Aktenzeichen: 1 Ss 423/05 OLG Hamm
Leitsatz: Die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO ist auch dann geboten, wenn der Angeklagte zwar nur zu einer Geldstrafe verurteilt wird, ihm aufgrund der Verurteilung jedoch der Widerruf von Strafaussetzungen zur Bewährung und damit längerer Strafvollzug droht.
Senat: 1
Gegenstand: Revision
Stichworte: Pflichtverteidiger; Beiordnung; Schwere der Tat; Gesamtbetrachtung; Widerruf von Strafaussetzung
Normen: StPO 140]
Beschluss: Strafsache
gegen K.M.
wegen Diebstahls
Auf die (Sprung-) Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 29. April 2005 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13. 10. 2005 durch die Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kamen zurückverwiesen.
Der Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts M. in D. als Pflichtverteidiger für das Revisionsverfahren wird zurückgewiesen.
Gründe:
Das Amtsgericht Kamen hat den Angeklagten mit dem angefochtenen Urteil wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 35,00 verurteilt. Nach den zu Grunde liegenden Feststellungen hat der Angeklagte am 12. Oktober 2004 in der Elektroabteilung der Firma K. in B. 3 DVD-Filme im Gesamtwert von 23,97 in seiner Jacke versteckt und die Kasse passiert, ohne die DVD´s zu bezahlen. Der Angeklagte hat diese Tat letztendlich eingeräumt. Das Amtsgericht hat eine Geldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen verhängt, wobei es strafschärfend berücksichtigt hat, dass der Angeklagte die Tat während laufender Bewährungszeit begangen hat. Strafmildernd fiel nach Auffassung des Gerichts der geringe Wert des Diebesgutes sowie der Umstand, dass der Angeklagte die Tat gestanden hat, ins Gewicht. Nach den weiteren Feststellungen des angefochtenen Urteils stand der Angeklagte zum Zeitpunkt der vorliegenden Tat wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs u.a. unter Bewährung. Er war am 21. August 2002 durch das Amtsgericht Kamen in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Dortmund vom 10. Februar 2004 zu einer 8-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war.
Mit Zustellung der Anklageschrift hatte das Amtsgericht den Angeklagten aufgefordert, einen Verteidiger zu benennen, da die Mitwirkung eines Verteidigers gesetzlich vorgeschrieben sei. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist indes nicht erfolgt. In einem Vermerk nach der Hauptverhandlung hat das Gericht niedergelegt, dem Angeklagten sei während der Hauptverhandlung erklärt worden, es sei kein Verteidiger bestellt worden, da vermutlich nicht mehr als eine Geldstrafe drohe. Hiergegen habe der Angeklagte keine Einwende erhoben. Es sei gerichtsbekannt, dass das Jugendschöffengericht Unna keine Bewährung widerrufe, wenn ein neues Urteil lediglich auf Geldstrafe laute.
Mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision rügt der Angeklagte u. a. die Verletzung formellen Rechts. Zur Begründung ist ausgeführt, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe. Zum einen sei der Angeklagte auf Grund seiner Persönlichkeit, seiner Ausländereigenschaft und seiner Drogen- sowie Alkoholsucht verteidigungsunfähig. Zum anderen sei auch das Merkmal der Schwere der Tat erfüllt. Im Falle einer Verurteilung drohe dem Angeklagten nicht nur der Bewährungswiderruf aus dem Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 21. August 2002 sondern ebenfalls der Bewährungswiderruf in dem Verfahren Amtsgericht Unna vom 03. Mai 2001, in welchem der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt worden sei. In diesem Verfahren sei die Bewährungszeit bereits einmal verlängert worden, und zwar bis zum 02. Mai 2005.
Die Revision des Angeklagten hat auf die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO einen vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zu Grunde liegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache.
Der Angeklagte hat die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO noch in einer den Anforderungen des § 244 Abs. 2 StPO genügenden Weise erhoben.
Die Mitwirkung eines Verteidigers war hier auch gem. § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat notwendig gewesen. In diesem Zusammenhang beurteilt sich die Schwere der Tat in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung soll eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben, wobei diese Straferwartung nicht als starre Grenze zu verstehen ist. Zwar ist hier lediglich eine Geldstrafe ausgesprochen worden. Hinzu kommt aber, dass der Angeklagte mit dem Widerruf der Strafaussetzung hinsichtlich der beiden oben genannten Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten und 1 Jahr 9 Monaten zu rechnen hatte, da er die in diesem Verfahren zu Grunde liegende Straftat während des Lauf der genannten Bewährungen begangen hat. Der drohende Widerruf der Strafaussetzung durfte vom Gericht bei der Ausübung des ihm insoweit gem. § 140 Abs. 2 StPO eingeräumten Ermessens nicht außer acht gelassen werden, da unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat sämtliche Rechtsfolgen maßgebend sind, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind (Meyer-Goßner, StPO, 48 Aufl., § 140 Rdnr. 25; OLG Hamm NStZ 1982, 298). Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die Tatsache, dass der Angeklagte im vorliegenden Fall nur zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist. Dabei kann nicht unbeachtet bleiben, dass die Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Unna vom 03. Mai 2001 bereits einmal verlängert worden ist und der Angeklagte bereits am 21. November 2003 durch das Amtsgericht Kamen wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt worden ist. Unter diesen Umständen war, obgleich es nur zu einer Verurteilung zu einer Geldstrafe gekommen ist, durchaus ein Bewährungswiderruf in Betracht zu ziehen. Unerheblich ist, dass das Amtsgericht Kamen in der Vergangenheit bei dieser Sachlage eine Bewährung nicht widerrufen hat. Dies hindert nicht eine andere Handhabe in der Zukunft, z. B. durch einen Dezernentenwechsel. Nicht entscheidungserheblich ist, dass der Angeklagte auf die Anwesenheit eines Verteidigers verzichtet hat, da die Beachtung von Bestimmungen, deren Verletzung zwingende Aufhebungsgründe nach § 338 Nr. 1 - 6 StPO sind, unabdingbar ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 337 Rdnr. 44).
Da der nach allem gegebene Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO bildet (BGH St 15, 307; BGH Strafverteidiger 1986, 287; OLG Düsseldorf Anwaltsblatt 1984, 262; OLG Hamm NStZ 1982, 298; OLG Hamm Strafverteidiger 1993, 180), war das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kamen zurückzuverweisen (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO).
Der Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers für das Revisionsverfahren ist dagegen zurückzuweisen. Insoweit handelt es sich um eine alleinige Entscheidung der mitunterzeichnenden stellvertretenden Vorsitzenden.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat insoweit ausgeführt:
"Da der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gleichzeitig mit der Revisionsbegründung gestellt worden ist, ist für eine im Übrigen durch den Amtsrichter, dessen Urteil mit der Revision angefochten ist, vorzunehmende (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 6 zu § 141) Bestellung zur Begründung der Revision kein Raum mehr. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach erfolgter Begründung der Revision kommt nämlich gerade nicht in Betracht (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 8 zu § 141). Durch den Vorsitzenden des Revisionsgerichts erfolgt eine Bestellung eines Pflichtverteidigers lediglich bei Besonderheiten im Ablauf des Revisionsverfahrens (zu vgl. BGH NStZ 1997, 48), namentlich zur Durchführung einer Revisionshauptverhandlung. Da derartige Besonderheiten hier nicht ersichtlich sind, kommt eine Pflichtverteidigerbestellung nicht in Betracht."
Diese Ausführungen macht sich die stellvertretende Vorsitzende zu eigen und legt sie ihrer Entscheidung zu Grunde.
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