Aktenzeichen: 2 BL 222/94 OLG Hamm
Senat: 2
Gegenstand: BL6
Stichworte: Aufhebung, Schuldunfähigkeit, kein Tatverdacht
Normen: StPO 121, StPO 122, StPO 112
Beschluss: Strafsache gegen A.N. wegen Mordes,
(hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).
Auf die Vorlage der "Doppelakte Nr. 1 zur Entscheidung nach den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 23.06.1994 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Angeschuldigten beschlossen:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Lünen, Zweigstelle Werne vom 15. Dezember 1993 (Az: Zw 15 Gs 26/93 HW.) wird aufgehoben.
Gründe:
Der Angeschuldigte ist geständig, in den Morgenstunden des 14. Dezember 1993 in Lünen, B-str. 1 a, nach der Rückkehr von einem gemeinsamen Gaststättenbesuch seinen Vater H.N. mit einem Küchenmesser mindestens 50 Stiche versetzt und dessen Lebensgefährtin M.S. in Kopf- und Rumpfbereich 39 Verletzungen beigebracht zu haben, an deren Folgen beide Opfer noch am Tatort verstorben sind. Danach rief der Angeschuldigte die Polizei an und teilte dieser mit, dass er seine Eltern umgebracht habe, und bat darum, ihn abzuholen. Die am Tatmorgen entnommenen Blutproben weisen Blutalkoholkonzentrationen von 1,42 o/oo und 1,38 o/oo auf, woraus sich für die Tatzeit ein BAK-Wert von 1,8 o/oo errechnet. Nach dem vorläufigen Ergebnis der jugendpsychiatrischen Begutachtung ist von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeschuldigten zur Tatzeit auszugehen, eine Schuldunfähigkeit infolge tiefgreifender Bewußtseinsstörung hat der Gutachter nicht ausschließen können.
Am 15. Dezember 1993 ordnete der Haftrichter des Amtsgerichts Lünen, Zweigstelle Werne die Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs des Mordes in zwei Fällen sowie der Haftgründe des § 112 Abs. 3 StPO und des § 112 Abs. 2 StPO an (Az: Zw 15 Gs 26/93 HW.). Seitdem befindet sich der Angeschuldigte in der vorliegenden Sache ununterbrochen in Untersuchungshaft, die somit über sechs Monate andauert. Mit Beschluss vom 24. Mai 1994 hat das Landgericht I. Strafkammer/Jugendkammer - Dortmund die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Vorlage der Akten beim Senat veranlaßt.
Entgegen dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft war der zuvor näher bezeichnete Haftbefehl des Amtsgerichts Lünen, Zweigstelle Werne aufzuheben, weil die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft (§ 120 Abs. 1 StPO) nicht vorliegen.
Untersuchungshaft darf gegen einen Beschuldigten nur angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist (§ 112 Abs. 1 StPO). Dringender Tatverdacht besteht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter einer rechtswidrigen und schuldhaft begangenen Tat ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schuldausschließungsgründe vorliegen, beseitigt den dringenden Tatverdacht (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, 41. Aufl. (1993) § 112 StPO Rn. 5 m.w.N.). Das ist hier der Fall.
Nach der derzeitigen Aktenlage ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes in dubio pro reo davon auszugehen, dass der Tatrichter die Schuldfähigkeit des Angeschuldigten zur Tatzeit nicht feststellen können wird, nachdem der Sachverständige Dr. H., Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Leitender Landesmedizinaldirektor der Westfälischen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg, eine Schuldunfähigkeit zur Tatzeit infolge tiefgreifender Bewußtseinsstörung nicht ausgeschlossen hat. Dazu hat der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten vom 14. März 1994 u.a. ausgeführt:
(Bl. 100 ff Bd. II d.A. Nr. 1)
"(Bei der Tat) kommen mehrere Faktoren zusammen, die sich in ihren Auswirkungen verstärken und potenzieren. Als Grundlage der persönlichen Gestimmtheit sind dies Enttäuschung über den Vater und seine Beziehungen, Hoffnungslosigkeit, Depressivität, Verzweiflung und ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Trotz erheblicher Provokationen gelingt ihm (dem Angeschuldigten) noch eine Kontrolle der aufbrausenden Affekte, die Spannung aber bleibt bestehen. Die schon persönlichkeitsbedingt erniedrigte Frustrationstolerenz und Neigung zu unbeherrschtem und aufbrausendem Verhalten wird durch eine erhebliche Alkoholisierung von 1,8 o/oo sozusagen demaskiert, die unter der sozialen Kontrolle befindlichen Affekte von Haß und Wut freigesetzt. Auch die Auswirkungen eines deutlichen Schlafmangels sind hier zu berücksichtigen.
Unter anderen Bedingungen hätte sich diese Wut und Gewaltbereitschaft - wie schon wiederholt in der Vergangenheit - nach innen, d.h. gegen die eigene Person entladen können. Der relativ banale Anlass, dass nämlich die Verlobte beabsichtigte, sich vom Vater zu trennen, reaktiviert in der Wiederholung der für ihn (den Angeschuldigten) traumatischen Trennung der Eltern massive existentielle Ängste (ein Gefühl der Bedrohung der eigenen Existenz). Für sich erlebt Herr N. den dadurch entstandenen Zustand als so unerträglich, dass er ihn nicht mehr aushalten kann, sozusagen zum Handeln regelrecht genötigt wird, ohne dass ihm noch die Möglichkeit der Steuerung seiner Handlungen verbleibt, für eine kurze Zeitspanne befindet er sich außerhalb der Realität. Die Angriffshandlungen selbst erscheinen im nachhinein automatenhaft-mechanistisch, sie laufen ab ohne Unterbrechung. Erst nach einem Zeitintervall wird ihm die Tragweite seiner Handlungen bewusst, er selbst benennt diesen Zeitpunkt, als er nach der Tat im Auto saß. Vorausgegangene, scheinbar rationale, d.h. vernunftgesteuerte Handlungen, wie Wegschaffen der Leichen und Umziehen erfolgen reflexmäßig, weil er das was er getan hat, überhaupt nicht ertragen kann. Dabei werden von ihm auch vegetative Begleiterscheinungen der effektiven Anspannung, wie starkes Zittern, wahrgenommen.
Ich bin der Überzeugung, dass Herr N. in äußerster Erregung, in einem effektiven Ausnahmezustand und bei vorübergehendem Verlust des Realitätsbezuges gehandelt hat .. "
Nach Aktenlage gibt es derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sachverständige in der Hauptverhandlung zu einer abweichenden Beurteilung kommen wird. Bezüglich der Sachkunde des Gutachters gibt es keine Zweifel. Weder die Strafverfolgungsbehörden noch das erkennende Gericht haben sich (bisher) mit den gutachterlichen Ausführungen auseinandergesetzt.
Fehlt es danach am dringenden Tatverdacht, ist die Haftanordnung aufzuheben (vgl. § 120 Abs. 1 StPO); die von der Verteidigung beantragte Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist aus Rechtsgründen nicht zulässig.
zur Startseite "Rechtsprechung"
zum SuchformularDie Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".