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Rechtsprechung

Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. 140/94 (39/96) OLG Hamm

Leitsatz: Ist gegen den Verfolgten ein Abwesenheitsurteil ergangen und hatte er von den im Verfahren anstehenden Hauptverhandlungsterminen keine Kenntnis, ist eine Auslieferung aufgrund des Abwesenheitsurteils unzulässig (hier: Auslieferung nach Italien).

Gericht: OLG Hamm

Senat: 2

Gegenstand: Auslieferungssache

Stichworte: Zulässigkeit der Auslieferung, Abwesenheitsurteil, noch mögliche Rechtsmittel des Verfolgten, Wiedereinsetzung in Italien, Mindeststandard

Normen: IRG 73, GG 25

Fundstelle: NStZ 1997, 194; StV 1997, 364; StraFo 1997, 211

Beschluss: Auslieferungssache betreffend den bosnischen Staatsangehörigen M.M. wegen Auslieferung des Verfolgten aus der Bundesrepublik Deutschland in die Republik Italien zum Zweck der Strafverfolgung wegen Beteiligung an einer Vereinigung, deren Ziel es war, Verbrechen des Rauschgifthandels zu begehen (hier: Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung).

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 12. April 1995 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 03.12.1996 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

Die Auslieferung des Verfolgten an die Behörden der Republik Italien zum Zwecke der Strafvollstreckung wegen der durch Urteil des Appelationsgerichts Lecce vom 16. Februar 1993 verhängten Freiheitsstrafe von 13 Jahren und der ebenfalls verhängten Geldstrafe von 55.000.000 Lira ist unzulässig.

Der vorläufige Auslieferungshaftbefehl vom 9. Mai 1994 wird aufgehoben.

G r ü n d e:
I. 1. Mit Beschluss vom 9. Mai 1994 hat der Senat gegen den Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet. Diese Anordnung ging zurück auf ein Festnahmeersuchen zum Zweck der Auslieferung des Verfolgten zwecks Strafverfolgung, das Interpol Rom am 12. November 1991 an die deutschen Behörden gesandt hatte. Dem Festnahmeersuchen lag ein Haftbefehl des Gerichts in Lecce vom 27. Dezember 1990 zugrunde, der dem Verfolgten die Beteiligung an Rauschgiftgeschäften in Italien zur Last legte.

In Auslieferungshaft hat sich der Verfolgte nur bis zum 6. Juni 1994 befunden. Seitdem wird eine Restfreiheitsstrafe von noch 1091 Tagen aus dem Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 1. Juli 1987 (219 VRs 7732/87 StA Düsseldorf) vollstreckt, durch das der Verfolgte wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt worden ist Nach Verbüßung von 2/3 dieser Strafe war der Verfolgte am 12. Januar 1990 bedingt aus der Justizvollzugsanstalt Remscheid, in der er die Strafhaft verbüßt hatte, entlassen worden. Die Strafaussetzung zur Bewährung ist zwischenzeitlich widerrufen worden.

Das italienische Justizministerium - Generaldirektion für Strafsachen und Strafregister - in Rom hat dann mit Verbalnote vom 15. Juni 1994 um die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung ersucht. Das Ersuchen ist nunmehr auf das Urteil der 2. Strafkammer des Appelationsgerichts von Lecce vom 16. Februar 1993, rechtskräftig seit dem 19. Juni 1993, gestützt, durch das der Verfolgte wegen Beteiligung an einer Vereinigung, deren Ziel es war, Verbrechen des Rauschgifthandels zu begehen, zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und zu einer Geldstrafe von 55.000.000 Lira verurteilt worden ist. Der Verfolgte soll danach im August und September 1990 mindestens zweimal in Italien Rauschgift transportiert und zusammen mit anderen Mittätern beim Absatz mitgewirkt haben.

2. Aufgrund der von der Generalstaatsanwaltschaft und dem Senat veranlassten Anfragen lässt sich aus den von den italienischen Behörden überreichten Unterlagen und erteilten Auskünften folgender Gang des gerichtlichen Verfahrens in Italien feststellen:

Gegen den Verfolgten wurde am 27. Dezember 1990 durch den Untersuchungsrichter des Landgerichts Lecce Haftbefehl erlassen, in dem ihm Beteiligung an Rauschgiftgeschäften zur Last gelegt wurde. Nach Auskunft der italienischen Behörden ist der Verfolgte seit dem 15. Februar 1991 flüchtig. Am 31. März 1992 erging gegen ihn das Urteil des Landgerichts Lecce und am 16. Februar 1993 - auf die Berufung der Staatsanwaltschaft - das des Appelationsgerichts Lecce. Durch dieses ist der Verfolgte in Abwesenheit zu den o.a. Strafen verurteilt worden. Im Verfahren wurde der abwesende Verfolgte von der Pflichtverteidigerin Francesca Conte, die ihm vom Gericht beigeordnet worden war, verteidigt. Ladungen zu den Verhandlungsterminen wurden nur dieser zugestellt. Der Verfolgte hatte während des gesamten Verfahrens keinen Kontakt zu seiner Pflichtverteidigerin.

Das Urteil des Appelationsgerichts Lecce vom 16. Februar 1993 ist seit dem 19. Juni 1993 rechtskräftig. Rechtsmittel gegen dieses Urteil sind von der Pflichtverteidigerin nicht eingelegt worden. Das Verfahren gegen den Verfolgten kann nach der italienischen Strafprozessordnung nicht wiederaufgenommen werden. Dem Verurteilten steht nach Auskunft des Präsidenten des Appelationsgerichts Lecce insbesondere nicht der Rechtsbehelf des Art. 175 der italienischen StPO (Wiedereinsetzung) zu. Möglich ist nach Art. 630 der italienischen StPO lediglich noch eine "Revision der Strafbeimessung".

Der Verfolgte hat im vorliegenden Verfahren vorgetragen, noch nie in Italien gewesen zu sein. Er hat ein in serbokroatischer Sprache abgefasstes Schreiben, das vom Amtsgericht Zenica stammen soll, vorgelegt. Nach der beigefügten Übersetzung soll der Verfolgte danach in der Zeit vom 1. März 1990 bis zum 1. Mai 1992 eine Haftstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten im "Straf- und Besserungsgefängnis in Zenica" verbüßt haben.

Der Verfolgte hat beantragt, die Auslieferung für unzulässig zu erklären. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, gegen den Verfolgten die förmliche Auslieferungshaft anzuordnen und die Auslieferung für zulässig zu erklären. Sie ist der Auffassung wegen der dem Verfolgten noch zustehenden Möglichkeit der Revision sei er nicht rechtsschutzlos gestellt, so dass die Auslieferung an die Republik Italien zulässig sei.

II. Die Auslieferung des Verfolgten an die Behörden der Republik Italien zum Zweck der Strafvollstreckung wegen der durch das Urteil des Appelationsgerichts Lecce vom 16. Februar 1993 verhängten Freiheitsstrafe von 13 Jahren und der Geldstrafe von 55.000.000 Lira ist - entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft - unzulässig. Die Leistung der ersuchten Rechtshilfe würde wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen (§ 73 IRG).

1. In dem Verfahren, das zu dem Urteil des Appelationsgerichts Lecce vom 16. Februar 1993 geführt hat, sind die Mindestrechte des Verfolgten, die nach übereinstimmender obergerichtlicher Rechtsprechung jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen (vgl. Art. 2 Abs. 1 des 2. Zusatzprotokolls vom 17. März 1978 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957), nicht gewahrt worden. Ausweislich des Urteils vom 16. Februar 1993 hat an der Verhandlung vor dem Appellationsgericht nur die dem Beschuldigten vom Gericht beigeordnete Pflichtverteidigerin Francesca Conte teilgenommen, der Beschuldigte selbst war nicht anwesend. Zwar haben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. NJW 1983, 1726 f.), der sich der Senat in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat (vgl. zuletzt Beschluss des Senats vom 24. Februar 1994 - (2) 4 Ausl. 382/92[ 77/93]), die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, grundsätzlich nicht nachzuprüfen. Sie sind jedoch nicht an der Prüfung gehindert - und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu auch verpflichtet-, ob die Auslieferung und ihr zugrundeliegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann besonders dann Anlas bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (BVerfG, a.a.O.; NJW 1982, 1214). Zu dem Mindeststandard verfassungsrechtlicher Garantien gehört, dass dem Verfolgten in dem Abwesenheitsverfahren, das zu seiner Bestrafung geführt hat, die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich zu verteidigen, tatsächlich wirksam eingeräumt worden ist (vgl. o.a. Beschluss des Senats; siehe auch KG StV 1993, 207 f. m.w.N.; OLG Düsseldorf NJW 1987, 2172). Nach übereinstimmender obergerichtlicher Rechtsprechung muß der Verfolgte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und ggf. auch Berücksichtigung zu erreichen (OLG Karlsruhe NStZ 1983, 232, OLG Koblenz GA 1983, 524). Voraussetzung dafür ist, dass der Verfolgte nachweislich von dem gegen ihn konkret geführten Strafverfahren und von anstehenden und zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen Kenntnis erhalten hat (KG, a.a.O.).

Das ist vorliegend nicht der Fall. Nach den von den italienischen Behörden erteilten Auskünften ist davon auszugehen, dass der Verfolgte von den in Italien im Verfahren anstehenden Hauptverhandlungsterminen keine Kenntnis hatte, da er zu diesen nur zu Händen seiner Pflichtverteidigerin geladen worden ist. Zu dieser hatte der Verfolgte aber - so die italienischen Behörden - während des ganzen Verfahrens keinen Kontakt. In diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob der Verfolgte tatsächlich, wie er vorgetragen hat, noch nie in Italien gewesen ist. Denn selbst wenn dies nicht zutreffen würde und der Verfolgte von dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren Kenntnis gehabt hätte, wäre das hier nicht von entscheidender Bedeutung. Nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen kann der Verfolgte allenfalls (noch) vom Erlas/Bestand des Haftbefehls vom 27. Dezember 1990 Kenntnis erlangt haben. Der bloße Umstand, dass er sich dann möglicherweise im Februar 1991 dem gegen ihn eingeleitetem Strafverfahren grundsätzlich durch Flucht entzogen hat, kann für sich allein nicht entscheidend ins Gewicht fallen (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1987, 2172, 2173). Entscheidend ist, dass der Verfolgte die Möglichkeit haben muß, sich verteidigen zu können. Das ist hier aber mangels Kenntnis vom Hauptverhandlungstermin nicht der Fall.

Nach Auffassung des Senats wäre eine Verteidigung des Verfolgten auch nicht von vornherein aussichtslos gewesen. Hätte der Verfolgte nämlich von den anstehenden Hauptverhandlungsterminen gewusst, hätte er oder zumindest seine Pflichtverteidigerin die oben erwähnte Bescheinigung des Amtsgerichts Zenica in das Verfahren einführen können. Das Landgericht bzw. das Appellationsgericht Lecce hätte sich mit diesem Verteidigungsvorbringen des Verfolgten auseinandersetzen müssen. Dabei kann hier die Richtigkeit der Bescheinigung dahinstehen. Denn jedenfalls kann das Vorbringen des Verfolgten, er habe zur Tatzeit in Strafhaft in Zenica gesessen, da der Verfolgte am 12. Januar 1990 aus dem deutschen Strafvollzug entlassen wurde, nicht ohne weiteres als unwahr angesehen werden, so dass für den Verfolgten zumindest eine Verteidigungschance bestanden hätte.

2. Dem Verfolgten stehen im Fall der Auslieferung nach Italien gegen das seit dem 19. Juni 1993 rechtskräftige Urteil vom 16. Februar 1993 auch keine ausreichenden Rechtsmittel mehr zur Verfügung. Der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung nach Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung ist nach Auskunft des Präsidenten des Appelationsgerichts Lecce nicht gegeben. Danach kann der Verfahren nur noch wegen "Revision der Strafbeimessung" nach Art. 630 der Strafprozessordnung wiederaufgenommen werden. Abgesehen davon, dass die Voraussetzungen des Art. 630 der italienischen StPO - soweit ersichtlich - nicht vorliegen dürften, hat der Verfolgte damit keine Möglichkeit mehr, sich gegen den Schuldspruch zu wenden. Somit würde sein Verteidigungsvorbringen, das sich gerade gegen den Schuldspruch richtet, auf jeden Fall ins Leere laufen.

Schließlich liegen auch die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 Satz 2, 3 des 2. Zusatzprotokolls vom 17. März 1978 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 nicht vor. Hiernach wird die Auslieferung bei einem Abwesenheitsurteil bewilligt, wenn die ersuchende Vertragspartei eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, dem Verfolgten das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewährleisten, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. In den dem Senat vorliegenden Auslieferungsunterlagen haben die italienischen Behörden eine derartige Zusicherung nicht gegeben. Der Verfolgte ist mit einer Auslieferung nach Italien auch nicht einverstanden.

III. Nach allem ist somit die ersuchte Auslieferung in die Republik Italien zum Zweck der Strafvollstreckung aus dem Urteil des Appelationsgerichts Lecce vom 16. Februar 1993 unzulässig. Der vorläufige Auslieferungshaftbefehl vom 9. Mai 1994 war aufzuheben.


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