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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 Ss 1100/94 OLG Hamm

Senat: 2

Gegenstand: Revision

Stichworte: Anforderungen an Anklage, Aufhebung, dürftige Konkretisierung, Fortsetzungszusammenhang, Mindestanforderungen an die Feststellung von Serienstraftaten, Unschädlichkeit Fortsetzungszusammenhang, sexueller Missbrauch

Normen: StPO 200, StPO 265, StGB 174, StGB 176


Beschluss: Strafsache gegen M:M. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 1. großen Jugendkammer des Landgerichts Hagen als Jugendschutzkammer vom 14. April 1994 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13.10.1994 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere große Jugendkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.

Gründe:
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht Lüdenscheid hat den Angeklagten am 27. Oktober 1993 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten verurteilt. Die 1. große Jugendkammer (als Jugendschutzkammer) des Landgerichts Hagen hat die Berufung des Angeklagten verworfen.
Nach den Feststellungen der Jugendkammer ging der Angeklagte im Jahre 1985 eine Ehe ein. Seine Ehefrau hat aus einer früheren Ehe eine Tochter, die am 14. August 1978 geborene S.W., die mit dem Angeklagten und seiner Ehefrau in häuslicher Gemeinschaft lebte. Während S. ihrer Mutter gegenüber ein sehr aufsässiges Verhalten zeigte, folgte sie im wesentlichen den Weisungen des Angeklagten, der daher im Einvernehmen mit seiner Ehefrau die bestimmende Rolle in der Erziehung des Mädchens übernahm. S. wagte keinen Widerspruch gegen Verbote und Gebote des Angeklagten. Als S.12 Jahre alt war, erregte sie allmählich das sexuelle Interesse des Angeklagten. Er entschloß sich schließlich, seine Stieftochter zu seiner sexuellen Befriedigung zu mißbrauchen. Gegen Ende des Jahres 1990 nutzte der Angeklagte die Abwesenheit seiner Ehefrau zu einer ersten sexuellen Annäherung an die zu dieser Zeit allein mit ihm in der Wohnung weilende Stieftochter. Der Angeklagte öffnete seine Hose und entblößte sein steifes Glied. Dem völlig überraschten Kind sagte er, er wolle ihr nur etwas zeigen. Schon während dieses Geschehens war der Angeklagte entschlossen, sich in Zukunft bei sich in Abwesenheit seiner übrigen Angehörigen bietenden Gelegenheiten regelmäßig der Stieftochter in dieser Weise zu nähern und dabei sich intensivierende intime Kontakte anzustreben. In Ausführung dieses Entschlusses entblößte der Angeklagte in der Folgezeit in Abwesenheit seiner Ehefrau wiederholt vor S.Weigel sein steifes Glied; er veranlaßte hierbei auch stets das Mädchen, sein Glied anzufassen und daran bis zum Samenerguß zu reiben. Aus Respekt vor der Autorität des Stiefvaters und unter dem Eindruck seiner ihr bekannten erzieherischen Strenge erfüllte S.stets sein Verlangen. Schon nach wenigen Wochen verlangte der Angeklagte in Ausführung seines bereits zuvor gefaßten Entschlusses von dem Mädchen, sein Glied in den Mund zu nehmen und ihn oral zu befriedigen. In der folgenden Zeit von Anfang 1991 bis Anfang November 1992 veranlaßte der Angeklagte aufgrund des früheren Entschlusses mindestens alle zwei Wochen jeweils am Wochenende in Abwesenheit seiner übrigen Angehörigen seine Stieftochter, ihn oral zu befriedigen. Von Zeit zu Zeit sagte der Angeklagte nach einem solchen Geschehen, sie müßten jetzt damit endgültig aufhören. Die Vorgänge ereigneten sich im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und im Badezimmer; geschah es im Badezimmer, so saß S.dabei häufig auf dem Toilettenbecken, während der Angeklagte vor ihr stand.
Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Angeklagten. Der Angeklagte hat u. a. in zulässiger Weise die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat keinen Antrag gestellt.

Die Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere große Jugendkammer (als Jugendschutzkammer) des Landgerichts Hagen.

Allerdings kommt eine Einstellung des Verfahrens (§ 260 Abs. 3 StPO) wegen Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung nicht in Betracht.
Die durch Beschluss des Amtsgerichts - Jugendschöffengerichts Lüdenscheid vom 27. September 1993 zugelassene Anklage der Staatsanwaltschaft Hagen vom 21. Juli 1993 genügt schon den gesetzlichen Anforderungen des § 200 Abs. 1 S.1 StPO. Um ihrer Informations- und Umgrenzungsfunktion zu genügen, muß die Anklageschrift den Angeschuldigten über den gegen ihn erhobenen Vorwurf unterrichten und in persönlicher und sachlicher Hinsicht den Gegenstand bezeichnen, über den das Gericht im Eröffnungsverfahren entscheiden soll (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 41. Aufl. 1993, § 200, Randnr. 2 m. w. N.). Zwar enthält die sehr allgemein gehaltene Tatkonkretisierung des Anklagesatzes erhebliche Mängel. Es ist jedoch anerkannt, dass Mängel des Anklagesatzes durch den Inhalt des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen (§ 200 Abs. 2 S.1 StPO) beseitigt werden können (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 93, 147 m. w. N.). Das ist hier der Fall. In der Anklageschrift wird der Angeklagte mit seinen Personalien genau bezeichnet, dasselbe gilt für die Geschädigte. Der Tatzeitraum ist ausreichend begrenzt (Ende des Jahres 1990 bis November 1992), und der Tatort ist genau benannt (Wohnung der Familie M.). Die Tat wird in der Anklageschrift ausreichend beschrieben; beim ersten Male soll der Angeklagte der Geschädigten sein entblößtem Glied gezeigt haben. Bei den folgenden Einzelakten soll der Angeklagte der Geschädigten unter deren Kleidung unmittelbar an die Brüste und die Scheide gegriffen haben. Weiterhin soll es bei diesen folgenden Einzelakten dazu gekommen sein, dass der Angeklagte die Geschädigte dazu aufforderte, den Oralverkehr bis zum Samenerguß bei ihm durchzufahren, wobei die Geschädigte dieser Aufforderung jeweils nachkam. Dies soll bis November 1992 "etwa wöchentlich" vorgekommen sein. Damit ist die Anzahl der Einzelakte zumindest grob umrissen worden. Auch wenn die Anklageschrift nicht ausdrücklich die Mindestanzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Einzelakte nennt, ist sie aus der mitgeteilten Tatfrequenz hinreichend genau zu errechnen. Bis zur Entscheidung des Großen Senates für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994 (NStZ 94, 383 ff. = DRiZ 94, 214 ff.) genügte die Anklageschrift damit noch den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof bei Serientaten der vorliegenden Art an die Konkretisierung des Tatvorwurfs gestellt hat. Die Anklageschrift ist daher - zumal vor der Änderung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erhoben und zur Hauptverhandlung zugelassen - noch als genügende Verfahrensgrundlage anzusehen. Der Umstand, dass die zugelassene Anklageschrift entgegen den Grundsätzen, die der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs in dem genannten Beschluss aufgestellt hat, von Fortsetzungszusammenhang ausgeht, ist schon deshalb unschädlich, weil das Gericht in der Hauptverhandlung einen entsprechenden rechtlichen Hinweis (§ 265 StPO) dahingehend hätte erteilen können, dass eine tatmehrheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in einer bestimmten Anzahl von Fällen während des angeklagten Tatzeitraums in Betracht komme. Der auf die Anklageschrift gestutzte Eröffnungsbeschluß leidet somit nicht an einem unbehebbaren Mangel.

2. Die in zulässiger Weise erhobene Rüge der Verletzung materiellen Rechts ist jedoch begründet. Die von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen (fortgesetzten) sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit (fortgesetztem) sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen nicht.
Die Verbindung mehrerer Verhaltensweisen, die jede für sich einen Straftatbestand erfüllen, zu einer fortgesetzten Handlung setzt voraus, dass dies, was am Straftatbestand zu messen ist, zur sachgerechten Erfassung des verwirklichten Unrechts und der Schuld unumgänglich ist. Das ist bei den Tatbeständen der §§ 174, 176 StGB nicht der Fall (Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994, a.a.O.). Der gegen diese Entscheidung angenommene Schuldspruch wegen einer Fortsetzungstat wäre nur dann unschädlich, wenn die Jugendkammer die Einzeltaten rechtsfehlerfrei festgestellt und dargelegt hätte und ausgeschlossen werden könnte, dass sich der Rechtsfehler der Kammer zum Nachteil des Angeklagten auf die Höhe der erkannten Strafe ausgewirkt hat (Senatsbeschluss vom 01.06.94 - 2 Ss 324/94 - OLG Hamm). Hieran fehlt es, weil die Jugendkammer die tatmehrheitlich begangenen Einzeltaten des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei festgestellt und dargelegt hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NStZ 94, 352 f. = NJW 94, 2557 f.) ist eine Verurteilung nur zulässig, wenn das strafbare Verhalten des Angeklagten so konkret bezeichnet wird, dass erkennbar ist, welche bestimmten Taten von der Verurteilung erfaßt werden. Ein Schuldspruch wegen einer oder mehrerer Taten, die nach Ort und Zeit oder Anlass der Begehung nicht näher bestimmt und auch hinsichtlich des Tathergangs nur vage beschrieben sind, ist, insbesondere wenn - wie hier - der Angeklagte die Vorwürfe bestreitet, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Könnte eine Verurteilung auch auf vage Feststellungen gestützt werden, so würde der Angeklagte in seinen Verteidigungsmöglichkeiten unangemessen beschränkt. Im übrigen wird, je weniger konkrete Tatsachen über den einzelnen Schuldvorwurf bekannt sind, auch fraglicher, ob der Tatrichter von der Tat im Sinne des § 261 StPO Oberhaupt überzeugt ist (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 1 S.1 Mindestfeststellungen 1, Mindestfeststellungen 3 m. w. N.). Das gilt insbesondere dann, wenn der Tatvorwurf - wie hier - Vorgänge betrifft, die sich ausschließlich zwischen dem sie bestreitenden - Angeklagten und dem Opfer abgespielt haben (BGHR, a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der der Senat folgt, stehen im Vordergrund der Sachverhaltsermittlung nicht Tatfrequenzen ("mindestens alle zwei Wochen jeweils am Wochenende"), die ein kindliches bzw. jugendliches Tatopfer ohnehin kaum annähernd zuverlässig bekunden kann, sondern konkrete Lebenssachverhalte. Diese sind in ihren unterschiedlichen Handlungsabläufen vom Ausgangspunkt an mit den unterschiedlichen Details zur Tatausführung und zum Tatort, jeweils als einzelne unverwechselbare Straftaten in dem gegebenen Tatzeitraum, notfalls auch ohne genauere zeitliche Einordnung, unter Beachtung des Zweifelsgrundsatzes festzustellen und abzuurteilen. Nicht die Frage, "wie oft hat er das getan", ist in erster Linie entscheidend, sondern die verschiedenen konkreten Tatbilder, die dem Opfer vor Augen stehen und noch erinnerlich sind, in ihrer Individualität. Es kommt grundsätzlich nicht auf eine geschätzte und dann ggf. heruntergerechnete Anzahl von Straftaten an, sondern auf all das, was mit der für eine Urteilsgrundlage erforderlichen Überzeugungskraft für jede einzelne Straftat bekundet wird. Der Tatrichter darf sich nicht von einer Gesamtvorstellung des strafbaren Verhaltens in einem Zeitraum bestimmen lassen, sondern muß von der Tatbestandserfüllung und dem konkreten Schuldumfang bei jeder individuellen Straftat überzeugt sein (BGH NStZ 94, 353). Die zusammenfassenden Darstellungen des angefochtenen Urteils vermögen eine solche richterliche Überzeugung in der Regel nicht zu vermitteln. Die Verwirklichung des objektiven und subjektiven Deliktstatbestandes einer jeden Straftat ist dann revisionsrechtlich nicht mehr nachprüfbar (BGH NStZ 93, 35; BGHR StPO § 267 Abs. 1 S.1 Mindestfeststellungen 1 bis 4 und Sachdarstellung 6; BGHR StGB § 176 Abs. 1 Mindestfeststellungen 1, 2).

Das angefochtene Urteil hält den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof an die Feststellungen bei Serienstraftaten stellt, nicht stand. Abgesehen davon, dass die Jugendkammer nicht ausdrücklich die Mindestanzahl der festgestellten Taten angegeben hat, hat sie diese Taten nicht unverwechselbar in ihrer Individualität beschrieben. Lediglich die Feststellung bezüglich des ersten Oralverkehrs mit der Geschädigten genügt den genannten Anforderungen. Soweit die Jugendkammer bezüglich der weiteren Taten Einzelheiten und Besonderheiten festgestellt hat (häufiger Samenerguß in den Mund der Geschädigten, mehrfaches Würgen vor Ekel nach diesen Vorfällen, häufige Geschenke wie kleinere Geldbeträge und Zigaretten, Bemerkungen des Angeklagten "von Zeit zu Zeit", "sie müßten jetzt damit endgültig aufhören", genaue Beschreibung des Tatorts in der Wohnung, Position der Geschädigten auf dem Toilettenbecken), ist nicht erkennbar, auf welche der von der Jugendkammer angenommenen Einzeltaten sich diese Umstände beziehen.
Das angefochtene Urteil war daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben. In der neuen Hauptverhandlung werden die Anforderungen des Bundesgerichtshofs (NStZ 94, 252 f. = NJW 94, 2557 f.) an die Feststellungen bei Serienstraftaten zu beachten sein. Nach dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994 (a.a.O.) kommt eine Verurteilung des Angeklagten wegen (fortgesetzten) sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit (fortgesetztem) sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen nicht mehr in Betracht. Dem Angeklagten wird ggf. am Ende der Beweisaufnahme ein rechtlicher Hinweis (§ 265 StPO) dahingehend zu erteilen sein, dass eine Verurteilung wegen dann konkret zu bezeichnender Einzeltaten in Betracht komme. (In diesem Zusammenhang verweist der Senat auf die Abhandlungen von Zschockelt, Die praktische Handhabung nach dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen zur fortgesetzten Handlung, NStZ 94, 361 ff.).

Das neue Tatgericht hat auch über die Kosten der Revision zu befinden, weil der Erfolg des Rechtsmittels im Sinne des § 473 StPO bisher noch nicht feststeht.


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