Aktenzeichen: 1 Ss 604/2000 u. 1 Ws 173/2000 OLG Hamm
Leitsatz:
Senat: 1
Gegenstand: Revision, Beschwerde
Stichworte: Pflichtverteidigerbeiordnung wegen Schwierigkeit der Sachlage, Ausländer, Verfahrenshindernis, Verbrauch der Strafklage
Normen: StPO 140, StPO 206, StPO 264
Beschluss: Strafsache gegen I.S.,
wegen Diebstahls
Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen die Zurückweisung seines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 2. großen Jugendkammer des Landgerichts Siegen vom 9. März 2000 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 18.07.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nach Anhörung des Angeklagten bzw. seines Verteidigers einstimmig beschlossen:
Die Revision wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten der Rechtsmittel fallen dem Angeklagten zur Last.
Gründe :
Der Angeklagte ist in dem gesonderten Verfahren 4 Cs 48 Js 362/99 (686/99) AG Kamen durch Strafbefehl vom 13. September 1999 wegen wiederholter Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung nach § 56 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,- DM verurteilt worden. Dem Strafbefehl liegt der Vorwurf zugrunde, der Angeklagte, dessen Aufenthaltsgestattung räumlich auf das Gebiet des Regierungsbezirks Arnsberg beschränkt sei, habe sich am 18. März 1999 in Bad Berleburg aufgehalten. Bei Erlass des Strafbefehls ist verkannt worden, dass Bad Berleburg im Regierungsbezirk Arnsberg liegt.
Im vorliegenden Verfahren ist der Angeklagte durch Urteil des Amtsgerichts Bad Berleburg vom 10. September 1999 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt worden. Dabei hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
"Am 18. März 1999 verabredeten sich die Angeklagten, mit E. über Land zu fahren. Die Angeklagten geben an, dass man auf "Jobsuche" gewesen sei. In jedem Fall nutzten sie diese Gelegenheit, um an vier verschiedenen Stellen aus Aldi-Märkten Zigaretten zu entwenden. Gefunden wurden in dem PKW E. Schließlich 4400 Zigaretten. Die Angeklagten wissen lediglich, dass man aus Aldi-Märkten Waren stahl, sie können aber nicht mehr die Orte benennen, was nur den Schluss zulässt, dass eine gezielte Jobsuche nicht Sinn der Reise gewesen sein kann.
In Bad Berleburg im Aldi-Markt wurden sie von der Zeugin H.M. beobachtet. Diese sah nämlich, dass 2 Stangen Zigaretten in einer Jacke verschwunden waren. Man sprach nun einen von den Tätern an, welcher, war nicht zu ermitteln, was zur Folge hatte, dass alle vier Täter flüchteten. Da sich die Zeugin M. in den Weg gestellt hatte, musste sie zur Seite gedrängt werden. Die Zeugin M. kam aber nicht zu Fall und verletzte sich auch nicht.
Die Angeklagten warfen ihre Beute bei der Flucht weg. Sie warfen auch Waren, die sie bei der Fa. Aldi gekauft hatten, weg. Alle Angeklagten besaßen Handy's. Der PKW E. war unweit vom Aldi-Markt allerdings so geparkt, dass er nicht auf dem zugeordneten Parkplatz stand. D. konnte nicht von der Zeugin M. in Erndtebrück erkannt werden, sondern flüchtete zu Fuß die Bundesstraße entlang. Er wurde viele Kilometer weiter im Ort Lützel an der B 62 aufgegriffen."
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte rechtzeitig Berufung eingelegt.
In der Berufungshauptverhandlung vom 9. März 2000 hat der Vorsitzende den Antrag des Verteidigers des Angeklagten, Rechtsanwalt G. in Dortmund, auf Bestellung als Pflichtverteidiger mit der Begründung zurückgewiesen, ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO sei nicht gegeben. Während die Sach- und Rechtslage überschaubar sei, begründe auch die Höhe der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe nicht die Notwendigkeit einer Beiordnung.
Darüber hinaus beantragte der Verteidiger des Angeklagten, das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, da das Verfahrenshindernis der doppelten Bestrafung bestehe. Zur Begründung hat er ausgeführt, hinsichtlich des Verstoßes gegen das Asylverfahrensgesetz und des Diebstahls liege eine Tat im prozessualen Sinne vor. Diese Tat sei bereits durch das Amtsgericht Kamen rechtskräftig abgeurteilt, so dass ein Verfahrenshindernis bestehe.
Mit Urteil vom selben Tag hat die Kammer die Berufung des Angeklagten verworfen und hinsichtlich des Sachverhalts auf die Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils verwiesen. Die Einstellung des Verfahrens hat das Landgericht abgelehnt, da ein Verfahrenshindernis nicht bestehe. Zur Begründung ist ausgeführt, dass eine Tat im prozessualen Sinne dann nicht vorliege, wenn ein strafrechtlich unbedenkliches Geschehen zu einer (falschen) Verurteilung führe, obwohl es bereits an einem Anfangsverdacht gefehlt habe.
Mit Schriftsatz vom 13. März 2000, eingegangen beim Landgericht Siegen am 14. März 2000, hat der Angeklagte gegen das Urteil der Kammer Revision und gegen den Nichtbeiordnungsbeschluss vom selben Tage Beschwerde eingelegt. Nach Zustellung des angefochtenen Urteils am 24. März 2000 hat der Verteidiger des Angeklagten die Revision mit Schriftsatz vom 28. März 2000, eingegangen beim Landgericht Siegen am 3. April 2000, begründet. Es wird mit näherer Begründung eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. § 260 Abs. 3 StPO gerügt. Der Vorsitzende hat der Beschwerde des Angeklagten gegen den Nichtbeiordnungsbeschluss mit Beschluss vom 20. März 2000 nicht abgeholfen.
Die Beschwerde gegen den Nichtbeiordnungsbeschluss ist zulässig, sie ist insbesondere nicht nach § 305 S. 1 StPO ausgeschlossen (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 141 Rdnr. 10 m.w.N.). Sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Das Landgericht Siegen hat mit zutreffender Begründung die Beiordnung von Rechtsanwalt G. als Pflichtverteidiger abgelehnt, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO nicht gegeben ist. Allein die Tatsache, dass hier die Frage des Strafklageverbrauchs durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Kamen vom 13. September 1999 streitig war, führt nicht zu einer anderen Beurteilung, da das Vorliegen von Verfahrenshindernissen bereits von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Auch der Umstand, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Ausländer handelt, führt nicht zur Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung, da vorliegend die allein bestehenden sprachlichen Probleme durch die Bestellung eines Dolmetschers beseitigt werden können. Nach alledem war die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Die Revision ist rechtzeitig eingelegt sowie form- und fristgerecht begründet worden. Sie ist jedoch unbegründet, da ein zur Verfahrenseinstellung nach § 260 Abs. 3 StPO führendes Verfahrenshindernis nicht vorliegt.
Die Verurteilung des Angeklagten durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Kamen vom 13. September 1999 könnte ohnehin lediglich die Strafklage hinsichtlich des letzten, in Erndtebrück, am 18. März 1999 begangenen Diebstahls verbrauchen, da die Orte, an denen die anderen drei, zu diesem Diebstahl in Realkonkurrenz stehenden, Taten begangen worden sind, nicht festgestellt worden sind, so dass insoweit nicht von einem Zusammentreffen eines Verstoßes gegen das Asylverfahrensgesetz und der Diebstahlstaten ausgegangen werden kann. Aber auch bezüglich dieser Tat ist kein Strafklageverbrauch eingetreten.
Es kann dahingestellt bleiben, ob sich bei formaler Betrachtung der Strafbefehl überhaupt auf den Aufenthalt an dem Ort, an dem der letzte Diebstahl, bei welchem der Angeklagte entdeckt worden ist, bezieht. Der Strafbefehl legt dem Angeklagten nämlich einen Aufenthalt in Bad Berleburg zur Last, der Diebstahl wurde jedoch in Erndtebrück begangen. Selbst wenn man diese Frage bejaht, hat der Strafbefehl aber die Strafklage hinsichtlich dieses Diebstahls nicht verbraucht. Die Aburteilung wegen eines Dauerdelikts (hier: Verstoß gegen eine Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz) führt in der Regel nicht zu einem Strafklageverbrauch hinsichtlich anderer, tatmehrheitlich innerhalb des Dauerdeliktzeitraums begangener Straftaten (hier: eines Diebstahls) (OLG Hamburg, NStZ-RR 1999, 247).
Ein Verbrauch der Strafklage tritt ein, wenn das Verfahren wegen der Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist, vollständig abgeschlossen ist (BGHSt 28, 119, 121). Voraussetzung ist also, dass es sich bei dem Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz und dem Diebstahl um eine prozessuale Tat handelt. Dies ist vorliegend indes nicht der Fall.
Bei dem dem Angeklagten zur Last gelegten Verstoß nach dem Asylverfahrensgesetz und dem Diebstahl handelt es sich materiell-rechtlich um zwei selbständige Handlungen i.S.v. § 53 StGB, da sich den Urteilsfeststellungen nicht entnehmen lässt, der Angeklagte sei aufgrund eines einheitlich gefassten Tatentschlusses unter dem angenommenen Verstoß gegen seine Aufenthaltsbeschränkung nach Erndtebrück gefahren, um hier einen Diebstahl zu begehen. Zwar kann unter besonderen Umständen auch trotz materieller Tatmehrheit eine prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO gegeben sein. Voraussetzung dafür ist aber, dass die einzelnen Handlungen unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges erscheinen würde (BGH, NJW 1981, 997 m.w.N.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 264 Rdnr. 2). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es besteht keine über einen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang hinausgehende innere Verknüpfung zwischen dem dem Angeklagten zur Last gelegten Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung und dem von ihm begangenen Diebstahl. Die Begehung des Diebstahls ergibt sich nicht gleichsam zwangsläufig aus dem Verstoß gegen die örtliche Aufenthaltsbeschränkung und ist nicht durch diese bedingt. Der Angeklagte hat den Diebstahl lediglich bei Gelegenheit seines Aufenthaltes in Erndtebrück begangen.
Auch der Umstand, dass es sich bei dem abgeurteilten Verstoß gegen die örtliche Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz um ein sogenanntes Dauerdelikt handelt, in dessen Verlauf der Diebstahl begangen wurde, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auch bei Straftaten, die während eines Dauerdeliktes begangen werden, ist bei fehlender innerer Verknüpfung nicht von einer Tat im verfahrensrechtlichen Sinne auszugehen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Dauerdelikt selbst ein unverzichtbares Element zur Ausführung einer anderen, im Dauerdeliktzeitraum begangenen Straftat ist (BGH StV 1996, 472). Wie bereits ausgeführt, liegt diese Konstellation hier aber nicht vor. Darüber hinaus ist anerkannt, dass derjenige, der während eines Dauerdelikts aufgrund eines neu gefassten Willensentschlusses andere, neue Rechtsgüter verletzt, wegen dieser neuen Tat in der Regel gesondert zu bestrafen ist, wenn das neue Verhalten schwerer wiegt als die Rechtsgutverletzung durch das Dauerdelikt (BGHSt 36, 151 (154); Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 264 Rdnr. 6 a).
Vor diesem Hintergrund kommt im vorliegenden Fall die Annahme eines Strafklageverbrauchs hinsichtlich des mit einer wesentlich höheren Strafandrohung bewehrten Diebstahls (Höchststrafe 5 Jahre) durch den abgeurteilten Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz (Höchststrafe 1 Jahr) mangels einer über die örtliche und zeitliche Überschneidung hinausgehende innere Verknüpfung der beiden Delikte nicht in Betracht.
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die Entscheidung des OLG Stuttgart in NStZ-RR 1996, 173, da diese Entscheidung eine andere Fallkonstellation betrifft. Das Oberlandesgericht Stuttgart geht in seiner Entscheidung davon aus, dass jede (andere) Straftat eines Asylbewerbers außerhalb des Geltungsbereichs seiner räumlichen Aufenthaltsbeschränkung denknotwendig zugleich einen Verstoß gegen die Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes voraussetzt. Daraus ergibt sich indes nicht, dass umgekehrt auch das Dauerdelikt des Verstoßes gegen die Aufenthaltsbeschränkung zwangsläufig nur bei Begehung einer zeitlich und örtlich damit zusammenhängenden anderen Straftat begangen werden kann.
Auch die Überprüfung des Urteils auf die mit der Rüge des Vorliegens von Prozesshindernissen zugleich erhobenen Sachrüge hin lässt Fehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Die Revision war daher mit der sich aus § 473 StPO ergebenden Kostenfolge als unbegründet zu verwerfen.
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