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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 BL 456/94 OLG Hamm

Senat: 2

Gegenstand: BL6

Stichworte: Abgabe an Jugendkammer, Ablehnung der Übergabe, Beweiswürdigung, BtM, grober Verfahrensfehler, Hauptverhandlung, Kompetenzstreit, Terminierung, unzuständiges Gericht, Verweisung

Normen: StPO 121, StPO 122


Beschluss: Strafsache gegen C.S. wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz,
(hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten zur Entscheidung nach den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 05.12.1994 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers beschlossen:

Die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus wird angeordnet.
Die Haftprüfung für die nächsten 3 Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:
Gegen den am 10. Mai 1994 vorläufig festgenommenen Angeklagten ordnete der Haftrichter des Amtsgerichts Dortmund (79 Gs 629/94) am 11. Mai 1994 die Untersuchungshaft an. In dem auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl wird dem Angeklagten vorgeworfen, in den Jahren 1992 und 1993 in Dortmund als Heranwachsender durch dieselbe Handlung Betäubungsmittel in nicht geringer Menge besessen zu haben, ohne sie aufgrund einer Erlaubnis nach §3 Abs. 1 BtmG erlangt zu haben, und mit ihnen Handel getrieben zu haben, wobei er als Mitglied einer Bande gehandelt haben soll, die sich zur Begehung solcher Taten verbunden habe (§§ 29 a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 1 BtmG, 52 StGB, 1, 105 JGG). Insgesamt soll der Angeklagte mit mehr als 20 kg Heroin gehandelt haben. Wegen der Einzelheiten des Tatvorwurfs wird auf den Inhalt des Haftbefehls vom 11. Mai 1994 Bezug genommen. Mit diesem Vorwurf im wesentlichen identisch ist die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 22. Juli 1994, auf die ebenfalls verwiesen wird. Die Anklageschrift richtete sich an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - in Dortmund. In der Übersendungsverfügung regte die Staatsanwaltschaft an, die Sache gemäß § 40 Abs. 2 JGG der Jugendkammer vorzulegen. Außerdem veranlaßte die Staatsanwaltschaft in der genannten Verfügung die Übersendung einer Abschrift der Anklage an die Jugendgerichtshilfe in Dortmund "mit der Bitte um Bericht". Nachdem die Anklageschrift am 9. August 1994 dem Angeklagten und dem Verteidiger zugestellt worden war, bat der Verteidiger, mit Schriftsatz vom 10. August 1994 um Akteneinsicht, die ihm sodann vom Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Dortmund gewährt wurde. Mit Anschreiben vom 1. September 1994 sandte der Verteidiger die Akten an das Amtsgericht Dortmund zurück, wo sie am 5. September 1994 eingingen. Am 7. September 1994 legte das Jugendschöffengericht die Akten zur Übernahme der Sache gemäß § 40 Abs. 2 JGG der Jugendkammer des Landgerichts Dortmund vor. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hielt unter dem 12. September 1994 die Übernahme der Sache wegen ihres Umfangs durch die Jugendkammer "für geboten". Durch Beschluss vom 16. September 1994 lehnte die Jugendkammer des Landgerichts Dortmund die Übernahme der Sache gemäß § 40 Abs. 2 JGG mit der Begründung ab, der Umfang der erforderlichen Beweisaufnahme erscheine nicht so groß, dass er nicht von dem Jugendschöffengericht "bewältigt werden könnte". Am 7. Oktober 1994 eröffnete das Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Dortmund das Hauptverfahren; die Hauptverhandlung wurde auf den 3. November 1994 anberaumt. Unter dem 2. November 1994 fertigte die Jugendgerichtshilfe der Stadt Dortmund einen schriftlichen Bericht, in dem es am Ende heißt, die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe werde sich erst in der Hauptverhandlung im Falle der Schuldfeststellung zur Frage der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht äußern. An der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Dortmund am 3. November 1994 nahm auch die geladene Vertreterin der Jugendgerichtshilfe teil. Der Angeklagte bestritt die Tatvorwürfe. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls wurde der Bericht der Jugendgerichtshilfe erörtert. Sodann wurde der Zeuge D. vernommen. Anschließend erklärte sich das Jugendschöffengericht für sachlich unzuständig und verwies die Sache gemäß § 270 StPO an die Jugendkammer des Landgerichts Dortmund, weil "unter Berücksichtigung einer vorzunehmenden Anwendung des allgemeinen Strafrechts" die Strafgewalt des Jugendschöffengerichts nicht ausreiche. Der Vorsitzende der Jugendkammer des Landgerichts Dortmund hat auf fernmündliche Anfrage des Berichterstatters des Senats am 1. Dezember 1994 mitgeteilt, die Hauptverhandlung vor der Jugendkammer werde am 3. Februar 1995 und an sechs Folgeterminen stattfinden diese Terminierung sei mit dem Verteidiger abgesprochen.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen, ist zu entsprechen.

Die allgemeinen Voraussetzungen der weiteren Untersuchungshaft (§ 120 Abs. 1 StPO) liegen vor. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 11. Mai 1994 zur Last gelegten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz dringend verdächtig. Allerdings stellen sich diese Verstöße als selbständige Handlungen (§ 53 StGB) dar. Insoweit wird auf die zutreffende Würdigung der zugelassenen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 22. Juli 1994 Bezug genommen. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den den Angeklagten belastenden Aussagen des Zeugen D.. Der Zeuge hat seine Aussage, soweit sie die Tatbeteiligung des Angeklagten betrifft, auch in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht Dortmund am 3. November 1994 wiederholt. Die Ausführungen des Verteidigers in seinen Schriftsätzen vom 4. und 21. November 1994 vermögen den dringenden Tatverdacht nicht zu entkräften. Es ist zwar zutreffend, dass der Zeuge D. unterschiedliche Aussagen hinsichtlich der Tatbeteiligung des anderweitig verfolgten F.S. gemacht hat. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 3. November 1994 hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts diesen Widerspruch mit dem Zeugen D. erörtert. Nach Würdigung dieses Widerspruchs hat das Jugendschöffengericht (trotzdem) weiterhin dringenden Tatverdacht hinsichtlich des Angeklagten bejaht, wie sich aus der im Verweisungsbeschluß angeordneten Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten ergibt. Das Jugendschöffengericht hatte in der Hauptverhandlung am 3. November 1994 einen unmittelbaren Eindruck vom Zeugen D.. Mangels besserer Erkenntnismöglichkeiten sieht sich der Senat nicht in der Lage, die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen abweichend von einem Tatgericht zu beurteilen. Letztlich muß die Beweiswürdigung der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer vorbehalten bleiben. Nach Aktenlage drängt sich jedenfalls auch dem Senat die Täterschaft des Angeklagten hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Taten auf.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Angeklagte hat im Falle der Verurteilung mit der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen. Das Jugendschöffengericht hat die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von bis zu 4 Jahren als noch nicht schuldangemessen angesehen. Dem ist angesichts des Vorwurfs, mit mehr als 20 kg Heroin Handel getrieben zu haben, beizutreten. Nach dem Verweisungsbeschluß des Jugendschöffengerichts besteht die konkrete Gefahr, dass der Angeklagte sich im Falle einer Freilassung dem Verfahren durch Flucht entziehen würde. Die Heirat des Angeklagten mit einer in Deutschland geborenen und hier aufgewachsenen türkischen Frau vermag die Fluchtgefahr nicht zu entkräften. Nach Aktenlage ist der Angeklagte erst kurz vor Beginn der Tatzeit in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sein Vater lebt nach wie vor in der Türkei. Soweit sich Verwandte des Angeklagten ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, ist zu berücksichtigen, dass zumindest ein Bruder des Angeklagten ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland inhaftiert ist. Somit ist konkret zu befürchten, dass sich der Angeklagte im Falle einer Freilassung in sein Heimatland Türkei absetzen würde.

Der Zweck der Untersuchungshaft lässt sich deshalb auch nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen (vgl. § 116 StPO) erreichen. Die bisher gegen den Angeklagten vollzogene Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des Tatvorwurfs und der im Verurteilungsfalle zu erwartenden langjährigen Freiheitsstrafe.

Wichtige Gründe im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO haben ein Urteil bislang nicht zugelassen; sie rechtfertigen aber, die Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Dabei ist sich der Senat der strengen Anforderungen bewusst, die das Bundesverfassungsgericht an die Beschränkung des Freiheitsgrundrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 S.2 GG in Haftsachen stellt, dabei insbesondere des Umstandes, dass "gerade die Anklage vor einem unzuständigen Gericht und dadurch eingetretene Verfahrensverzögerungen ... aber im Einzelfall der Annahme eines wichtigen Grundes im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO entgegenstellen (können)" (BVerfG, Beschluss vom 7. September 1992 - 2 BvR 1305/92 m. w. N.).

Wichtiger Grund im Sinne des § 121 StPO kann nur ein verfahrensbezogener Umstand sein, der eine Haftverlängerung rechtfertigt. Unabhängig von der Auslegung des Gesetzeswortlautes im einzelnen "rechtfertigen" bei der gebotenen Gesamtabwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten und dem legitimen Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters (vgl. BVerfG StV 1990, 555) jedenfalls solche Verfahrensverzögerungen eine Haftfortdauer nicht, die auf groben Fehlern und Versäumnissen der Ermittlungsorgane oder Gerichte beruhen und zu einem erheblichen Zeitverlust geführt haben (KG StV 1983, 111 m. w. N.; Senatsbeschluss vom 29.09.1994 - 2 BL 376/94 -).

Die Erhebung der Anklage vor dem Jugendschöffengericht kann im vorliegenden Fall nicht als grob fehlerhaft angesehen werden. Allerdings hätte die Staatsanwaltschaft, die im Übrigen das Ermittlungsverfahren mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung bearbeitet hat, die Ermittlungen auch darauf erstrecken müssen, ob im Falle der Verurteilung die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht oder Jugendstrafrecht in Betracht kommt. Denn die Jugendkammer ist das zuständige Prozeßgericht, wenn wegen der Verfehlung eines Heranwachsenden eine höhere Freiheitsstrafe als 4 Jahre zu erwarten ist (§ 108 Abs. 3 JGG). Hätte die Staatsanwaltschaft bereits vor Anklageerhebung einen Bericht der Jugendgerichtshilfe eingeholt, so wäre zu erwarten gewesen, dass diese sich hinsichtlich der Frage der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht ebenso geäußert hätte wie im Bericht vom 2. November 1994. Die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht hätte sich somit für die Staatsanwaltschaft Dortmund im Zeitpunkt der Anklageerhebung nicht aufdrängen müssen. Um unnötige Verweisungen zu vermeiden, wäre es in diesem Fall zwar "richtiger" gewesen, Anklage vor der Jugendkammer zu erheben (vgl. Brunner, JGG, 9. Aufl. 1991, 108, Rdnr. 3; Eisenberg, JGG, 5. Aufl. 1993, §108, Rdnr. 6), jedoch erscheint dem Senat die Anklageerhebung vor dem Jugendschöffengericht zumindest noch als vertretbar, jedenfalls nicht grob fehlerhaft.

Die Sachbehandlung durch das Jugendschöffengericht ist nicht zu beanstanden. Dort ist die vorliegende Sache zügig bearbeitet worden. Die Vorlage der Sache gemäß § 40 Abs. 2 JGG an die Jugendkammer - entsprechend einer Anregung der Staatsanwaltschaft - war sachgerecht. Das wird bereits dadurch belegt, dass der Vorsitzende der Jugendkammer, nachdem sie durch Verweisungsbeschluß des Jugendschöffengerichts vom 3. November 1994 zuständig geworden ist, für die Hauptverhandlung 7 Verhandlungstage vorgesehen hat. Damit hat sich der Ablehnungsbeschluß der Jugendkammer des Landgerichts Dortmund vom 16. September 1994 im Nachhinein nicht als gut vertretbar herausgestellt. Diese Entscheidung der Jugendkammer kann jedoch ebenfalls nicht als grob fehlerhaft angesehen werden, da sie nicht retrospektiv, sondern vom Zeitpunkt der Beschlußfassung her gewürdigt werden muß. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 40 Abs. 2 JGG ergibt sich, dass der Jugendkammer ein Entscheidungsspielraum zur Beurteilung der Frage zusteht, "ob sie eine Sache wegen ihres besonderen Umfangs übernehmen will". Anhaltspunkte dafür, dass die Jugendkammer bei ihrer Entscheidung vom 16. September 1994 diesen Ermessensspielraum (vgl. Ostendorf, JGG, 3. Aufl. 1994, § 40, Rdnr. 7 m.w.N.) grob rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, sind nicht ersichtlich.
Nachdem die Zuständigkeit der Jugendkammer des Landgerichts Dortmund durch den sie bindenden Verweisungsbeschluß des Jugendschöffengerichts vom 3. November 1994 begründet worden ist, ist die Sache mit der gebotenen Beschleunigung gefördert worden. Der Kammervorsitzende hat die Terminierung der Hauptverhandlung mit dem Verteidiger abgeklärt.
Mit der Übertragung der zwischenzeitlichen Haftprüfung hat der Senat von dem ihm in § 121 Abs. 3 S.3 StPO eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht.


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