Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 Ss 814/91 OLG Hamm

Senat: 2

Gegenstand: Revision

Stichworte: unzureichende Beweiswürdigung, Hausfriedensbruch, Strafantragsberechtigung, Störung einer Versammlung, Versammlungsgesetz, Zeugenschutz

Normen: StGB 123, VersG 21, StPO 261, StPO 68 a, StPO 238 ,


Beschluss: Strafsache gegen B., A. K., K., S. , S. R. wegen Hausfriedensbruchs u. a.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 10. Januar 1991 gegen das Urteil der Ia. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Dortmund vom 9. Januar 1991 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm in der Sitzung vom 11. Dezember 1991, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht als Vorsitzender,
Richterin am Oberlandesgericht, Richter am Landgericht als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt
als Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft,
Rechtsanwalt S.,
als Verteidiger für den Angeklagten zu 1.),
Justizangestellte
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Dortmund als Berufungsgericht zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.

Gründe:
Das Jugendschöffengericht Dortmund befand am 29. Februar 1988 die Angeklagten B., A., K., K., S., S. und R. zusammen mit neun weiteren Mitangeklagten eines gemeinschaftlichen Vergehens gegen das Versammlungsgesetz (§ 21 VersammlG) in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Hausfriedensbruch für schuldig. Gegen die erwachsenen Angeklagten B., S. und R. erkannte es auf Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung bei den beiden Letzteren zur Bewährung ausgesetzt wurde, und verwarnte die (zur Tatzeit) Heranwachsenden A., K., S. sowie den Jugendlichen K., denen es zugleich Pflichten auferlegte. Auf die Berufungen der sieben zuvor namentlich genannten Angeklagten hat die Jugendkammer des Landgerichts Dortmund "das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufungsführer freigesprochen; die auf die Rechtsfolgenentscheidung beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft bzgl. der erwachsenen Angeklagten hat sie verworfen.

Gegen diese Entscheidung der Jugendkammer vom 9. Januar 1991 richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft Dortmund, mit der sie die Aufhebung des Berufungsurteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erstrebt. Das Rechtsmittel wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten.

Die mit der Sachbeschwerde begründete Revision hat Erfolg.
1.) a) Zum Tatgeschehen hat das Berufungsgericht festgestellt:
Die Berufungsführer B., A., S., S. und R. waren Mitte 1987 Mitglieder, die Berufungsführer Kalath und Krieger 'zumindest' Sympathisanten der "Freiheitlichen Arbeiterpartei" (FAP), einer rechtsextremistischen Partei, deren Angehörige 1987 vermehrt durch militantes und strafrechtlich relevantes Verhalten hervortraten. Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern wurden nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst gesucht.
Im Frühjahr/Frühsommer 1987 waren in Lütgendortmund und Umgebung vermehrt Aktivitäten festzustellen, die auf die Urheberschaft der FAP hindeuteten. Es bildete sich eine Bürgerinitiative, die die Eindämmung bzw. Beendigung der neonazistischen Aktivitäten im Lütgendortmunder Stadtgebiet zum Ziel hatte. Zu diesem Zweck veranstaltete sie am 30. Juni 1987 um 19.30 Uhr in der Jugendfreizeitstätte "Am Lütgendortmunder Markt" einen "Informationsabend“. Sie machte darauf u. a. durch ein Flugblatt aufmerksam, das sich an alle Lütgendortmunder Bürger richtete und diese zu dem geplanten "Informationsabend" einlud, zu dem zwei Referenten erwartet wurden: Der Schriftsteller R.J., der seine Erfahrungen schildern sollte, die er im Kampf gegen den Neonazismus gemacht hatte, und das Mitglied der Bielefelder Nachbarschaftsinitiative T.S., der einen Film über die Aktivitäten der Neonazis in Bielefeld gedreht hatte.

Die Angeklagten, von denen keiner in Lütgendortmund wohnte und die sich nur teilweise kannten, wurden auf verschiedene Weise auf die Veranstaltung der Bürgerinitiative aufmerksam. Sie beschlossen, daran teilzunehmen (ohne dass eine Verabredung untereinander hätte festgestellt werden können), und gelangten in kleineren Gruppen zum Versammlungsort. Auf dem Platz vor der Jugendfreizeitstätte traf jedenfalls der größere Teil der Angeklagten und früheren Mitangeklagten, die durchweg freizeitmäßig gekleidet waren, aufeinander. Sowohl der Angeklagte B. als auch ein früherer Mitangeklagter hatten Flugblätter dabei, in denen sie sich als „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" zu erkennen gaben. Absprachen für ein gemeinsames Vorgehen hat die Kammer nicht feststellen können (UA 8). Sie ist jedoch davon ausgegangen, dass die Verteilung von Flugblättern „sicher" abgesprochen gewesen sei (UA 32).

Kurz vor 20.00 Uhr begann die Veranstaltung der Bürgerinitiative. Sie fand im Versammlungsraum der Jugendfreizeitstätte statt, der - räumlich nicht abgetrennt - im Anschluß an einen offenen Thekenbereich bis zu 60 Personen Platz bietet. Zu Beginn wurde von den 20 bis 40 Teilnehmern der Versammlungsleiter Bubenberger gewählt, der die Referenten vorstellte. Das Programm begann mit dem Abspielen des angekündigten Videofilms über die neonazistischen Aktivitäten in Bielefeld.
Nachdem der Film einige Minuten gelaufen war, betrat die Mehrzahl der Angeklagten und früheren Mitangeklagten den Saal. Ein Teil von ihnen blieb stehen, ein anderer Teil nahm auf freien Stühlen Platz. "Zumindest“ der Angeklagte R. und ein früherer Mitangeklagter verteilten die mitgebrachten Flugblätter; der Angeklagte A. ging zum Fernseher und schaltete diesen ab; der Angeklagte S. stellte den Angeklagten B. als Funktionsträger der FAP vor und fügte hinzu, dass dieser gerade aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Sie verlangten nach Diskussion über das Thema Rechtsradikalismus und äußerten, "wenn man diskutieren wolle, solle man dies mit ihnen tun“. Es entstand eine allgemeine Unruhe im Versammlungsraum.

Unter den Versammlungsteilnehmern - denen klar geworden war, dass sie es mit Angehörigen der FAP zu Tun hatten - und den Angeklagten/ früheren Mitangeklagten begann eine lautstarke Diskussion darüber, ob Letztere an dem Informationsabend teilnehmen dürften oder nicht. In diesem Zusammenhang äußerte der Angeklagte B. sinngemäß, man könnte noch ganz anders diskutieren, wenn keine Damen im Saale wären. Die Ansichten über die Zulassung der Angeklagten/früheren Mitangeklagten zum Informationsabend waren geteilt. Die Mehrheit der Teilnehmer waren dafür, dass die FAP-Leute den Saal verließen. Die Angeklagten weigerten sich jedoch zu gehen. Sie vertraten den Standpunkt, sie könnten bleiben, weil die Veranstaltung öffentlich sei. Sie befolgten deshalb auch die wiederholten Aufforderungen, sich zu entfernen, durch den Leiter der Jugendfreizeitstätte E. nicht.

Allerdings zogen sie dann ohne weiteres ab, nachdem der Einsatzleiter der telefonisch herbeigerufenen Polizei sie - wunschgemäß dreimal - zum Verlassen der Versammlungsstätte aufgefordert hatte.

Im Hinausgehen skandierten sie im Sprechchor den Satz: "Deutsche Polizisten schützen (Links-) Faschisten

b) Den Freispruch hat das Berufungsgericht, u. a. wie folgt, begründet:

Obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 123 StGB (Hausfriedensbruch) vorlägen, stehe einer Verurteilung der Angeklagten das Fehlen eines wirksamen Strafantrages entgegen. Nach der Dienstanweisung zur Ausübung des Hausrechts in Dienstgebäuden und Diensträumen sowie sonstigen der Verfügungsgewalt der Stadt Dortmund unterliegenden Grundstücken, Gebäuden und Räumen vom 6. November 1978 sei der Leiter der Jugendfreizeitstätte E. zwar befugt gewesen, das Hausrecht auszuüben; nicht berechtigt gewesen sei er allerdings, entsprechende Strafanträge zu stellen. Sein Strafantrag vom 21. August 1987 reiche daher für eine Strafverfolgung nicht aus.

Die Voraussetzungen des § 21 VersammlG seien aus tatsächlichen Gründen zu verneinen. Das aufgrund der Beweisaufnahme feststellbare Verhalten der Angeklagten, insbesondere deren Verlangen nach Diskussion, möglicherweise auch entgegen dem vorgesehenen Versammlungsablauf, beinhalte keine grobe Störung der Versammlung; für die Absicht der Angeklagten, die Durchführung der Versammlung zu vereiteln, gebe es keine Anhaltspunkte.

2.) Die Revisionsführerin hält den Leiter der Jugendfreizeitstätte E. kraft Gewohnheitsrechts für befugt, Strafanträge zu stellen. Mit der Sachrüge macht sie im Übrigen geltend, dass sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts eine grobe Störung der Versammlung im Sinne des § 21 VersammlG ergebe, zumal dann, wenn die Einzelhandlungen (Ausschalten des Fernsehgerätes; Verlangen nach Diskussion, ob die Angeklagten im Versammlungsraum bleiben dürften; Äußerung des Angeklagten B., dass man ganz anders diskutieren könnte, wenn keine Damen im Saale wären) einer Gesamtwürdigung unterzogen würden.

Der auf die Sachrüge vorzunehmenden rechtlichen Nachprüfung halten die Ausführungen der Strafkammer im Ergebnis nicht stand.

Der Senat teilt aufgrund seiner von Amts wegen vorzunehmenden Überprüfung (vgl. Dreher/Tröndle, 45.. (1991) vor § 77 StGB Rdnr. 2 m. w. N.) die Auffassung des Berufungsgerichts, dass einer Strafverfolgung der Angeklagten wegen Hausfriedensbruchs das Fehlen eines wirksamen Strafantrages der Verletzten Stadt Dortmund entgegensteht (vgl. §§ 123 Abs. 2, 77 ff StGB). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit die zutreffenden Urteilsgründe Bezug, die durch die Darlegungen der Revisionsführerin nicht in Frage gestellt sind. Selbst wenn grundsätzlich - trotz der detaillierten Regelungen zur Strafantragsberechtigung in der Dienstanweisung vom 6. November 1978 eine Delegation durch den zuständigen Beigeordneten auf nachgeordnete Stellen kraft gewohnheitsrechtlicher Übung anerkannt würde, könnte sich eine solche nicht ohne Kenntnis und Billigung des Strafantragsberechtigten herausbilden. Dem seit 1982 zuständigen Beigeordneten Dr. S. ist jedoch weder die Dienstanweisung, noch die Praxis des Jugendamtes, Strafanträge selbst zu stellen oder durch Leiter der Jugendfreizeitstätten stellen zu lassen, bekannt gewesen. Er hat die tatsächliche Handhabung deshalb nicht als Übertragung seiner Strafantragsbefugnis verstehen und gutheißen können. Auf die weitere Rechtsfrage, ob allein seine Billigung für eine Änderung bzw. Ergänzung der Dienstanweisung ausreichte, kommt es danach nicht an.

Soweit die Strafkammer die Voraussetzungen des § 21 VersammlG aus tatsächlichen Gründen verneint hat, gilt grundsätzlich, dass es das Revisionsgericht hinzunehmen hat, wenn der Tatrichter seine Zweifel am Vorliegen der objektiven und subjektiven Merkmale eines Straftatbestandes nicht überwinden kann. Es stellt jedoch einen sachlich-rechtlichen Fehler dar, wenn der Tatrichter dabei nicht alle wesentlichen Umstände in seine Überlegungen einbezogen hat, durch die derartige Zweifel hätten überwunden werden können (BGH NJW 1962, 549; KK-Hürxthal, 2. Aufl. (1987) § 267 StPO Rdnr. 41).
Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe stützt das Berufungsgericht seine Überzeugung vom Ablauf der Versammlung offenkundig auf die Aussagen der Polizeibeamten W. und T., die interessehalber in ihrer Eigenschaft als Bezirksbeamte in Lütgendortmund, als Angehörige der Polizei jedoch nicht erkennbar an dem Informationsabend der Bürgerinitiative teilgenommen haben. Gegenüber deren Schilderungen ist die Strafkammer den "teilweise“ weitergehenden Bekundungen der Zeugen B. und J. nicht gefolgt, weil sie erhebliche Bedenken an der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen gehabt hat (UA 19).
Bei ihrer Wertung hat die Kammer wesentliche Gesichtspunkte außer Betracht gelassen, die geeignet sind, die gezogenen Schlußfolgerungen in Frage zu stellen.
a) Dem Zeugen B. hält das Gericht u. a. vor, dass er keine weiteren Versammlungsteilnehmer oder Leute benannt habe, die aktiv in der Bürgerinitiative Lütgendortmund mitgearbeitet hätten (UA 19/ 20). Seine Aussage in der Berufungsverhandlung stehe in Widerspruch zur erstinstanzlichen Vernehmung durch das Amtsgericht Dortmund und der schriftlichen Aussage bei der Polizei (UA 22/23). Sie sei mit "zahlreichen Werturteilen gespickt" gewesen und in ihrer "drastischen Form" durch die weitere Beweisaufnahme nicht abgestützt worden (UA ).
Hätte sich die Strafkammer zum einen den Zeitablauf und zum anderen die (rechtlich) herausgehobene Position des Zeugen als Versammlungsleiter vergegenwärtigt, hätte sich ihr eine andere Sicht auf das "Bild von der Persönlichkeit" des Zeugen und dessen „Aussageverhalten" eröffnet.

Die Berufungshauptverhandlung hat erst 3 1/2 Jahre nach der Informationsveranstaltung vom 30. Juni 1987 und knapp drei Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil vom 29. Februar 1988 stattgefunden. Das sind Zeiträume, die regelmäßig Erinnerungsverluste bzw. Erinnerungsverschiebungen im Gedächtnis eines Zeugen zur Folge haben (vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage (1970), S. 52). Das gilt hinsichtlich der „Gedächtnislücke" um so mehr, als die (damalige ?) Bürgerinitiative als "lockerer, nicht satzungsgemäß oder organisatorisch genau definierter Zusammenschluß nicht rechtsfähiger Art, in der sich Personen unterschiedlicher politischer Richtungen... zusammengefunden hatten" (UA 6) beschrieben worden ist, ohne dass Feststellungen zur Zahl der Aktiven, die dem Zeugen hätten bekannt sein müssen, und zum Umfang der gemeinsamen Aktivitäten getroffen worden sind, unabhängig von der weiteren Frage, ob sich die Leute mit Hausnamen gekannt haben. Die als "gefärbt und einseitig" charakterisierte Schilderung des Zeugen B. von seinen Eindrücken, wonach die FAP-Leute die Versammlung hätten sprengen wollen (UA 20/21), ist durchaus nachvollziehbar auf dem Hintergrund der "Rechte und Pflichten" des Versammlungsleiters gemäß § 8 VersammlG, der - anders als die Versammlungsteilnehmer - zum Handeln berufen gewesen ist, weil er u. a. für Ordnung zu sorgen hatte. Als Funktionsträger hat ihm oblegen, sich ohne Zögern einen Situationseindruck zu verschaffen, um ggfl. eine Unterbrechung oder Schließung der Versammlung anzuordnen. Mag es auch zutreffen, dass es zu einer "eigentlichen Bedrohung" (UA 2,1), von Versammlungsteilnehmern nicht gekommen ist, beruht diese Würdigung auf einer Ex-post-Betrachtung, die keinesfalls Maßstab für den zur sofortigen Entscheidung berufenen Versammlungsleiter sein kann.

In diesem Zusammenhang ist überdies zu besorgen, dass sich die Kammer aufgrund ihres Rechtsstandspunktes, das Verlangen nach Diskussion sei nicht als grobe Störung anzusehen (UA 39), den Blick auf das tatsächliche Geschehen verstellt hat. Was nämlich als (grobe) Störung der Versammlung zu werten ist, kann nicht ohne den Zweck der Veranstaltung beurteilt werden. Zu einem Diskussionsabend gehören die üblichen Mittel des rednerischen Angriffs und der Verteidigung mit Zwischenrufen, Beifalls- und Mißfallenskundgebungen. Das Verlangen nach sofortiger Diskussion in einer Informationsveranstaltung, die ausschließlich als solche angekündigt, bereits eröffnet und durch das Abspielen eines Videofilms in Gang gesetzt ist, stört den ordnungsgemäßen Ablauf im Sinne des § 8 VersammlG. Der Versammlungsleiter ist dann berufen, von seinen Rechten und Pflichten Gebrauch zu machen. Wird ihm durch das Vorgehen der „Diskussionswilligen" faktisch jede Entscheidungsmöglichkeit genommen, liegt die Schlußfolgerung, die Informationsveranstaltung solle gesprengt werden, durchaus nahe, zumal dann, wenn sich - nicht ausschließbar - 20 Teilnehmer 16 Neuankömmlingen gegenübersehen, die sich als FAP-Leute zu erkennen geben. dass sich ihnen - wie dem Gericht (UA 31) - der Eindruck aufgedrängt hätte, die FAP-Anhänger wollten keine Straftaten begehen, weil aus den verteilten Flugblättern Name und Adresse des Angeklagten B. zu ersehen waren, liegt angesichts des politischen Informationstandes der Teilnehmer eher fern.

Schließlich ist zwischen der Bestimmung zur Mitarbeit in der Bürgerinitiative durch die Schulpflegschaft und den Bedenken der Kammer gegen das Aussageverhalten des Zeugen B. ein Zusammenhang nicht erkennbar (UA 20).

b) Die Aussage des Zeugen J. hat das Berufungsgericht "mit Vorsicht" bewertet, weil dieser Fragen „nach seiner politischen Zugehörigkeit erst auf mehrfaches nachdrückliches Befragen durch das Gericht und die Verteidiger" (UA 24) und die Frage "nach seinem genauen politischen Standort" ... "nicht sofort" beantwortet (UA 25) habe.
Diese zum Nachteil des Zeugen angeführten Argumente lassen den gesetzlichen Zeugenschutz, wie er in § 68 a StPO Ausdruck gefunden hat, außer Betracht. Fragen nach Tatsachen, die den persönlichen Lebensbereich des Zeugen betreffen, dürfen nur gestellt werden, wenn es unerlässlich ist. Das gilt insbesondere auch für Fragen nach der politischen Einstellung (vgl. Kleinknecht/ Meyer/Meyer-Goßner, 40. Aufl. (1991) § 68 a StPO Rdnr. 4). Über die Unerläßlichkeit solcher Fragen hat der Vorsitzende, ggf. das Gericht (§ 238 Abs. 2 StPO) auf Antrag des Zeugen zu befinden (Kleinknecht/Meyer/Meyer-Goßner, a.a.O. § 68 a StPO Rdnr. 8). Dass dieser von seinem Recht Gebrauch macht und das Gericht zu einer solchen Entscheidung bzgl. jeder einschlägigen Frage zwingt, kann ihm insbesondere dann nicht angelastet werden, wenn die Unerläßlichkeit zweifelhaft ist. Hier war - auf dem Hintergrund der "Lagertheorie" (UA 18) - der „Standort" des als Referenten von der Bürgerinitiative geladenen Zeugen Junge, der ausweislich des Einladungsflugblattes "seine Erfahrungen, die er im Kampf gegen den Neonazismus gemacht hat, schildern" sollte, hinreichend bestimmt. Der Zeuge J. durfte sich deshalb jeder weitergehenden Frage des Gerichts und/oder der Verteidiger nach "politischer Zugehörigkeit" und „genauen politischen Standort" zunächst entziehen; zu sofortigen Antworten auf darauf abzielende Fragen war er nicht verpflichtet. Er durfte jeweils die Entscheidung der Vorsitzenden, ggf. des Gerichts abwarten.

c) Unabhängig von der Bewertung der Aussagen der Zeugen B. und J., wird das nunmehr entscheidende Tatgericht erneut die Frage der Mittäterschaft zu prüfen haben. Dabei wird es den Widerspruch aufzulösen haben, dass Absprachen zwischen den Angeklagten und früheren Mitangeklagten nicht feststellbar seien (vgl. UA 8), doch die Verteilung von Flugblättern sicher abgesprochen gewesen sei (UA 32).
Sollten die Voraussetzungen einer Mittäterschaft nicht vorliegen, wird zu erwägen sein, ob die aktiv gewordenen Angeklagten/früheren Mitangeklagten als Nebentäter die Versammlung der Bürgerinitiative grob gestört haben im Sinne des § 21 VersammlG.
In jedem Fall gilt es, das Verhalten der Angeklagten/früheren Mitangeklagten nicht nur als Mehrzahl von Einzelaktionen, sondern auch in seiner Gesamtheit zu würdigen, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 22. Juli 1991 zutreffend hingewiesen hat.
Danach war das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen antragsgemäß aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Diesem war auch die Kostenentscheidung bzgl. der Revision vorzubehalten, da der Erfolg des Rechtsmittels im Sinne des § 473 StPO noch nicht feststeht.


zur Startseite "Rechtsprechung"

zum Suchformular

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".