Aktenzeichen: 1 Ss 1190/98 OLG Hamm
Leitsatz: Die Annahme von Vorsatz kann bei einer Trunkenheitsfahrt nicht allein auf eine hoge Blutalkoholkonzentration gestützt werden.
Senat: 1
Gegenstand: Revision
Stichworte: Ausfallerscheinungen, Beweiswürdigung, Fahrrad, Schuldfähigkeit, vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr, Vorsatz
Normen: StGB 21, StGB 316
Beschluss: Strafsache gegen M.S.,
wegen Trunkenheit im Verkehr.
Auf die Revision des Angeklagten vom 16. Juni 1998 gegen das Urteil der 2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 12. Juni 1998 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13.10.1998 durch den Richter am Oberlandesgerich, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen.
Gründe:
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Siegen vom 4. Mai 1998 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. Die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil mit der Maßgabe verworfen, dass die Freiheitsstrafe auf drei Monaten festgesetzt wird.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
"Am Sonntag, den 30.11.1997, hielt sich der Angeklagte wie gewöhnlich in der Wohnung seiner Freundin S.Ö. in Siegen, In der Hüttenwiese 30, auf. Er stand morgens gegen 8.00 Uhr auf. Ab 16.00 Uhr fand in der Wohnung der Frau Ö. eine Feier statt, an der ca. sechs Personen teilnahmen. Der Angeklagte konsumierte zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr Bier und Wein in erheblichen Mengen. Gegen 20.00 Uhr waren die alkoholischen Getränke aufgebraucht. Der Angeklagte entschloß sich daher in der nahegelegenen Esso-Tankstelle Schlüter weitere alkoholische Getränke zu besorgen. Die Entfernung zwischen der Wohnung von Frau Ö. und der Esso-Tankstelle beträgt wenige 100 m. Als der Angeklagte das Haus In der Hüttenwiese 30 verließ, entschloß er sich auf seinem Fahrrad zur Tankstelle zu fahren. Das Fahrrad des Angeklagten stand im Hausflur. Als der Angeklagte das Fahrrad bestieg und losfuhr, war im bewusst, dass er aufgrund des zuvor genossenen Alkohols nicht mehr in der Lage war, das Fahrrad sicher zu führen. An die seit dem 5. November 1997 laufende Bewährung dachte der Angeklagte in diesem Augenblick nicht. Der Angeklagte fuhr über öffentliche Straßen zur Esso-Tankstelle. Da die Tankstelle an einer Bundesstraße liegt, die auch Sonntag abends gegen 20.00 Uhr häufig benutzt wird, schob der Angeklagte sein Fahrrad an einer Ampelanlage über die Bundesstraße. Er kaufte sodann in der Tankstelle drei Dosen Bier. Sodann verstaute er die alkoholischen Getränke in einer Ledertasche, die fest am Fahrrad installiert ist. Er schob das Fahrrad wieder über die Bundesstraße. Als er auf diese Weise die gegenüberliegende Seite der Bundesstraße erreicht hatte, setzte er sich wiederum auf das Fahrrad und fuhr über öffentliche Straßen in Richtung der Wohnung von Frau Ö.. Hinter dem Kaufhaus Globus fuhr der Angeklagte über den Parkplatz des Kaufhauses und entsorgte dort an einem Abfallbehälter eine leere Bierdose, die sich bereits seit Tagen in der erwähnten Ledertasche befand. Dann setzte der Angeklagte seine Fahrt auf dem Fahrrad fort. Er hatte trotz Dunkelheit das Licht an seinem Fahrrad nicht eingeschaltet. Deshalb wurde er um 20.20 Uhr von Polizeibeamten auf dem Sieghütter Hauptweg angehalten. Eine dem Angeklagten um 21.00 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,95 o/oo."
Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Landgericht sodann folgendes aus:
"Der Angeklagte hat den äußeren Ablauf des Tatgeschehens vom 30. November 1997 glaubhaft eingeräumt. Er hat sich jedoch eingelassen, er habe sich noch fahrtüchtig gefühlt, als er am Abend des 30. November 1997 mit seinem Fahrrad von der Wohnung seiner Freundin zur Esso-Tankstelle hin und zurück gefahren sei. In diesem Punkt folgt die Kammer der Einlassung des Angeklagten nicht. Nach dem verlesenen Blutalkoholgutachten lag die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten am 30. November 1997 um 21.00 Uhr bei 1,95 o/oo. Ein Nachtrunk zwischen 20.20 Uhr und 21.00 Uhr scheidet aus. Aus der Höhe der Blutalkoholkonzentration schließt die Kammer, dass der Angeklagte zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr alkoholische Getränke in ganz erheblichem Umfang zu sich genommen hat. Nach der Überzeugung der Kammer ist der Angeklagte nach dem Genuß dieser Alkoholmenge nicht mehr davon ausgegangen, dass er noch in der Lage sei, sein Fahrrad sicher zu führen. Andererseits war der Angeklagte trinkgewohnt. Es kann deshalb ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte seine Fahruntüchtigkeit alkoholbedingt nicht erkannt hat."
Bei der Auflistung der Vorstrafen hat das Landgericht Siegen die dem Urteil des Amtsgerichts Siegen vom 5. November 1997 zugrunde liegenden Feststellungen wiedergegeben. Danach hat der Angeklagte am 12. Juli 1997 mit seinem Fahrrad öffentliche Straßen befahren, obwohl seine Blutalkoholkonzentration 2,87 0/00 betrug. Er ist deshalb wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden.
Gegen das Urteil des Landgerichts Siegen vom 12. Juni 1998 richtet sich die frist- und formgerecht eingereichte Revision des Angeklagten, mit der dieser die Verletzung materiellen Rechts rügt. Er macht insbesondere geltend, das Landgericht sei rechtsfehlerhaft von einer vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt ausgegangen.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Die Urteilsgründe tragen nicht den Schuldspruch wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr. Das Landgericht stützt seine Annahme, der Angeklagte habe hinsichtlich seiner absoluten Fahruntüchtigkeit vorsätzlich gehandelt, offensichtlich auf die bei diesem festgestellte Blutalkoholkonzentration von 1,95 o/oo. Bei einer hohen Blutalkoholkonzentration treten zwar häufig Ausfallerscheinungen auf, die eine Kenntnis des Fahrers eines Fahrzeuges von seiner Fahruntüchtigkeit nahelegen. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass bei fortschreitender Trunkenheit das kritische Bewußtsein und die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung abnimmt, das subjektive Leistungsgefühl des Alkoholisierten aber gerade infolge der Alkoholeinwirkung häufig gesteigert wird mit der Folge, dass der Fahrer seine Fahruntüchtigkeit falsch einschätzt (BGH NZV 1991, 117). Eine hohe Blutalkoholkonzentration kann daher lediglich als ein Indiz für ein vorsätzliches Fahren im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit angesehen werden, rechtfertigt für sich allein aber nicht den Schluss, dass bei dem Täter hinsichtlich seiner Fahruntüchtigkeit Vorsatz vorgelegen hat. Die Annahme von Vorsatz bedarf daher auch bei hohen Blutalkoholwerten einer sorgfältigen Prüfung und Begründung (vgl. Jagusch-Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 34. Aufl., § 316 RZiff. 24 m.w.N). Auch die Tatsache, dass der Angeklagte bereits einmal wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr verurteilt worden ist, kann nicht als weiteres Indiz dafür herangezogen werden, dem Angeklagten sei seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit bekanntgewesen. Zwar können einschlägige Vorstrafen als Anzeichen für ein vorsätzliches Handeln gewertet werden (vgl. Jagusch-Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 34. Aufl., § 316 RZiff. 24 m.w.N.). Sie belegen zumindest das potentielle Wissen des Täters um die Gefahren des Alkohols und sollten den Fahrer aufgrund der Vorverurteilung bereits sensibilisiert haben, welche Trinkmengen er nicht überschreiten darf (vgl. Salger, DRZ 1993, S. 311, 313). Das gilt jedoch nur dann, wenn der der früheren Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt in einem Mindestmaß mit dem aktuell zu beurteilenden vergleichbar ist. Nur in diesem Fall ist es denkbar, dass der Täter aus seiner früheren Bestrafung und dem darin liegenden Hinweis auf seine derzeitige Fahruntüchtigkeit vor der erneuten Trunkenheitsfahrt entsprechende Schlüsse gezogen hat, die den Vorwurf vorsätzlichen Handelns rechtfertigen. Es ist deshalb unerlässlich, dass der einer einschlägigen Vorverurteilung zugrundeliegende Sachverhalt, aus dem auf die vorsätzliche Tatbegehung geschlossen werden soll, in den Urteilsgründen mitgeteilt wird. Vor allen Dingen bedarf es aber verwertbarer Feststellungen zu der aktuell zur Aburteilung stehenden Tat, ohne die die gebotene Würdigung des Einzelfalls für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar ist. Insoweit bieten sich dort, wo sie möglich sind, Darlegungen zu Trinkanlaß, Trinkverlauf - insbesondere Art und Menge des genossenen Alkohols und Trinkdauer -, Fahrtanlaß, Fahrtverlauf und Nachtatverhalten an. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang nur festgestellt, dass der Angeklagte zwischen und 16.00 Uhr und 20.00 Uhr Bier und Wein in erheblichen Mengen zu sich genommen hat. Darüber hinaus fehlen Feststellungen dazu, in welchem Maß der Alkohlkonsum Auswirkungen auf den allgemeinen körperlichen Zustand des Angeklagten hatte. Insofern hätte es nahegelegen, die Polizeibeamten zu vernehmen, die den Angeklagten aufgegriffen haben. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten bei der Vorverurteilung 2,87 o/oo betrug und er in starken Schlangenlinien fuhr, erscheint der dem Angeklagten nunmehr zur Last gelegte Sachverhalt nicht vergleichbar, so dass auch aus der Vorverurteilung nicht ohne weiteres auf vorsätzliches Handeln des Angeklagten geschlossen werden kann.
Als rechtsfehlerhaft zu beanstanden ist auch, dass das angefochtene Urteil nicht erkennen lässt, ob das Gericht sich mit der Möglichkeit einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten in Sinne des § 21 StGB bei der Begehung der Taten infolge des von dem Angeklagten genossenen Alkohols befaßt hat, obwohl zu einer solchen Überprüfung aufgrund der beim Angeklagten gemessenen hohen Blutalkoholkonzentration Anlass bestand. Zwar ist unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95 - von einer verminderten Steuerungsfähigkeit nicht mehr automatisch bereits dann auszugehen, wenn der Täter zur Tatzeit einen Blutalkoholgehalt von 2,0 0/00 und mehr aufgewiesen hat. Zu berücksichtigen sind vielmehr neben der Blutalkoholkonzentration auch alle sonstigen im jeweiligen Einzelfall feststellbaren Beweisanzeichen, die für oder gegen eine alkoholbedingte verminderte Schuldfähigkeit sprechen. Ob das Landgericht unter Berücksichtigung dieser Grundsätze im Ergebnis zu Recht von einer unverminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist, lässt sich aber anhand der Urteilsgründe nicht überprüfen.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO an das Landgericht zurückzuverweisen.
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