugsamts NRW vom 9. Juni 2004 werden aufgehoben.
Die Vollzugsbehörde wird angewiesen, den Gefangenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
4. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Landeskasse.
Gründe:
I.
Das Landgericht Kleve hat den Betroffenen am 20. März 2002 wegen sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen hatte der Betroffene, der zuvor strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten war, während seiner Tätigkeit als Fachpfleger in einem Krankenhaus am 20. Juli 1999 und am 18. Juni 2000 den widerstandsunfähigen Zustand zweier gerade aus der Bewusstlosigkeit erwachenden Patientinnen dazu ausgenutzt, diese sexuell zu missbrauchen. Der Betroffene hat die Begehung dieser Taten stets geleugnet und hält daran bis heute fest.
Seit dem 13. November 2002 befindet sich der Betroffene, der sich zum Strafantritt freiwillig gestellt hat, im Vollzug der Freiheitsstrafe. 2/3 werden am 8. Juli 2005 verbüßt sein; das Strafende datiert auf den 8. November 2006.
Am 12. Januar 2004 hat der Betroffene erstmals beantragt, ihm Lockerungen zu gewähren. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt hat diesen Antrag am 13. Januar 2004 abschlägig beschieden und dazu u.a. ausgeführt, dass das Verhalten des Betroffenen im Vollzug zwar beanstandungsfrei sei und er auch über ein stabiles und förderungswürdiges soziales Umfeld verfüge. Auch sei zu berücksichtigen, dass er sich nach seiner Verurteilung zunächst auf freiem Fuß befunden und sich am 13. November 2002 zur Strafvollstreckung gestellt habe. Der Betroffene leugne jedoch weiterhin die Begehung der Straftaten, die zu seiner rechtskräftigen Verurteilung geführt haben. Die der Tatbegehung zugrunde liegende Tatmotivation könne deshalb nicht erhellt werden. Zwar seien die Straftaten in dem spezifisch-beruflichen Umfeld des Betroffenen zustande gekommen, jedoch könne dieser Umstand die Missbrauchsgefahr nicht ausreichend relativieren, weil offen bleibe, ob das berufliche Umfeld tatinitiierend gewesen oder ob eine dem Gefangenen innewohnende Sexualproblematik tatauslösend gewesen sei. Im Übrigen bestehe bei dem Betroffenen auch Fluchtgefahr, weil angesichts dieser Ausgangslage (bestreitender Sexualstraftäter) eine vorzeitige Entlassung des Betroffenen voraussichtlich nicht in Betracht komme und der noch nicht verbüßte Strafrest noch so groß sei, dass Fluchtgefahr nicht völlig ausgeschlossen werden könne. Die Gewährung von Urlaub sei deshalb ebenso abzulehnen wie alternative Lockerungsmaßnahmen (Ausführung oder Ausgang), weil für die Anschlussplanung einer Beurlaubung aus den oben dargelegten Gründen kein Raum gesehen werde. An dieser Entscheidungsgrundlage werde sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern. Erst etwa 12 bis 15 Monate vor dem Entlassungstermin könne mit Vollzugslockerungen stufenweise begonnen werden.
Mit Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 8. April 2004 hat der Betroffene erneut beantragt, ihm vollzugliche Lockerungen zu gewähren. Er hat dazu vorgetragen, dass weder Flucht- noch Missbrauchsgefahr bestehe und eine konkrete von ihm ausgehende Gefährlichkeit nicht allein damit begründet werden dürfe, dass er die Taten leugne. Im Übrigen sei sein soziales Umfeld gefestigt. Die Gewährung von Lockerungen sei für ihn deshalb von besonderer Bedeutung, weil er diese zur Aufrechterhaltung und Förderung seiner familiären Belange benötige.
Der Leiter der Justizvollzugsanstalt hat diesen Antrag des Betroffenen mit Bescheid vom 20. April 2004 zurückgewiesen und sich dabei im wesentlichen auf die Gründe seiner Entscheidung vom 13. Januar 2004 gestützt. Den dagegen eingelegten Widerspruch des Betroffenen hat der Präsident des Landesjustizvollzugsamts als unzulässig verworfen, weil die einwöchige Widerspruchsfrist des § 3 Abs. 2 des Vorschaltverfahrensgesetzes NW nicht eingehalten sei. Den hiergegen gerichteten Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer als unbegründet zurückgewiesen.
Dabei ist sie mit zutreffenden Erwägungen davon ausgegangen, dass der Betroffene entgegen der Auffassung des Präsidenten des Landesjustizvollzugsamtes die Widerspruchsfrist eingehalten hat und der Widerspruch nicht als unzulässig hätte verworfen werden dürfen. In der Sache hat sie den Antrag auf gerichtliche Entscheidung deshalb zurückgewiesen, weil die Entscheidung der Vollzugsbehörde, dem Betroffenen gegenwärtig keine vollzuglichen Lockerungen zu gewähren, nicht zu beanstanden sei. Die Ausführungen der Vollzugsbehörde seien nachvollziehbar und frei von Widersprüchen. Weil der Betroffene nach wie vor die Begehung der rechtskräftig abgeurteilten Straftaten leugne, seien die Ursachen der Sexualstraftaten nicht bekannt und einer Aufarbeitung damit nicht zugänglich. Ob die Gefahr bestehe, dass der Betroffene auch außerhalb des beschränkten Rahmens einer Krankenanstalt zu sexuellen Übergriffen neige, könne deshalb nicht hinreichend beurteilt werden. Eine Missbrauchsgefahr könne deswegen nicht genügend sicher ausgeschlossen werden. Bereits dies reiche aus, um die ablehnende Entscheidung des Antragsgegners zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt hinreichend zu rechtfertigen. Ob daneben noch Fluchtgefahr bestehe, könne dahingestellt bleiben.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die in zulässiger Weise eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die allgemeine Sachrüge erhebt.
II.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die der Senat zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen hat, führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sowie der Bescheide der Vollzugsbehörde und zu deren Verpflichtung zur Neubescheidung des Betroffenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats.
Gemäß § 11 Abs. 2 StVollzG dürfen Lockerungen des Strafvollzuges gewährt werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen wird. Das Gesetz räumt der Vollzugsbehörde damit bei der Gewährung von Lockerungen ein Ermessen ein, macht dessen Ausübung aber zunächst davon abhängig, dass der zwingende Versagungsgrund der Flucht- oder Missbrauchsgefahr fehlt. Hinsichtlich dieser Versagungsgründe ist der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum eröffnet, in dessen Rahmen sie mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (BGHSt 30, 320). Damit soll vor allem dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Vollzugsbehörde wegen ihrer Nähe zu dem Gefangenen besser als die Gerichte in der Lage sind, diese Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände zu treffen. Versagt deshalb die Vollzugsbehörde die Gewährung von Lockerungen, so hat die Strafvollstreckungskammer nur zu prüfen, ob die Vollzugsbehörde bei ihrer Entscheidung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (BGH a.a.O.).
Dass die Entscheidung der Vollzugsbehörde diesen Anforderungen genügt, ist im vorliegenden Fall nicht festzustellen. Die Vollzugsbehörde hat ihre Entscheidung nämlich allein darauf gestützt, dass der Betroffene seine Taten nach wie vor bestreite und aus eben diesem Grund therapeutischen Maßnahmen nicht zugänglich sei. Aus diesem Verhalten haben die in der Justizvollzugsanstalt bislang mit dem Betroffenen befassten Psychologen den Schluss gezogen, dass Art und Umfang der sexuellen Fehlentwicklung des Betroffenen nicht festgestellt werden könnten und das Risiko weiterer sexueller Auffälligkeiten mit strafrechtlicher Relevanz sich möglicherweise nicht verringert habe.
Diese Begründung der Ablehnung von Lockerungen jeder Art hält rechtlicher Überprüfung durch den Senat nicht stand. Zwar stellt die nachhaltige Tatleugnung ein ungünstiges prognostisches Kriterium für die Beurteilung einer Missbrauchsgefahr dar. Dieser Umstand allein begründet die Annahme einer Missbrauchsgefahr aber dann nicht, wenn andere - gewichtige - Umstände dem entgegenstehen. Um das Gewicht der Tatleugnung für die Missbrauchsgefahr beurteilen zu können, müssen deshalb im konkreten Fall weitere Prognosegesichtspunkte herangezogen werden, die die aus der Tatleugnung hergeleitete fehlende Unrechtseinsicht und mangelnde Tataufarbeitung zu stützen vermögen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Persönlichkeit des Strafgefangenen und seine Entwicklung bis zur Tat, die Art und Weise sowie Motive der Tatbegehung, mögliche oder erkennbare Motive für das Leugnen der Tat sowie die Entwicklung und das Verhalten im Vollzug und die Eignung für eine Therapie bei der Beurteilung der Missbrauchsgefahr zu beachten (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 251).
Im vorliegenden Fall ist dabei von besonderem Gewicht, dass sich die Straffälligkeit des Betroffenen, die zu seiner bisher einzigen Verurteilung geführt hat, allein aus seiner Stellung als Krankenpfleger und der gerade damit verbundenen Machtposition gegenüber Widerstandsunfähigen - kranken - Personen ergeben hat. Diese Machtposition hat der Betroffene ausgenutzt, um sexuelle Handlungen an widerstandsunfähigen weiblichen Personen zu begehen. In anderer Weise ist er bislang in sexueller Hinsicht (und auch anderweitig) nicht auffällig geworden. Wegen der ihm zur Last gelegten Straftaten hat der Betroffene seine Dienststellung verloren. Damit ist ihm die Möglichkeit genommen, in gleicher Weise delinquent zu werden. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er im Rahmen einer Lockerungsmaßnahme nunmehr auf andere Weise Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begehen oder auf andersartige Gewaltdelikte ausweichen könnte, sind nicht ersichtlich. Der Betroffene, der eine berufliche Umschulung zum Holzmechaniker inzwischen erfolgreich absolviert hat, hat sich zum Strafantritt selbst gestellt und ein uneingeschränkt beanstandungsfreies Vollzugsverhalten gezeigt. Sein sozialer Empfangsraum außerhalb der Anstalt ist - was von der Vollzugsbehörde ausdrücklich bestätigt wird - in jeder Hinsicht als sehr stabil zu bezeichnen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich der Betroffene unter diesen Umständen dem weiteren Vollzug der Freiheitsstrafe durch Flucht entzieht, denn die Hälfte der Strafe hat er bereits verbüßt und eine für ihn - bei fortdauernd günstigem Vollzugsverlauf - positive Entscheidung hinsichtlich einer späteren bedingten Entlassung erscheint gegenwärtig jedenfalls nicht ausgeschlossen. Im übrigen sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass etwaige Fluchtbemühungen des Betroffenen aus seinem familiären Umfeld Unterstützung erfahren könnten. Der Betroffene würde in diesem Fall gerade die Bindungen aufs Spiel setzen, die für seine Zukunftsplanung von entscheidender Bedeutung sind.
An einer ausreichenden Auseinandersetzung mit diesen für eine Prognoseentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkten fehlt es. Deshalb waren sowohl die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer als auch die Bescheide der Vollzugsbehörden aufzuheben. Auf eine Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer war nicht zu erkennen, da die Sache in Ansehung der von ihr zu treffenden Entscheidung gemäß § 119 Abs. 4 S. 2 StVollzG spruchreif ist. Insoweit kommt nämlich wegen der Fehlerhaftigkeit der Bescheide der Vollzugsbehörden allein deren Aufhebung in Betracht. Spruchreife bezüglich der Entscheidung der Vollzugsbehörde liegt allerdings nicht vor. Deswegen war diese anzuweisen, den Betroffenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden (§ 115 Abs. 4 S. 2 StVollzG).
Ergänzend bemerkt der Senat: Soweit in der ablehnenden Entscheidung des Leiters der Justizvollzugsanstalt ausgeführt wird, die Gewährung einer Ausführung oder eines Ausgangs komme schon deshalb nicht zum Tragen, weil für die Anschlussplanung einer Beurlaubung kein Raum gesehen werde, ist dies ermessensfehlerhaft. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats darf die Gewährung von Vollzugslockerungen nicht davon abhängig gemacht werden, ob bei einem Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt noch weitergehende Lockerungen in Betracht kommen könnten (OLG Hamm NStZ 85, 189).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. mit einer entsprechenden Anwendung der §§ 467, § 473 StPO.
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