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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 402/98 OLG Hamm

Leitsatz: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeine verfassungsrechtliche Richtlinie kann es ggf. grundsätzlich vertretbar erscheinen lassen, eine gem. § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zur Außervollzugsetzung angeordnete Meldeauflage zeitweise vollständig auszusetzen.

Senat: 2

Gegenstand: Haftbeschwerde

Stichworte: Aussetzung einer Meldeauflage, Haftbeschwerde, Verhältnismäßigkeit, Fluchtgefahr

Normen: StPO 116

Fundstelle: StraFo 1998, 423; StV 1999, 38

Beschluss: Strafsache gegen S.H. wegen Vergewaltigung hier: Haftbeschwerde des Angeschuldigten).

Auf die (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten vom 11. August 1998 gegen den Beschluss der II. großen Strafkammer des Landgerichts Dortmund vom 20. Juli 1998 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 17.09.1998 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Beschluss der II. großen Strafkammer des Landgerichts Dortmund vom 20. Juli 1998 wird auf Kosten der Landeskasse, die auch die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten im Beschwerdeverfahren trägt, aufgehoben.

Die Meldeauflage aus dem Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 23. Oktober 1997 (78 Gs 1264/97) wird für eine Zeitdauer von vier Wochen ausgesetzt. Den Beginn des Zeitraums der Aussetzung hat der Angeschuldigte ein Woche vorher der Polizeibehörde in Dortmund-Mitte anzuzeigen.

G r ü n d e:
I. Mit seiner (Haft-)Beschwerde wendet sich der Angeschuldigte, der britischer Staatsangehöriger ist, gegen einen Beschluss des Landgerichts Dortmund, durch den sein Antrag auf zeitweise Aufhebung einer Meldeauflage abgelehnt worden ist.

Gegen den Angeschuldigten erging am 5. September 1997 durch das Amtsgericht Dortmund Haftbefehl (80 Gs 1293/97), mit dem dem Angeschuldigten zur Last gelegt wurde, am 28. August 1997 in Dortmund seine damalige Freundin vergewaltigt zu haben. Dieser Vorwurf ist auch Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 17. Dezember 1997. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens hat die Strafkammer noch nicht entschieden. Dies soll erst nach Eingang eines Glaubwürdigkeitsgutachtens geschehen.

Der Haftbefehl gegen den Angeschuldigten wurde unmittelbar nach Erlass am 5. September 1997 durch Beschluss des Amtsgerichts vom selben Tag außer Vollzug gesetzt. Dem Angeschuldigten wurde u.a. aufgegeben, sich zweimal wöchentlich bei der Polizei in Dortmund zu melden. Durch Beschluss des Amtsgerichts vom 23. Oktober 1997 (78 Gs 1264/97) ist die Meldeauflage dahin abgeändert worden, dass sich der Angeschuldigte nur noch einmal wöchentlich bei der Polizei zu melden hat. Der Angeschuldigte ist den jeweiligen Meldeauflagen ohne Beanstandung nachgekommen.

Am 17. Juli 1998 beantragte der Angeschuldigte, die Meldeauflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss für den Monat August 1998 auszusetzen. Dies begründete er damit, dass er für ca. 4 Wochen in sein Heimatland reisen wolle, um notwendige finanzielle und persönliche Angelegenheiten zu regeln sowie, um sich einer notwendig gewordenen Heilbehandlung zu unterziehen. Diesen Antrag hat die Strafkammer im angefochtenen Beschluss abgelehnt, weil zu befürchten sei, dass der Angeschuldigte bei einer Reise in sein Heimatland für das Strafverfahren unerreichbar sein werde. Dagegen wendet sich der Angeschuldigte nun mit seiner (Haft-)Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt und darauf hingewiesen, dass eine Aussetzung der Meldeauflage praktisch einer Aufhebung des Haftbefehls gleich käme. Der Angeschuldigte hat im Beschwerdeverfahren seinen Antrag dahin modifiziert, dass, da er für die beabsichtigte Reise nicht an den Monat August gebunden sei, nunmehr beantrage, die Meldeauflage für eine noch von ihm zu bestimmende Zeitdauer von vier Wochen aufzuheben.

II. Die (Haft-)Beschwerde ist zulässig. Sie hat sich insbesondere nach Ablauf des Monats August 1998 nicht durch Zeitablauf erledigt. Schon nach der Begründung des Antrags vom 17. Juli 1998 kam es dem Angeschuldigten, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, ersichtlich auf die Aussetzung der Meldeauflage für einen längeren Zeitraum an, ohne dass letztlich eine zeitliche Begrenzung auf den Monat August 1998 gewollt war. Dies ist nun durch die Modifizierung des Antrags im Schriftsatz des Verteidigers vom 15. September 1998, wonach beantragt wird, "die Meldeauflage für eine noch von dem Angeschuldigten zu bestimmende Zeitdauer von 4 Wochen aufzuheben", zusätzlich klargestellt.

Die (Haft-)Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Mit der Generalstaatsanwaltschaft ist der Senat zunächst der Auffassung, dass die vom Amts- bzw.- Landgericht angenommenen Gründe für das (Fort-)Bestehen des Haftbefehls, die Voraussetzung für die beantragte Außervollzugsetzung sind, da anderenfalls der Haftbefehl insgesamt aufzuheben wäre (vgl. dazu Boujong, a.a.O., § 116 Rn. 7), nach wie vor gegeben sind.

Es besteht, worauf die Generalstaatsanwalt zutreffend hinweist, dringender Tatverdacht. Insoweit nimmt der Senat, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen des Anklageschrift vom 17. Dezember 1997 Bezug und tritt der dort gemachten Würdigung der erhobenen Beweise bei.

Es besteht auch Fluchtgefahr i.S. von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Angeschuldigte ist britischer Staatsbürger und verfügt in der Bundesrepublik Deutschland über keine familiären und sozialen Bindungen. Er hat außerdem keinen festen Wohnsitz und ist zudem arbeitslos; seinen Lebensunterhalt sichert er durch Einnahmen aus der von ihm veranstalteten Straßenmusik. Unter angemessener Berücksichtigung dieser Umstände ist der Senat angesichts der im Verurteilungsfall zu erwartenden empfindlichen Freiheitsstrafe davon überzeugt, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren durch Flucht entziehen wird.

Dieser Gefahr kann jedoch durch die vom Amtsgericht angeordnete Meldeauflage grundsätzlich entgegengewirkt werden. Nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO kann der Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt ist, ausgesetzt werden, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. Dabei wird als eine der möglichen Maßnahmen in § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO die sog. Meldeauflage genannt. Nach allgemeiner Meinung (vgl. u.a. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 116 StPO Rn. 1; Boujong in Karlsruher Kommentar, 3. Aufl., § 116 StPO Rn. 1, jeweils mit weiteren Nachweisen) ist § 116 StPO eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der es gebietet, den Vollzug eines Haftbefehls dann auszusetzen, wenn der Zweck der Untersuchungshaft auch durch weniger einschneidende Mittel erreicht werden kann. Nach Auffassung des Senats ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeine verfassungsrechtliche Richtlinie jedoch nicht nur bei der Frage, ob ein Haftbefehl überhaupt außer Vollzug zu setzen ist, sondern auch dann zu berücksichtigen, wenn es - wie hier - um die Entscheidung über den Fortbestand bzw. die zeitweise Aussetzung einer bei der Außervollzugsetzung des Haftbefehls angeordneten Maßnahme geht. Denn auch diese kann den vom Haftbefehl Betroffenen ggf. - noch zu stark - belasten.

Diese Auffassung führt vorliegend dazu, dass die zeitweise Aussetzung der grundsätzlich angeordneten Meldeauflage vertretbar erscheint. Dabei ist zunächst die bereits verhältnismäßig lange Dauer des Verfahrens von Bedeutung, das inzwischen mehr als ein Jahr andauert, ohne dass es durch ein zumindest erstinstanzliches Urteil abgeschlossen wäre. Während dieser gesamten Verfahrensdauer hat der Angeschuldigte auch die ihm auferlegten Meldeauflagen ohne Beanstandung erfüllt, so dass nicht ersichtlich ist, warum dem Angeschuldigten nun die von ihm gewünschte - kostenfreie - medizinische Versorgung in seinem Heimatland verweigert werden soll. Hinzu kommt, dass es dem Angeschuldigten, was die Generalstaatsanwaltschaft übersieht, auch bislang schon möglich war, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und sich damit dem Strafverfahren zu entziehen, da eine Aufenthaltsbeschränkung vom Amtsgericht nicht angeordnet worden ist. Dass der Angeschuldigte dies nicht getan hat, zeigt, dass die zeitweise Aussetzung der Meldeauflage vertretbar und angesichts der noch zu erwartenden, nicht abzusehenden Verfahrensdauer im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch geboten ist.

Dem kann nach Auffassung des Senats auch nicht entgegengehalten werden, dass die Aussetzung der Meldeauflage einer Aufhebung des Haftbefehls gleichkomme. Denn der Haftbefehl des Amtsgerichts vom 5. September 1997 bleibt bestehen, er ist lediglich für einen bestimmten Zeitraum - noch weiter - außer Vollzug gesetzt. Mit seiner Entscheidung setzt sich der Senat auch nicht in Widerspruch zu der in der Rechtsprechung wohl herrschenden Auffassung, dass die befristete Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nicht statthaft sein soll (vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise bei vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 116 StPO Rn. 2). Denn vorliegend geht es nicht um die Frage, ob die - befristete - Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls überhaupt zulässig ist, sondern darum, ob ein bereits außer Vollzug gesetzter Haftbefehl - noch weiter - außer Vollzug gesetzt werden kann.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.


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