Aktenzeichen: 3 Ws 491/98 OLG Hamm
Leitsatz: Zum Vorliegen neuer Umstände im Sinn von § 116 Abs. 4 StPO, hier u.a. Flucht eines Mitangeklagten
Gericht: OLG Hamm
Senat: 3
Gegenstand: Beschwerde
Normen: StPO 116 Abs. 4 StPO
Stichworte: Aufhebung der Haftverschonung, Fluchtgefahr, Haftbefehl, neue Umstände
Beschluss: Strafsache gegen 1. F.B. und 2. R.M. und 3. D.K.
wegen Betruges u.a.,
(hier: Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen Aufhebung der Haftverschonung).
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 11. November 1998 gegen den Beschluss der IX. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 10. November 1998 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 17. November 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Die Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der den Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
Gegen die drei Angeklagten, die sich bereits in vorliegender Sache zuvor in Untersuchungshaft befunden hatten, ist am 3. Februar 1998 erneut Haftbefehl, und zwar seitens des Landgerichts Bielefeld (9 KLs K 2/95 IX) ergangen. Die drei Angeklagten wurden am selben Tage inhaftiert. Der Vollzug dieser Haftbefehle ist durch Beschlüsse der Strafkammer vom 6. Mai 1998 jeweils gegen Auflagen ausgesetzt worden. Der Angeklagte B. befindet sich seit dem 2. Juni 1998, der Angeklagte M. seit dem 7. Mai 1998 und der Angeklagte K. seit dem 8. Mai 1998 auf freiem Fuß.
In der Hauptverhandlung vom 10. November 1998 hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld die Wiederinvollzugsetzung dieser Haftbefehle beantragt. Anlass hierfür war, dass der Mitangeklagte Schlienkamp zum 158. Verhandlungstag, am 10. November 1998, nicht erschienen war. Er hatte mit Schreiben vom 8. November 1998 einen Suizid angekündigt.
Mit Beschluss vom 10. November 1998 wies die Strafkammer den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Haftverschonung gegen die drei Angeklagten B., K. und M. zurück und lehnte auch eine Aufhebung der Haftverschonung von Amts wegen ab. Sie führte in der Begründung aus, dass keine neuen Umstände hervorgetreten seien, aufgrund deren nunmehr eine Verhaftung der drei Angeklagten erforderlich sei; anders als vor dem Erlass der Haftbefehle vom 3. Februar 1998 aufgrund der Flucht des Mitangeklagten B. bestehe jetzt kein Anlass anzunehmen, dass das Verhalten des Angeklagten S..einen Nachahmungseffekt auslöse. Es erscheine - auch aus Sicht der drei Angeklagten - möglich, dass der Grund für eine Flucht des Angeklagten S.nicht die sehr wahrscheinliche Verurteilung in vorliegender Sache sei, sondern dass vielmehr berufliche oder private Gründe den Angeklagten S. veranlaßt haben können, sich dem Verfahren nicht mehr zu stellen. Darauf deuteten der an die Kammer gerichtete Abschiedsbrief des Angeklagten S. mit der Ankündigung eines Suizids sowie auch die Umstände seiner Flucht hin. Es erscheine nicht ausgeschlossen, dass der in dem Abschiedsbrief angesprochene Freitod ernstlich gewollt und vollzogen sei. In der gesamten Verhaltensweise des Angeklagten S. ließen sich Motive für Kurzschlußhandlungen oder aber der Nachahmung für die übrigen drei Angeklagten nicht sehen. Ein etwaiger Freitod des Angeklagten S. stelle ersichtlich keinen neuen Umstand i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO dar. An dieser Beurteilung ändere sich auch dann nichts, wenn der vom Angeklagten S. angekündigte Freitod von den Angeklagten B., K. und M. nicht geglaubt oder gar für unwahrscheinlich gehalten werden sollte. Weiterhin weist die Strafkammer darauf hin, dass eine gemeinsame Verteidigungslinie mit dem Angeklagten S. nicht ersichtlich sei; das Gegenteil sei vielmehr der Fall: Der Angeklagte S. werde von den übrigen Angeklagten als der für die Straftaten Alleinverantwortliche angesehen, dessen Flucht die eigene Verteidigungsstrategie möglicherweise sogar verbessere. Die Flucht des Angeklagten S. bringe aus Sicht der übrigen Angeklagten dessen Unzuverlässigkeit und Unaufrichtigkeit zum Ausdruck, was etwaige sie belastende Einlassungen des Angeklagten S. abschwächen oder gar widerlegen könne. Nach Auffassung der Kammer sind die den Angeklagten B., K. und M. gemachten Auflagen nach wie vor geeignet, der mit den Haftbefehlen vom 3. Februar 1998 bejahten Fluchtgefahr wirksam zu begegnen.
Der gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat und der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist, war der Erfolg zu versagen.
Nach § 116 Abs. 4 StPO kann der Vollzug des ausgesetzten Haftbefehls nur in den in dieser Vorschrift besonders geregelten Fällen wieder angeordnet werden. Ein Fehlverhalten der Beschuldigten nach § 116 Abs. 4 Ziffern 1 und 2 StPO liegt nicht vor und wird auch von der Beschwerdeführerin nicht geltend gemacht. Die drei Angeklagten haben ausweislich des Kammerbeschlusses die ihnen auferlegten Pflichten und Beschränkungen eingehalten; sie haben - soweit erkennbar - keine Anstalten zur Flucht getroffen, sind regelmäßig zu den Hauptverhandlungsterminen erschienen und haben auch sonst keine Anhaltspunkte für einen Vertrauensmißbrauch gesetzt.
Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft liegen aber auch die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Ziffer 3 StPO nicht vor: Neu hervorgetretene Umstände, die eine Verhaftung der drei Angeklagten erforderlich machen, sind nach Auffassung des Senats nicht gegeben. Der Senat teilt die im einzelnen dargelegte Auffassung der Strafkammer.
Neu hervorgetretene Umstände wären einmal zu bejahen, wenn sich die äußeren Verhältnisse so verändert hätten, dass sie zur Versagung der Haftverschonung geführt hätten, wenn sie zum Zeitpunkt der Haftverschonung bereits bekannt gewesen wären. Der Wort- und Sinngehalt des § 116 Abs. 1 Ziffer 3 StPO umfaßt aber auch alle Umstände, die aufgrund einer veränderten subjektiven Einschätzung der Verfahrenssituation durch die Angeklagten zu einer wesentlichen Verstärkung des bereits bestehenden Haftgrundes, hier einer Steigerung der Fluchtbereitschaft führen, ohne dass dem durch zusätzliche Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO begegnet werden könnte (vgl. Senatsentscheidung vom 13.07.1993 - 3 Ws 343/93 -). Abzustellen ist insoweit auf den Zeitpunkt der Außervollzugsetzung der Haftbefehle. Bei unveränderter Sachlage darf die Aussetzung des Haftvollzuges nicht widerrufen werden; vielmehr ist das Gericht an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Vollzugsaussetzung beruht, gebunden (OLG München NJW 1978/771 f; Schlesw.-Holst. OLG SchlHA - Lorenzen - 1996/91).
Der Umstand, dass sich die Strafkammer in der Einschätzung der Fluchtgefahr bei dem Angeklagten S., der sich zuvor freiwillig gestellt und freimütig an der Aufklärung des Falles mitgewirkt hatte, geirrt hat, kann keine entscheidende Rolle für die Beurteilung der Fluchtgefahr hinsichtlich der drei Angeklagten B., M. und K. haben. Ein Irrtum in der Bewertung der Fluchtgefahr bei dem Angeklagten S. stellt keinen neu hervorgetretenen Umstand hinsichtlich der Angeklagten B., K. und M. dar.
Hinsichtlich des von der Strafkammer im angefochtenen Beschluss erörterten möglichen Nachahmungseffektes schließt der Senat sich der Würdigung durch die Strafkammer an. Ebenso verhält es sich mit dem Argument der Strafkammer, dass die Flucht des Angeklagten S. die Verteidigungsstrategie der drei Angeklagten B., M. und K. jedenfalls nicht beeinträchtige, sondern sie möglicherweise aus den dargelegten Gründen aus Sicht der drei Angeklagten sogar verbessere. Daran ändert nach Auffassung des Senats der Umstand nichts, dass die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung weit fortgeschritten ist und der Angeklagte S. sich bereits so eingehend geäußert hat, dass neue, die Mitangeklagten belastende Erklärungen von ihm nicht zu erwarten gewesen wären.
Der Umstand, dass die Hauptverhandlung bereits weit fortgeschritten ist und ihr Ende in etwa abzusehen sein mag, die drei in Rede stehenden Angeklagten aber gleichwohl bisher den Ladungen zu den jeweils folgenden Hauptverhandlungsterminen anstandslos Folge geleistet haben, spricht entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft gerade nicht für das Vorliegen von neu hervorgetretenen Umständen, die nunmehr den Vollzug der Untersuchungshaft erforderlich machen. Die drei Angeklagten waren sowohl zum Zeitpunkt des Erlasses der Haftbefehle am 3. Februar 1998 als auch zum Zeitpunkt der Haftverschonungsbeschlüsse, am 6. Mai 1998 gravierenden Tatvorwürfen ausgesetzt. In einer Vielzahl von Beschlüssen hat die Strafkammer darauf verwiesen, dass die Einlassungen der Angeklagten, sich nicht strafbar gemacht zu haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu widerlegen seien und dass die Angeklagten im Verurteilungsfall mit hohen Freiheitsstrafen zu rechnen hätten. Anhaltspunkte dafür, dass insoweit Änderungen eingetreten wären, die Auswirkungen auf die Fluchtbereitschaft der drei Angeklagten hätten, sind nicht ersichtlich. Sie liegen nach Auffassung des Senats jedenfalls nicht lediglich darin, dass die Hauptverhandlung weiter fortgeschritten und ein Ende des Verfahrens nähergerückt ist. Hiervon ist ersichtlich auch die Strafkammer im angefochtenen Beschluss ausgegangen.
Nach alledem besteht kein Anlass, nunmehr von einer aufgrund neuer Umstände verstärkten Fluchtgefahr bei den Angeklagten B., M. und K. auszugehen und den Vollzug der Haftbefehle wieder anzuordnen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft war daher als unbegründet mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 1 StPO zu verwerfen.
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