Aktenzeichen: 3 Ss 1216/98 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen "Schwere der Tat" und/oder "Schwierigkeit der Sache".
Senat: 3
Gegenstand: Revision
Stichworte: Aufhebung, notwendige Verteidigung, Straferwartung ab einem Jahr ohne Bewährung, Trunkenheit im Verkehr, drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, einschlägige Vorstrafen, drohender Widerruf
Normen: StPO 140 Abs. 2, StPO 338 Nr. 5, StGB 64
Beschluss: Strafsache gegen E.B.,
wegen Trunkenheit im Straßenverkehr.
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der V. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 06.04.1998 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 5. November 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht,den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
Gründe: I. Das Amtsgericht Herford hat den Beschwerdeführer am 03.12.1997 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, gegen ihn ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von fünf Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
Die Berufung des Angeklagten gegen dieses Urteil hat das Landgericht Bielefeld mit dem angefochtenen Urteil verworfen.
An der Berufungshauptverhandlung hat kein Verteidiger teilgenommen.
Nach den dem angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Feststellungen befuhr der Angeklagte am 24.08.1997 gegen 22.20 Uhr mit einem Mofa in Enger u.a. die Jöllenbecker Straße, obwohl er aufgrund vorangegangenen Alkoholgenusses zur sicheren Führung des Fahrzeuges nicht mehr in der Lage gewesen sei, was er auch hätte erkennen können und müssen. Die Untersuchung der ihm am 24.08.1997 um 22.45 Uhr entnommenen Blutprobe habe für den Entnahmezeitpunkt einen Blutalkoholgehalt von 1,76 o/oo ergeben.
Wie das Landgericht weiter festgestellt hat, war der Angeklagte zuvor seit dem Jahre 1990 bereits 11 Mal wegen Verkehrsdelikten strafrechtlich in Erscheinung getreten, davon 8 Mal wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr. Unter anderem war gegen ihn durch Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Bünde vom 04.07.1994 nachträglich eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verhängt worden, die er bis zum 11.04.1997 verbüßte. Die in die nachträglich gebildete Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen waren gegen ihn zuvor wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 20,- DM, verhängt durch das Amtsgericht Ratingen am 04.09.1992), wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in fünf Fällen, fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs infolge Trunkenheit in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, fortgesetzten Fahrens ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in einem weiteren Fall (Freiheitsstrafe von zwei Jahren, verhängt durch das Amtsgericht Bünde am 06.10.1992) sowie wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis (Freiheitsstrafe von sechs Monaten, verhängt durch das Amtsgericht Tecklenburg am 30.11.1992) ausgesprochen worden. Weiterhin war der Angeklagte durch Urteil des Amtsgerichts Herford vom 26.08.1994 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen unter Einbeziehung einer Einzelfreiheitsstrafe von neun Monaten, die zuvor wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis durch Urteil des Amtsgerichts Münster vom 14.12.1993 gegen ihn verhängt worden war, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden. Diese Strafe verbüßte der Angeklagte nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils bis zum 13.05.1996.
Am 21.03.1997 verurteilte ihn schließlich das Amtsgericht Herford wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung bei einer Bewährungszeit von vier Jahren.
Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil der Berufungskammer hat der Angeklagte mit am 07.04.1998 bei den Bielefelder Justizbehörden eingegangenem Schreiben seines Verteidigers Revision eingelegt und diese nach Urteilszustellung an den Verteidiger am 28.04.1998 durch einen am 28.05.1998 eingegangenen Schriftsatz des Verteidigers begründet.
Die Revision rügt neben der in allgemeiner Form erhobenen Sachrüge die Verletzung des § 140 Abs. 2 S.1 StPO. Hierzu legt die Revision unter näheren Ausführungen dar, dass dem Angeklagten angesichts seiner erheblichen einschlägigen Vorbelastungen sowie angesichts des drohenden Widerrufs der durch Urteil des Amtsgerichts Herford vom 21.03.1997 gewährten Strafaussetzung ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen. Dies folge zudem aus dem Gewicht der weiter gegen den Angeklagten verhängten Nebenfolgen, nämlich der weiteren Sperrfrist von noch fünf Jahren für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Tatsächlich habe die Berufungshauptverhandlung aber ohne Beisein eines Verteidigers stattgefunden.
II. Die zulässige Revision des Angeklagten hat mit der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO einen vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Der Angeklagte hat die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO genügenden Weise erhoben. Die Revision führt aus, aus welchen Gründen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe. Der Revisionsbegründung ist insbesondere auch zu entnehmen, dass die Berufungshauptverhandlung während ihrer gesamten Dauer ohne Beisein eines Verteidigers durchgeführt worden ist. Damit genügt die Verfahrensrüge den insoweit geltenden Zulässigkeitsanforderungen (vgl. BGH, StV 1986, 287; Senat, Beschluss vom 05.06.1996 - 3 Ss 428/96 OLG Hamm).
Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO ist auch begründet. Die Mitwirkung eines Verteidigers wäre hier nämlich gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat sowie wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage notwendig gewesen.
Nach §140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen u.a. dann einen Verteidiger für den Angeklagten, wenn dessen Mitwirkung wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten erscheint. Über die Bestellung eines Verteidigers entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen, so dass ihm ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. ob jedoch der Tatrichter die vorgenannten Rechtsbegriffe verkannt oder ob er insoweit den richtigen Wertmaßstab angewandt hat, unterliegt als Rechtsanwendung der Überprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. Senatsbeschluss vom 12.12.1996 - 3 Ss 1459/96 OLG Hamm -; Senatsbeschluss vom 06.03.1997 - 3 Ss 203/97 OLG Hamm; OLG Köln, StV 1991, 151; OLG Frankfurt/Main, StV 1995, 628).
Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 140 Rdnr. 23 m.w.N.). Nach der wohl überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, der der Senat folgt, ist in der Regel von dem Fall einer notwendigen Verteidigung auszugehen, wenn die Verhängung einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten ist (Senat, Beschluss vom 26.09.1996 - 3 Ss 1079/96 OLG Hamm; Beschluss vom 06.03.1997 - 3 Ss 203/97 OLG Hamm -; Beschluss vom 26.06.1997 - 3 Ss 725/97 OLG Hamm; Bay0bLG NJW 1995, 2738; OLG Düsseldorf, VRS 92, S. 24).
Hier hatte der Angeklagte allenfalls damit zu rechnen, dass es bei der durch das Amtsgericht Herford durch Urteil vom 03.12.1997 verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten und der in diesem Urteil angeordneten Maßregel gemäß § 69 a StGB verbleiben würde. Denn da nur er Berufung eingelegt hatte, griff zu seinen Gunsten das Verschlechterunqsverbot des § 331 Abs. 1 StGB ein.
Ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, beurteilt sich jedoch nicht allein nach der Straferwartung. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch sonstige schwerwiegende Nachteile wie etwa ein drohender Widerruf der Strafaussetzung in einer anderen Sache sowie die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten (Senat, Beschluss vom 26.09.1996 - 3 Ss 1079/96 OLG Hamm -; Beschluss vom 06.03.1997 - 3 Ss 203/97 OLG Hamm; BayObLG, NJW 1995, 2738; OLG Düsseldorf, VRS 92, 24; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Randnummern 24, 25 m.w.N.).
Der Angeklagte hat hier zunächst mit dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Herford vom 21.03.1997 zu rechnen, durch das er wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden war. Die Tat vom 24.08.1997, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, hat er nämlich während der laufenden Bewährungszeit in jener Sache begangen. Für die Frage eines etwaigen Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung in jener Sache ist der Rechtsfolgenausspruch in der vorliegenden Sache zumindest insoweit von erheblicher Bedeutung, als der Widerruf davon abhängen kann, ob der Angeklagte wegen seiner erneuten Straffälligkeit zu Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung verurteilt wird. Unter Berücksichtigung eines Widerrufs der durch das Urteil des Amtsgerichts Herford vom 21.03.1997 gegen den Angeklagten verhängten weiteren Freiheitsstrafe von sechs Monaten, steht hier aber bereits ein Freiheitsentzug von insgesamt 12 Monaten im Raum. Damit ist die Grenze derjenigen Straferwartung, bei der in der Regel Anlass besteht, einen Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat zu bejahen, erreicht. Zwar handelt es sich insoweit nicht um eine starre Grenze. So kann in einfachen Fällen auch bei einer Strafmaßberufung gegen ein Urteil, durch das eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt worden ist, die Mitwirkung eines Verteidigers entbehrlich erscheinen (Senat, Beschluss vom 06.03.1997 - 3 Ss 203/97 OLG Hamm -; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rdnr. 23 m.w.N.).
Hier handelt es sich indes nicht um einen einfach gelagerten Fall. Die Berufungskammer stellt nämlich selbst im Rahmen der Strafzumessung fest, dass sich aus der Vielzahl abgeurteilter Trunkenheitsfahrten eine erhebliche Alkoholgefährdung des Angeklagten ergibt, für deren zwischenzeitlichen Abbau keine Anhaltspunkte vorliegen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte, wie sich aus dem Blutentnahmeprotokoll vom 24.08.1997 ergibt, trotz der später festgestellten Blutalkoholkonzentration von 1,76 o/oo zur Blutentnahmezeit nur leicht unter Alkohoieinfluß zu stehen schien und einen der Situation entsprechenden Gesamteindruck bot. Das Blutentnahmeprotokoll stand dem Senat im Rahmen der zulässig erhobenen Verfahrensrüge des Angeklagten zur Verwertung offen. Der dort niedergelegte Befund spricht nach der Lebenserfahrung für eine erhebliche Alkoholgewöhnung des Angeklagten, da bei einer Blutalkoholkonzentration solcher Höhe bei einem alkoholungewöhnten Menschen deutlich wahrnehmbare Ausfallerscheinungen zu erwarten gewesen wären. Bei dieser Sachlage drängte sich vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Vorgeschichte des Angeklagten aber die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten und seiner etwaigen Unterbringung gemäß § 64 StGB auf. Insbesondere stand einer möglichen Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt auch nicht das Verbot der Schlechterstellung entgegen, § 331 Abs. 2 StPO. Auch dies hätte die Berufungskammer hier bei der Frage, ob dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen war, berücksichtigen müssen. Unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat sind nämlich sämtliche Rechtsfolgen maßgebend, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind (Senat, Beschluss vom 05.06.1996 - 3 Ss 428/96 OLG Hamm; OLG Hamm, NStZ 1982, 298). Zur Frage der Schuldfähigkeit oder Unterbringung kann sich der Angeklagte aber ersichtlich nicht hinreichend verteidigen, da dazu besondere Sachkenntnisse erforderlich sind.
Endlich kann hier auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Angeklagte bis zum 11.04.1997 insgesamt vier Jahre Freiheitsstrafe wegen einschlägiger Verkehrsdelikte im Zusammenhang vollständig verbüßt hatte und nun erneut unter Berücksichtigung des Widerrufs der durch das Amtsgericht Herford am 21.03.1997 verhängten Freiheitsstrafe ein Freiheitsentzug von einem Jahr für ihn bevorstand. Das damit verbundene Scheitern der Resozialisierung des Angeklagten nach einer derart langen Haftdauer stellt aber ebenfalls einen ganz schwerwiegenden Nachteil für ihn dar, der bei der Beurteilung der Schwere der Tat und der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage nicht unberücksichtigt bleiben kann. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der erheblichen Alkoholproblematik des Angeklagten, die offensichtlich dringender Aufarbeitung bedarf, wobei fraglich erscheint, ob diese Aufarbeitung allein durch die weitere Verbüßung von Freiheitsstrafen ausreichend geleistet werden kann.
Jedenfalls aufgrund des Zusammentreffens der vorgenannten Umstände war hier die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten. Da der Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO bildet (vgl. BGHSt 15, 307; BGH StV 1986, 287; OLG Düsseldorf, AnwBl 1984, 262; OLG Hamm, NStZ 1982, 298; OLG Hamm, StV 1993, 180; Senat, Beschluss vom 26.06.1997 - 3 Ss 725/97 OLG Hamm), war das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückzuverweisen (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO).
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