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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 3 BL 381/92 OLG Hamm

Senat: 3

Gegenstand: BL12

Stichworte: Aufhebung, unzuständiges Gericht, Verzögerung bei StA und Gericht

Normen: StPO 121, StPO 122


Beschluss: Strafsache gegen S.S. (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die erneute Vorlage der Akten zur Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 15.10.1992 durch den Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeschuldigten und seiner Verteidiger beschlossen:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 21. August 1991 - 21 Gs 252/92 - in Verbindung mit dem Beschluss vom 10. Februar 1992 - 71 Gs 252/92 - wird aufgehoben.

Gründe:
Der Angeschuldigte befindet sich nach vorläufiger Festnahme vom 20. August 1991 seit dem 21. August 1991 aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Essen vom 21. August 1991 - 71 Gs 1345/91 - und vom 10. Februar 1992 - 71 Gs 252/92 - in Untersuchungshaft.

Der Senat hat bereits mehrfach zur Frage der Haftfortdauer Stellung genommen und zwar mit Beschlüssen vom 10. März und vom 25. Juni 1992. Sowohl den dringenden Tatverdacht als auch den Haftgrund der Fluchtgefahr hat der Senat jeweils bejaht. Insoweit sind seither keine Änderungen eingetreten, die eine für den Angeschuldigten günstigere Entscheidung rechtfertigen könnten.
Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nach wie vor gewahrt. Die bisher erlittene Freiheitsentziehung steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Verurteilungsfall zu erwartenden Freiheitsstrafe.

Jedoch liegen die Voraussetzungen des § 121 StPO, unter denen die Untersuchungshaft weiter fortdauern darf, nicht mehr vor. Das Verfahren ist in den letzten Monaten nicht mehr ausreichend gefördert worden. Die Staatsanwaltschaft Essen hat die Anklageschrift am 26. Mai 1992 erstellt. Dabei hat sie übersehen, dass der Angeschuldigte zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Taten zu Ziffer 1 und 2 der Anklageschrift (Tat zum Nachteil "Modeschlößchen" und zum Nachteil P.; Einbruchsdiebstahl vom 27. Juni 1990 und 13. Juli 1990) noch Heranwachsender gewesen ist, auch wenn er nicht am Einbruchsdiebstahl beteiligt war, sondern als Hehler noch notwendigerweise späterer Tatzeit in Betracht kommen sollte. Die Staatsanwaltschaft hat daher irrtümlich die Sache nicht bei der zuständigen Jugendkammer - Strafkammer III - des Landgerichts Essen angeklagt, sondern bei der Strafkammer VI. Bei dieser ging die Anklageschrift vom 26. Mai 1992 erst am 2. Juli 1992 ein. Der Vorsitzende der Strafkammer VI stellte dem Angeschuldigten mit Verfügung vom 3. Juli 1992 die Anklageschrift zu; er übersah ebenfalls, dass die Jugendkammer zuständig ist. Auf die Zuständigkeit der Jugendkammer wies alsdann der Verteidiger mit Schriftsatz vom 13. August, eingegangen am 17. August 1992 hin. Mit Verfügung vom 8. September 1992 übersandte daraufhin der Vorsitzende der Strafkammer VI die Akten an die Strafkammer III - Jugendkammer - des Landgerichts Essen mit der Bitte um Übernahme des Verfahrens. Mit Verfügung vom 16. September 1992 lehnte der Vorsitzende der Strafkammer III - Jugendkammer - die Übernahme der Sache ab und kündigte an, dass die Jugendkammer für den Fall, dass ihr die Akten nochmals vorgelegt werden sollten, das Verfahren lediglich hinsichtlich der ersten dem Angeschuldigten S. vorgeworfenen Tat übernehmen werde und in diesem Fall abwarten werde, ob der übernommene Komplex nicht besser der Einstellung nach § 154 StPO zugeführt werden sollte. Der Vorsitzende regte an, die Anklage hinsichtlich der ersten in Rede stehenden Tat ("Modeschlößchen") zurückzunehmen und die weitere Entwicklung abzuwarten. Mit Verfügung vom 18. September 1992 sandte die Staatsanwaltschaft dem Vorsitzenden der Strafkammer III - Jugendkammer - die Akten zurück und wies darauf hin, dass der Angeschuldigte hinsichtlich der ersten beiden Fälle der Anklageschrift Heranwachsender gewesen sei und dass eine Teilrücknahme der Anklage insoweit mit dem Ziel der Einstellung gemäß § 154 angesichts der Schwere und des Umfangs der Tatvorwürfe nicht in Betracht komme. Die Staatsanwaltschaft wies zudem darauf hin, dass eine Teilrücknahme mit dem Ziel der gesonderten Anklageerhebung offenbar sachwidrig sei und dass angesichts der Bandenstruktur eine gemeinsame Hauptverhandlung für beide Angeschuldigten geboten sei. Die Staatsanwaltschaft wies insoweit auf § 103 Abs. 1 JGG hin. Gleichwohl beharrte der Vorsitzende der III. Strafkammer - Jugendkammer - auf seinem bisherigen Standpunkt. Er schrieb mit Verfügung vom 1. Oktober 1992 einen der Verteidiger des Angeschuldigten S. an und teilte ihm mit, dass die Staatsanwaltschaft Essen beantragt habe, das Verfahren vor der Strafkammer III zu eröffnen, dass die Kammer jedoch in Erwägung gezogen habe, die Taten, die die Zuständigkeit der Jugendkammer begründen, zu übernehmen und im Übrigen das Verfahren vor der Strafkammer VI zu eröffnen. Er gab dem Verteidiger Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer Woche. Eine telefonische Auskunft des Vorsitzenden der Strafkammer III - Jugendkammer - des Landgerichts Essen vom 13. Oktober 1992 ergab, dass die Jugendkammer nach Beratung zu dem Ergebnis gelangt sei, dass entsprechend der vorangegangenen Ankündigung das Verfahren hinsichtlich der beiden ersten Fälle der Anklageschrift übernommen und im Übrigen vor der Strafkammer VI des Landgerichts Essen eröffnet werden solle. Hinsichtlich der beiden zu übernehmenden Tatvorwürfe könne eine Hauptverhandlung auch frühestens im Januar 1993 stattfinden; insoweit sei eine vorläufige Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO angestrebt.

Bei dieser Sachlage ist das verfassungsrechtlich begründete Beschleunigungsgebot nicht mehr beachtet worden. Die Verzögerungen, die durch die Anklageerhebung bei der nicht zuständigen VI. Strafkammer des Landgerichts Essen zu einem spät nach Fertigstellung der Anklageschrift gelegenen Zeitpunkt, sowie durch die spätere oben dargelegte Sachbehandlung durch das Landgericht Essen eingetreten sind, können nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gewertet werden, der eine weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte. Auch wenn dem Angeschuldigten gravierende Taten vorgeworfen werden, er im Verurteilungsfall mit einer hohen vollstreckbaren Freiheitsstrafe zu rechnen hat und somit ein legitimer Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf eine wirksame Strafverfolgung besteht, muß gleichwohl bei einer derart erheblichen Verfahrensverzögerung wie vorliegend der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeschuldigten im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG Vorrang haben.
Nach alledem war der Haftbefehl aufzuheben.


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