Aktenzeichen: 2 Ws 554/98 OLG Hamm
Leitsatz: Auch wenn gegen den Beschuldigten bereits eine Strafe verhängt ist, müssen bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Beschuldigte werde dem in der verhängten Strafe (hier: 3 Jahre) liegenden Fluchtanreiz nachgebe.
Senat: 2
Gegenstand: Haftbeschwerde
Stichworte: Fluchtgefahr, bereits verhängte hohe Strafe, bestimmte Tatsachen, familiäre Bindungen
Normen: StPO 112
Fundstelle: StV 1999, 215 m. Anm. Hohmann StV 2000, 152
Beschluss: Strafsache gegenW.M. wegen Vergewaltigung(hier: Haftbeschwerde des Angeklagten).
Auf die Haftbeschwerde des Angeklagte vom 10. November 1998 gegen den Beschluss der VIII. Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 9. November 1998 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 27.11.1998 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der Haftbefehl vom 9. November 1998 wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Landeskasse auferlegt.
G r ü n d e:
I. Dem Angeklagten wird mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 9. Juni 1998 vorgeworfen, am 17./18. Dezember 1993 seine Schwiegermutter vergewaltigt zu haben. Die Anklage wurde am 5. August 1998 zur Hauptverhandlung zugelassen. Hauptverhandlung sollte zunächst am 2. September 1998 stattfinden, musste dann jedoch wegen Urlaubs von Zeugen auf den 2. November 1998 verlegt werden. An diesem Tag wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und am 4. November 1998 mit den Schlussvorträgen des Vertreters der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers fortgesetzt. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft beantragte gegen den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und den Erlass eines Haftbefehls, der Verteidiger beantragte Freispruch. Danach wurde die Hauptverhandlung erneut unterbrochen und am 9. November 1998 fortgesetzt. Der Angeklagte wurde sodann durch Urteil der Strafkammer vom 9. November 1998 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt; die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Außerdem erging Haftbefehl, den die Strafkammer auf Fluchtgefahr gestützt hat.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der vorliegenden Haftbeschwerde. Die Strafkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der Nichtabhilfebeschluss ist nicht näher begründet worden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Da die Haftbeschwerde nach Auffassung des Senats in der Sache Erfolg hat, kann es letztlich dahinstehen, ob die Strafkammer vorliegend den Nichtabhilfebeschluss vom 12. November 1998 näher hätte begründen müssen und ob, da sie das nicht getan hat, die Sache ggf. zunächst an die Strafkammer zurückzuverweisen gewesen wäre. Einer solchen Verfahrensweise steht nach Ansicht des Senats der sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebenden Freiheitsanspruch des Angeklagten entgegen. Wegen der Begründung des Nichtabhilfebeschlusses weist der Senat nur auf den Beschluss des hiesigen 3. Strafsenats vom 22. Januar 1996 (3 Ws 94/96, StV 1996, 421) hin. Danach dürfte, wenn es sich bei dem Vortrag des Verteidigers in der Beschwerdebegründung vom 10. November 1998 um neues Vorbringen gehandelt hat, was der Senat aufgrund des vorliegenden Aktenmaterials nicht abschließend beurteilen kann, eine nähere Begründung der Nichtabhilfeentscheidung erforderlich gewesen sein.
Die Frage kann jedoch deshalb dahinstehen, da ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO auf keinen Fall besteht und daher der Haftbefehl der Kammer vom 9. November 1998 aufzuheben war.
Der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft ist zwar darin beizupflichten, dass von einer (verhängten) Freiheitsstrafe grundsätzlich Fluchtgefahr ausgeht. Der Senat hat aber bereits wiederholt entschieden, dass allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründen kann, und zwar auch dann nicht, wenn der Angeklagte bereits zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt ist (vgl. u.a. den Beschluss des Senats vom 15. Oktober 1998 in 2 Ws 474/98). Vielmehr ist die verhängte Freiheitsstrafe in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Dabei ist die Höhe der Straferwartung insofern noch zusätzlich von Bedeutung, als die zu berücksichtigenden Gesamtumstände um so mehr an Gewicht verlieren, je höher die verhängte Strafe ist. Entscheidend ist jedoch, ob, wie sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der - hohen - Straferwartung liegende Fluchtanreiz nachgeben und fliehen (so auch OLG Köln StV 1995, 419, Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 112 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen).
Danach kann vorliegend eine "Fluchtgefahr" im Sinn von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht angenommen werden. Dahinstehen kann in diesem Zusammenhang zunächst, ob es sich bei der von der Strafkammer verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren überhaupt um eine "hohe" Strafe handelt. Denn selbst wenn davon auszugehen wäre, überwiegen vorliegend die sonstigen den Fluchtanreiz mildernden Umstände derart, dass der aus der Straferwartung folgenden Fluchtanreiz kaum noch ins Gewicht fällt. Dabei sind zunächst die persönlichen Umstände des Angeklagten von Belang. Dieser lebt seit nunmehr zwei Jahren mit einer Frau zusammen, die ihm den Haushalt führt, seinen 14-jährigen Sohn aus erster Ehe betreut und außerdem auch noch seinen schwer kranken und pflegebedürftigen Vater versorgt. Der Angeklagte verfügt zudem über eine Arbeitsstelle als Hochbautechniker. Damit ist insgesamt von fluchthindernden familiären Bindungen auszugehen. Auch darf nach Auffassung des Senats nicht übersehen werden, dass dem Angeklagten kaum die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen dürften, um dauerhaft unterzutauchen oder sich ins Ausland abzusetzen. Von entscheidender Bedeutung ist aber, dass der Angeklagte während der gesamten Dauer des nunmehr fast drei Jahre andauernden Verfahrens keinen Versuch unternommen hat, sich dem Verfahren zu entziehen. Ihm waren die belastenden Zeugenaussagen der Geschädigten bekannt. Er musste daher mit einer Bestrafung rechnen. Dennoch hat der Angeklagte allen Ladungen Folge geleistet. Er ist schließlich auch zur Urteilsverkündung erschienen, obwohl ihm zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Tagen der Strafantrag des Vertreters der Staatsanwaltschaft, die vier Jahre Freiheitsstrafe beantragt hatte, und der Haftbefehlsantrag bekannt waren. Dies zeigt nach Auffassung des Senats, dass der Angeklagte nun auch nicht dem in dem konkreten Strafmaß liegenden Fluchtanreiz nachgeben und fliehen wird. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Angeklagte in seinem Schlusswort ebenso wie sein Verteidiger um einen Freispruch gebeten hat. Das lässt nämlich nicht den zwingenden Schluss zu, dass der Angeklagte, nachdem er nun davon ausgehen muß, dass er Freiheitsstrafe wird verbüßen müssen, sich dem weiteren Gang des Verfahrens, insbesondere der Strafvollstreckung, durch Flucht entziehen wird.
Nach allem war damit der Haftbefehl der Strafkammer vom 9. November 1998 aufzuheben.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
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