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Rechtsprechung

Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. 124/2000 OLG Hamm (26/2000)

Leitsatz: 1. Zur Annahme von Fluchtgefahr im Auslieferungsverfahren.
2. Zur Annahme von "besonderen Umständen" im Sinn von § 10 Abs. 2 IRG

Senat: 2

Gegenstand: Auslieferungsverfahren

Stichworte: Fluchtgefahr im Auslieferungsverfahren, besondere Umstände zur Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Auslieferungsverfahren

Normen: IRG 15, IRG 16, IRG 10 Abs. 2

Beschluss: Auslieferungssache(vorläufiger Auslieferungshaftbefehl) betreffend den türkischen Staatsangehörigen N.Y. wegen Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zum Zweck der Strafverfolgung wegen Schmuggels hier: Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft).

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 4. April 2000 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 06.04.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

Der Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls wird abgelehnt.

Gründe:
I. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, gegen den Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft anzuordnen. Diesen Antrag hat sie wie folgt begründet:
"Interpol Ankara, eine im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 1 IRG zuständige Behörde (zu vgl. Art. 16 Abs. 3 des EuAlÜbk), hat durch Vermittlung des Bundeskriminalamtes mit Funkspruch vom 24.03.2000 um die Festnahme des Verfolgten zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung ersucht (Bl. 1 f d.A.). Das Ersuchen ist auf den Haftbefehl des Friedensgerichts des Gerichtsbezirks Biga vom 28.09.1999 - Aktenzeichen 1999/54 esas - gestützt. Dem Verfolgten wird zur Last gelegt, das Kraftfahrzeug VW Passat GL, amtl. Kennzeichen: UN-KX 507, Motornummer. jn 102938, gestohlen und in die Türkei verbracht zu haben.
Der Verfolgte ist aufgrund des türkischen Festnahmeersuchens am 28.03.2000 unter seiner Wohnanschrift festgenommen worden (Bl. 4 d.A.). und befindet sich seitdem aufgrund der Festhalteanordnung des Amtsgerichts Kamen vom 29.03.2000 - 4 Gs 111/00 - (Bl. 12 d.A.) gem. § 22 Abs. 3 S. 2 IRG in der Justizvollzugsanstalt Hamm.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft sind nach hiesiger Auffassung gegeben.
Die dem Verfolgten zur Last gelegte Straftat ist sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht zumindest als Diebstahl strafbar und mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr bedroht.
Die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei erscheint nicht von vornherein unzulässig. Die Auslieferungsfähigkeit der ihm vorgeworfenen Straftat ergibt sich aus Art. 2 des EuAlÜbk. Anhaltspunkte dafür, dass der Verfolgte deutscher Staatsangehöriger sein könnte, liegen nicht vor. Soweit in der Festnahmeanzeige vom 28.03.2000 die Staatsangehörigkeit mit "dt." bezeichnet wird, handelt es sich nach fernmündlicher Auskunft von KOKin S. um ein Versehen. Dem entspricht der in der Festnahmeanzeige benannte türkische Pass des Verfolgten sowie dessen eigene Angabe bei Anordnung der Auslieferungshaft, er sei türkischer Staatsangehöriger.
Die Auslieferung erscheint auch sonst nicht von vornherein unzulässig.
Die Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft ist geboten, da zu erwarten ist, das sich der Verfolgte ohne die Anordnung und den Vollzug der vorläufigen Auslieferungshaft dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen wird.
Die vorläufige Auslieferungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der in der Türkei zu erwartenden Strafe."

II. Dem vermag der Senat nicht beizutreten, so dass der Erlass des vorläufigen Auslieferungshaftbefehls abzulehnen war.

Dahinstehen kann, wie im Hinblick auf § 10 IRG der Umstand auslieferungsrechtlich zu bewerten ist, dass die türkischen Behörden ihr Auslieferungsersuchen auf einen wegen Schmuggels ergangenen Haftbefehl stützen, die Generalstaatsanwaltschaft aber davon ausgeht, dass die Tat des Verfolgten "zumindest als Diebstahl..." strafbar sei. Dahinstehen kann an dieser Stelle auch (vgl. insoweit aber die Ausführungen unter III), ob nicht ggf. die besonderen Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 IRG vorliegen und ggf. (auch) deshalb der Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls ausscheidet.

Denn der Erlass des vorläufigen Auslieferungshaftbefehls nach §§ 16, 15 IRG war zumindest deshalb abzulehnen, weil die dafür erforderliche Fluchtgefahr im Sinn des § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG - der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 IRG scheidet ersichtlich aus - nicht gegeben ist. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG setzt die Annahme von Fluchtgefahr voraus, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung eher entziehen wird als dass er sich für das Verfahren zur Verfügung hält.

Der Senat vermag sich der nicht näher begründeten Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, wonach Fluchtgefahr bestehen soll, nicht anzuschließen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die den Verfolgten in der Türkei wegen der ihm zur Last gelegten Tat erwartende Strafe nicht derart hoch sein dürfte, dass allein diese Straferwartung möglicherweise schon einen erheblichen Fluchtanreiz darstellen könnte. Der Verfolgte hat zudem soziale Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland. Er lebt hier seit zumindest 1993, ist verheiratet und nimmt derzeit an einer Weiterbildungsmaßnahme des Arbeitsamtes teil. In sein Heimatland Türkei kann er wegen des dort gegen ihn bestehenden Haftbefehls nicht fliehen, dass er Kontakte in andere Staaten hat, ist nicht erkennbar. Nach allem ist daher der Senat davon überzeugt, dass sich der Verurteilte in der Bundesrepublik Deutschland für das Auslieferungsverfahren zur Verfügung halten wird.

Damit ist ein Haftgrund im Sinn des § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG nicht geben, so dass der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft abzulehnen war.

III. Für den Fortgang des Auslieferungsverfahrens weist der Senat vorsorglich auf folgendes hin.

Die Generalstaatsanwaltschaft wird sehr sorgfältig zu prüfen haben, ob nicht vorliegend die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 IRG zu bejahen sind. Danach ist bei Vorliegen "besonderer Umstände", die Anlass zu der Prüfung geben, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig ist, die Auslieferung nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.

Nach der Begründung des Auslieferungsersuchens soll der Verfolgte den Pkw VW Passat, während er in Deutschland arbeitete, gestohlen und dann in die Türkei gebracht haben. Dort soll er ihn in einem einem Bekannten gehörenden Lagerhaus versteckt haben. Er soll dann ohne den Pkw aus der Türkei ausgereist und das Fahrzeug - offenbar in der Türkei - als gestohlen gemeldet haben.

Demgegenüber hat der Betroffene bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht angegeben, der gegen ihn erhobene Vorwurf sei völlig unsinnig. Er habe den Pkw 1993 von einer namentlich benannten Dachdeckerfirma in Bergkamen-Rünthe gekauft. Der Pkw sei ihm in der Zeit vom 19. bis 20. August 1996 in der Türkei mit seinem gesamten Urlaubsgepäck entwendet worden. Seinem Bekannten, bei dem er den Pkw untergestellt haben soll, sei in der Türkei derselbe Vorwurf wie ihm gemacht worden. Dieser habe dort ca. ein halbes Jahr ohne Gerichtsverhandlung im Gefängnis gesessen und sei nach einer Gerichtsverhandlung dann freigelassen worden. Er nehme an, dass sein Bekannter freigesprochen worden sei.

Die Richtigkeit dieser Angaben lässt sich, zumindest was den Kauf des Pkw in der Bundesrepublik Deutschland betrifft, ohne weiteres durch eine einfache Anfrage bei der Dachdeckerfirma, die Verkäuferin gewesen sein soll, überprüfen. Sind die Angaben des Verfolgten in diesem Punkt zutreffend, scheidet der von der Generalstaatsanwaltschaft angenommene Diebstahl des Pkw aus. Dieser Umstand würde dann erheblich, ebenso wie ein sog. "Alibibeweis", für die Unschuld des Verfolgten sprechen (vgl. zum Alibibeweis Schomburg in Schomburg/Lagodny, IRG, 3. Aufl., § 10 IRG Rn. 44 mit weiteren Nachweisen). Hinzukommt, dass der Vorfall bereits mehr als 3 Jahre zurückliegt und außerdem der Bekannte des Verfolgten, der an der Tat beteiligt gewesen sein soll, freigesprochen worden sein soll.

Dies alles ist nach Auffassung des Senats genügend Anlass zur Prüfung der Frage, ob ggf. die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 IRG vorliegen und ob ggf. die türkischen Behörden zu einer Ergänzung ihres Auslieferungsersuchens aufzufordern sind.


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