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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 BL 491/94 OLG Hamm

Senat: 2

Gegenstand: BL6

Stichworte: § 112 Abs. 3 StPO, § 72 JGG, Belastung, Gutachten, Mord

Normen: StPO 121, StPO 122, StPO 112, JGG 72


Beschluss: Strafsache gegen S.K. wegen Mordes
(hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der Akten (Zweitakten) zur Entscheidung nach den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 09.12.1994 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeschuldigten und seines Verteidigers beschlossen:

Die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus wird angeordnet.
Die Haftprüfung für die nächsten 3 Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:
Der Angeschuldigte ist ebenso wie die Zeugen M. und S. albanischer Staatsangehöriger. Wie die Zeugen hatte er zur Tatzeit als Asylbewohner eine Unterkunft in einem Asylheim in Hagen. In Begleitung der Zeugen suchte er am 25. Mai 1994 gegen 9.00 Uhr das Sozialamt der Stadt Hagen auf. Dort trafen der Angeschuldigte und seine beiden Begleiter auf einem Flur mit den miteinander, befreundeten Zeugen B., einer Deutschen, und Bo., einem marokkanischen Staatsangehörigen, zusammen. Es kam zwischen diesen beiden Gruppen zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Angeschuldigte den Zeugen Bo. durch drei Messerstiche verletzt haben soll. Den letzten Stich soll er dem Opfer mit Tötungsabsicht kräftig in die Brust versetzt haben. Dabei soll die Klinge in den Brustraum eingedrungen sein, einen Pneumothorax verursacht und den rechten Lungenlappen verletzt haben. Das Leben des verletzten Zeugen konnte nur durch eine alsbaldige stationäre Krankenhausbehandlung gerettet werden.
Der Angeschuldigte wurde kurz darauf im Rahmen einer Tatortbereich-Fahndung vorläufig festgenommen. Er hatte sich unter einer Plane auf einem Hinterhof versteckt. Gegen ihn beantragte die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls wegen versuchten Totschlags. Der Haftrichter des Amtsgerichts Hagen ordnete gegen den Angeschuldigten die Untersuchungshaft wegen des dringenden Tatverdachts des versuchten Mordes und des Haftgrundes des § 112 Abs. 3 StPO unter Ausschluß anderer Maßnahmen nach § 72 Abs. 1 JGG an. Auch die mit Anklageschrift vom 14. Oktober 1994 bei der Jugendkammer des Landgerichts Hagen erhobene Anklage lautet auf versuchten Mord. Der Vorsitzende der Jugendkammer ordnete am 28. Oktober 1994 die Herstellung einer Übersetzung der Anklageschrift an. Am 8. November 1994 ordnete er die Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger und an den Angeschuldigten an, an letzteren mit der Übersetzung. Der Dolmetscherin ließ er mitteilen, dass die Hauptverhandlung am 24., 26. und 27. Januar 1995 stattfinden werde und sie sich diese Termine freihalten solle. Gemäß ihrem Vorlagebeschluß vom 15. November 1994 hat die Jugendkammer die (Zweit-)Akten auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch deren Vermittlung dem Senat gemäß § 122 Abs. 1 StPO vorgelegt.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Fortdauer der, Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen, ist zu entsprechen.

Die allgemeinen Voraussetzungen der weiteren Untersuchungshaft (§ 120 Abs. 1 StPO) liegen vor. Nach den in der Anklageschrift zutreffend dargestellten bisherigen Ermittlungsergebnissen ist der Angeschuldigte der ihm zur Last gelegten versuchten Tötungshandlung dringend verdächtig. Der vorläufigen Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift, auf die Bezug genommen wird, schließt sich der Senat an. Die Einlassung des Angeschuldigten, er habe sich durch ungezielte Stiche lediglich befreien wollen, ist mit den Gesamtumständen, wie sie sich nach der Aktenlage darstellen, nicht in Einklang zu bringen. Danach soll der Angeschuldigte dem bereits durch zwei Stiche verletzten und wehrlosen Opfer von oben einen kräftig geführten dritten Stich in die Brust versetzt haben. Dies deutet mit der für einen dringenden Tatverdacht erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit auf einen direkten Tötungsvorsatz hin. Dabei verzichtet der Senat auf eine Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag, weil es für die von ihm zu treffende Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren darauf im Ergebnis nicht ankommt.

Nach dem vorliegenden Gutachten des psychiatrischen Gutachten Dr. med. S. vom 24. September 1994 sind keine Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeschuldigten vorhanden.

Auch der Senat hält den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO für gegeben. Der Angeschuldigte verfügt in der Bundesrepublik Deutschland über keine nennenswerten Bindungen. Es würde für ihn naheliegen, sich im Falle seiner Freilassung oder seiner Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe von dort abzusetzen, um sich dem Verfahren zu entziehen. Die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat wäre deswegen in hohem Maße gefährdet. Andere Maßnahmen im Sinne von §§ 72 Abs. 1 JGG, durch die der Zweck der Untersuchungshaft ausreichend erreicht werden kann, sind auch für den Senat nicht erkennbar. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Belastungen des weiteren Vollzuges der Untersuchungshaft steht diese zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden mehrjährigen Jugendstrafe nicht außer Verhältnis.
Schließlich liegen auch die besonderen Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 121 Abs. 1 StPO vor. Nachdem die zügigen kriminalpolizeilichen Ermittlungen zum Tatgeschehen abgeschlossen waren und der Verteidiger mit Schriftsatz vom 5. Juli 1994 nach Akteneinsicht mitgeteilt hatte, dass von der Verteidigung keine Bedenken gegen die Beauftragung von Dr. med. S. mit der Gutachtenerstattung bestehen, erteilte der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft am 12. Juli 1994 unverzüglich den Gutachterauftrag unter Übersendung der Zweitakten. Mit Schreiben vom 22. Juli 1994 kündigte der Sachverständige die rechtzeitige Fertigstellung des Gutachtens vor Ablauf des OLG-Haftprüfungstermins an. Nach Eingang des Gutachtens vom 24. September 1994 ordnete der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft am 4. Oktober 1994 unverzüglich die Übersendung einer Abschrift an den Verteidiger an. Insgesamt konnte daher wegen der verfahrensbedingten Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens eine frühere Anklageerhebung nicht erfolgen und als weitere Folge davon bisher ein erstinstanzliches Urteil noch nicht ergehen. Das gilt auch für die Zeit seit dem Eingang der Anklage bei der Jugendkammer bei normaler Belastung dieses Spruchkörpers. Diese verfahensbedingten wichtigen Gründe rechtfertigen auch die Fortdauer der Untersuchungshaft.
Mit der Übertragung der zwischenzeitlichen Haftprüfung hat der Senat von dem ihm in § 122 Abs. 3 S.3 StPO eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht.


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