Aktenzeichen: 1 Vollz (Ws) 98/2000 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Überprüfung einer Entscheidung, mit der der Antrag eines Verurteilten, der wegen eines Sexualdelikts einsitzt, auf Verlegung in den offenen Vollzug und auf Urlaub abgelehnt worden ist.
Senat: 1
Gegenstand: Strafvollzugssache
Stichworte: Verlegung in den offen Vollzug, Urlaub, Gefahr neuer Straffälligkeit, Sexualtäter, Sexualdelikt, Sachverständigengutachten
Normen: StVollzG 13 Abs. 1, StVollzG 11 Abs. 2, StVollzG 10
Beschluss: Strafvollzugssache betreffend den Strafgefangenen R.J.,
wegen Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Justizvollzugsbehörden,(hier: Antrag auf Verlegung in den offenen Vollzug und Bewilligung von Urlaub).
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vom 18.07.2000 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vom 13.06.2000 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 08.08.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung des Präsidenten des Justizvollzugsamtes Westfalen-Lippe beschlossen:
1. Die angefochtene Entscheidung wird mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes aufgehoben.
2. Der Bescheid der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Schwerte vom 17.12.1999 in der Form des Widerspruchsbescheids des Präsidenten des Justizvollzugsamtes Westfalen-Lippe vom 29.02.2000 wird aufgehoben. Die Vollzugsbehörde wird angewiesen, den Gefangenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Landeskasse.
G r ü n d e :
Der 55 Jahre alte Gefangene wurde am 22.10.1997 vom Landgericht Essen wegen Bestechlichkeit in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung (als Polizeibeamter) in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. 2/3 der Strafe werden am 10.03.2001 verbüßt sein; Strafende ist auf den 10.07.2002 notiert.
Der Gefangene hatte sich selbst am 15.02.1999 zur Verbüßung der Strafe gestellt. Er durchlief ab dem 17.02.1999 in der Justizvollzugsanstalt Hagen ein Einweisungsverfahren. Dieses endete mit folgender Einweisungsentschließung:
"Herr R.J., geb. am 07.02.1945 in Gladbeck, wird in die JVA Schwerte eingewiesen.
Herr J. ist zusammen mit 2 erheblich älteren Brüdern im Haushalt der Mutter aufgewachsen. Die Eltern hatten sich scheiden lassen, als Herr J. noch ein Kleinkind war. Herr J. hat nach dem Besuch der Volksschule eine Ausbildung als Tischler erfolgreich absolviert. Nach eigenen Angaben hat er neben der Berufsausbildung eine Abendschule besucht. 1963 ist Herr J. zur Polizei gewechselt, wo er 1967 Beamter auf Lebenszeit wurde. Nach Bekannt werden der Straftaten, die seiner jetzigen Inhaftierung zugrunde liegen, ist Herr J. im Dezember '95 vom Dienst suspendiert worden. Durch die Verurteilung ist seine berufliche Karriere im öffentlichen Dienst beendet worden. Nach Rechtskraft des Urteils hat Herr J., dem dann keine Bezüge mehr zustanden, im Baubetrieb eines Bekannten gearbeitet.
Herr J. ist seit 1969 verheiratet. Da die Ehe kinderlos blieb, haben die Eheleute 1982 2 Schwestern adoptiert, die 1973 bzw. 1975 geboren sind. Herr J. nennt seine Ehefrau sowie die beiden Adoptivtöchter als engste Bezugspersonen.
Herr J. gilt als nicht vorbestraft. Gegen ihn war jedoch im Jahre 1990 ein Ermittlungsverfahren wegen uneidlicher Falschaussage anhängig, das nach seinen Angaben nach Zahlen einer Geldbuße in Höhe zwischen 2.500,-- und 2.800,-- DM eingestellt worden ist. Aus disziplinarrechtlichen Gründen ist er wegen der Vorkommnisse, die diesem Verfahren zugrunde lagen, zeitweise in eine andere Dienststelle versetzt worden. Wie dem jetzigem Verfahren lagen auch dem damaligen sexuelle Beziehungen zu einer Frau zugrunde, die ihm im dienstlichen Zusammenhang bekannt geworden war. Herr J. hat jetzt eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren wegen Bestechlichkeit in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung in 9 Fällen zu verbüßen. Opfer des sexuellen Missbrauchs war eine drogenabhängige, an Aids erkrankte Frau, mit der Herr J. bereits zwischen 1987 und Frühjahr '89 immer wieder dienstlich zu tun hatte, weil die Frau durch Beschaffungskriminalität in Erscheinung getreten ist. Nachdem die Frau zwischen März '89 und August '95 eine Haftstrafe verbüßt hatte, hat Herr J. alle Ermittlungen gegen sie wieder an sich gezogen und hat wiederum mit Versprechungen und Drohungen sexuelle Kontakte zu der Frau aufgenommen, wobei sadistische Elemente, Beleidigungen, Erniedrigungen, Gewalttätigkeiten eine wesentliche Rolle gespielt haben. Am 13.12.95 ist Herr J. in flagranti in der Wohnung des Opfers von seinen Kollegen überrascht worden.
Herr J. befindet sich jetzt zum ersten Mal in Strafhaft. Er hat sich am 15.02.99 zum Strafantritt im offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne selbst gestellt. Dort hat man wegen Unklarheiten in der diagnostischen Ausgangssituation, in Anbetracht der Besonderheiten in dem aktenkundigen Fehlverhalten des Herrn J. und im Hinblick darauf, dass Herr J. dieses Fehlverhalten nicht einräumt, eine weitergehende Diagnostik im Rahmen des hiesigen Einweisungsverfahrens und eine Verlegung in den geschlossenen Vollzug in Anbetracht des nicht ausschließbaren Rückfallrisikos für erforderlich gehalten. Insbesondere sollte im hiesigen Einweisungsverfahren versucht werden, Herrn J. dazu zu bewegen, sein aktenkundiges sexuelles Fehlverhalten zumindest insoweit einzuräumen, dass es diagnostisch klarer und einer therapeutischen Behandlung zugänglich werden kann.
Die hier diesbezüglich unternommenen diagnostischen Bemühungen sind grundsätzlich erfolglos geblieben, da Herr J. jegliches strafrechtlich relevante Fehlverhalten konsequent bestreitet. Die aus den Darstellungen im Urteil ersichtlichen Auffälligkeiten im sexuellen Fehlverhalten des Herrn J., in der Art seiner Beziehung zu dem Opfer und anderen ungewöhnlichen Kontakten zu Frauen, die durch seine dienstliche Tätigkeit entstanden sind, sowie in der von 2 Fachärzten festgestellten funktionalen Störung, die keine organische sondern psychische Ursachen hat, und die sich offenbar nur in der ehelichen Beziehung bemerkbar gemacht hat, ist ein Bündel an Problemen und Abweichungen in der Persönlichkeit des Herrn J. zu erkennen, das dringend einer therapeutischen Bearbeitung bedürfte, wenn das Risiko weiterer sexueller Auffälligkeiten mit strafrechtlicher Relevanz grundlegend verringert werden soll. Da Herr J. bisher keinen diagnostischen Zugang ermöglicht und jegliches Therapieerfordernis negiert, ist die für eine Verlegung in den offenen Vollzug, für Vollzugslockerungen und Beurlaubungen erforderliche diagnostische Klarheit und Zuverlässigkeit in der Risikoeinschätzung genauso wenig vorhanden wie die Möglichkeit, eine für Sexualstraftäter vorgesehene Behandlungsmöglichkeit zu empfehlen.
Maßnahmen der beruflichen Bildung kommen bei Herrn J., der einen erlernten Beruf hat, aus Altersgründen nicht in Betracht."
Mit Schreiben vom 14.12.1999 beantragte der Gefangene die Verlegung in den offenen Vollzug und bat um die Gewährung von Urlaub für die Zeit vom 23. bis 27.12.1999.
Diese Anträge lehnte die Leiterin der Justizvollzugsanstalt Schwerte mit Schreiben vom 17.12.1999 ab. Sie stützte den ablehnenden Bescheid im Wesentlichen auf das Missbrauchsrisiko, welches sich aus der Einweisungsverfügung ergebe. Den rechtzeitig erhobenen Widerspruch des Gefangenen wies der Präsident des Justizvollzugsamtes Westfalen-Lippe mit Bescheid vom 29.02.2000 als unbegründet zurück. Auch er bezog sich im Wesentlichen auf die Einweisungsverfügung und führte weiter aus, dass sich an der dort getroffenen Risikoeinschätzung nichts geändert habe. Nach Auskunft des Psychologischen Dienstes der JVA Schwerte sei auch in der jüngeren Zeit kein therapeutischer Zugang zum Gefangenen möglich gewesen. Diesbezügliche Bemühungen der in der JVA Schwerte tätigen Fachkräfte seien ohne Reaktion geblieben. Den hiergegen gerichteten Antrag des Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer als unbegründet zurückgewiesen. Sie ist der Einschätzung der Vollzugsbehörden gefolgt und hat zur Begründung im Wesentlichen folgendes ausgeführt:
"Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keinen Erfolg.
Wie das Urteil des Landgerichts Essen ergibt, ist der Gefangene, der Kriminaloberkommissar war, zwar wegen seiner dienstlichen Verfehlungen, dabei wegen seines (im Dienst begangenen) sexuellen Fehlverhaltens verurteilt und bestraft worden, wobei seine, dieses Fehlverhalten bestimmenden sexuell funktionalen Störungen (partielle Anorgasmie) nicht durch organische Beeinträchtigungen bestimmt waren, sondern psychische Ursachen haben.
Bei seiner im Vollzug fortwährend gezeigten Unzugänglichkeit bezüglich der gesprächsweisen Erarbeitung seines offenkundig gewordenen Problems auf sexuellem Gebiet ist es nicht fernliegend, dass bei auch nur zeitweiliger Freiheit (Urlaub) oder bei Verbüßen unter verminderten bzw. fehlenden Vorkehrungen gegen ein Entweichen (offener Vollzug) es bei dem Gefangenen zu neuen sexuellen Fehlverhaltensweisen kommen kann, und zwar auch unabhängig von dem inzwischen nicht mehr bestehenden Dienstverhältnis.
Die Annahme durch die Leiterin der Justizvollzugsanstalt, dass eine Missbrauchsgefahr bestehe, die der Urlaubsgewährung sowohl, wie auch dem Bejahen des Vorliegens der besonderen Anforderungen für die Verlegung in den offenen Vollzug entgegenstehe, ist nicht zu beanstanden.
Die erfolgten Ablehnungen von Urlaubsgewährung und Verlegung in den offenen Vollzug sind, - was insoweit allein der gerichtlichen Überprüfung durch die Strafvollstreckungskammer unterliegt - weder ermessensfehlerhaft, noch ermessensmissbräuchlich."
Hiergegen hat der Gefangene in zulässiger Weise Rechtsbeschwerde eingelegt, die der Senat zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen hat. Die Rechtsbeschwerde hatte auch in der Sache Erfolg und führte zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie der Bescheide der Vollzugsbehörde und zur Verpflichtung der Behörde zu einer Neubescheidung.
Gemäß § 13 Abs. 1 i.V.m. § 11 Abs. 2 StVollzG kann einem Gefangenen Urlaub aus der Haft u.a. dann gewährt werden, wenn ein Missbrauch oder die Begehung von Straftaten nicht zu befürchten ist. Die gleichen Voraussetzungen sind gemäß § 10 Abs. 1 StVollzG dann zu prüfen, wenn zu beurteilen ist, ob der Gefangene in dem offenen Vollzug untergebracht werden kann. Bei dieser Beurteilung handelt es sich um eine Prognoseentscheidung. Damit wird der Vollzugsbehörde eine Einschätzungsprärogrative und ein Beurteilungsspielraum zuerkannt (vgl. hierzu BVerwGE 39, 197 ff.; 39, 355; BGHSt 30, 320). Dies bedeutet, dass mit Blick auf den Sachverstand und die Verantwortung der unmittelbar vor Ort tätigen Vollzugsbehörde ein vollständiges Letztentscheidungsrecht der Gerichte entfällt und die gerichtliche Überprüfung sich auf die Vertretbarkeit der behördlichen Entscheidung im Rahmen des Gesetzes beschränkt (vgl. OLG Hamm 1990 NStE Nr. 14 zu § 11). Das Gericht darf hier nur überprüfen, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt hat und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (vgl. BGHSt 30, 320).
Dies ist im vorliegenden Fall nicht festzustellen. Die Vollzugsbehörde hat ihre Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Gefangene, der seine Taten nach wie vor bestreitet, sich therapeutischen Maßnahmen gegenüber nicht geöffnet habe. Aus diesem Verhalten haben die in der JVA bislang mit dem Gefangenen befassten Psychologen den Schluss gezogen, dass das Risiko weiterer sexueller Auffälligkeiten strafrechtlicher Relevanz sich nicht verringert habe bzw. eine Risikoeinschätzung nicht möglich sei. Dieser Einschätzung hat sich sowohl die Leiterin der JVA Schwerte als auch der Präsident des Justizvollzugsamtes angeschlossen.
Dabei ist jedoch nach Überzeugung des Senats nicht genügend berücksichtigt worden, dass sich die bisherige Straffälligkeit des Verurteilten - auch soweit sie Sexualdelikte betraf - allein aus seiner Amtsstellung als Polizeibeamter und der damit verbundenen Machtposition ergab. Der Verurteilte hat die ihm sich aus dieser Stellung ergebende Machtposition genutzt, um Frauen zu sexuellen Handlungen mit ihm zu nötigen. In anderer Weise ist er bislang nicht auffällig geworden. Da er seine Dienststellung verloren hat, ist ihm die Möglichkeit, in dieser Weise delinquent zu werden, genommen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er nunmehr auf andere Nötigungsmöglichkeiten oder gar auf Gewaltdelikte ausweichen wird, sind weder ersichtlich noch in dem Gutachten hinreichend dargetan. Darüber hinaus ist zudem zu berücksichtigen, dass es um die Beurteilung der Rückfallgefährdung während der Dauer des offenen Vollzuges, bei dem die Lebensgestaltung des Gefangenen noch in erheblichem Maße reglementiert wird, und für die kurze Dauer eines jeweiligen Urlaubes zu beurteilen ist. Allein aus den bisherigen Straftaten des Gefangenen und dem Umstand, dass er diese nach wie vor ableugnet, kann die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit nicht ohne weiteres geschlossen werden. Dies bedarf vielmehr einer eingehenden psychiatrischen und psychologischen Begutachtung. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass es in der Zeit nach seiner Suspendierung im November 1995 bis zum Antritt der Haftstrafe am 15.02.1999 zu neuen Straftaten nicht gekommen ist. Während dieser Zeit befand sich der Verurteilte lediglich 7 Monate in Untersuchungshaft. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die bislang im Verfahren festgestellte "partielle Anorgasmie" bezüglich einer möglichen Sexualdelinquenz des Verurteilten nichts besagt. Hierbei handelt es sich vielmehr um eine - psychische - Erkrankung des Angeklagten, die ihm den Geschlechtsverkehr - nur - mit seiner Ehefrau unmöglich macht. Aus ihr folgt nicht ohne weiteres, dass er zu Sexualdelikten gegenüber anderen Personen neigt. Aus diesem Grunde waren sowohl die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer als auch die Bescheide der Vollzugsbehörden aufzuheben. Die Leiterin der JVA Schwerte wird daher die Anträge des Verurteilten - ggf. nach einer eingehenden Begutachtung des Gefangenen - erneut zu bescheiden haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 121 Abs. 1, Abs. 3 StVollzG, 467 StPO.
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