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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 BL 186/2000

Leitsatz: Haftsachen haben Vorrang vor Nichthaftsachen, selbst wenn dafür bereits terminierte Nichthaftsachen aufgehoben werden müssen.

Senat: 2

Gegenstand: Haftprüfung durch das OLG, BL 6

Stichworte: Haftprüfung, wichtiger Grund, Vorrang von Haftsachen bei der Terminierung

Normen: StPO 121

Beschluss: Strafsache gegen 1. K.H., 2. J.P., 3. M.S.
wegen Steuerhinterziehung (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten zur Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 19.10.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, der Angeklagten und ihrer Verteidiger beschlossen:

Die Haftbefehle des Amtsgerichts Recklinghausen vom 20. April 2000 (26 Gs 618/ und 619/00 und 622/00) werden aufgehoben.

Gründe:
I.
Die Angeklagten H. und P. befinden sich nach ihrer vorläufigen Festnahme am 19. April 2000 seit dem 20. April 2000 in Untersuchungshaft. Grundlage des Vollzugs der Untersuchungshaft ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 20. April 2000 (26 Gs 618 und 619/00). Der Angeklagte M.S. befindet sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 20. Mai 2000 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Recklinghausen vom 20. April 2000 (26 Gs 622/00) seit diesem Tag in Untersuchungshaft. Den Angeklagten H. und P. wird in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 20. April 2000 eine am 19. April 2000 begangene Steuerhinterziehung in der Form der Steuerhehlerei an unverzollt in die Bundesrepublik Deutschland eingeführten Zigaretten mit einem Steuerschaden von rund 220.000 DM zur Last gelegt. Diese Tat ist auch Gegenstand des den Angeklagten S. betreffenden Haftbefehls vom 20. April 2000. Ihm wird zusätzlich - ohne nähere Angaben - eine Vielzahl von weiteren Fällen der Steuerhehlerei zur Last gelegt. Bei allen drei Angeklagten ist - bei dem Angeklagten S. inzwischen nur noch - die Tat vom 19. April 2000 Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 8. August 2000. Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen des den Angeklagten im einzelnen zur Last gelegten Tatgeschehens, wird auf den Inhalt der genannten Haftbefehle vom 20. April 2000 und auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 8. August 2000 Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich angesehen und die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft Bochum und der Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß den §§ 121, 122 StPO vorgelegt.

II.
Die Haftbefehle des Amtsgerichts Recklinghausen vom 20. April 2000 waren aufzuheben. Die nach § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus erforderlichen Voraussetzungen sind nicht gegeben.
1.
Gegen die im wesentlichen geständigen Angeklagten besteht zwar "dringender Tatverdacht" im Sinn von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO hinsichtlich der ihnen zur Last gelegten Steuerhehlerei. In Anbetracht der Vorverurteilungen der Angeklagten dürfte auch Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO anzunehmen sein, da die Angeklagten mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen haben und der dadurch bestehende Fluchtanreiz nicht durch andere Umstände gemildert wird (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 112 Rn. 17; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 2. Aufl., 1999, Rn. 813).

2. Dies kann indes letztlich dahinstehen. Denn jedenfalls waren die Haftbefehle deshalb aufzuheben, weil das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.

Nach § 121 Abs. 1 StPO kommt - solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil vorliegt - die Fortdauer von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur dann in Betracht, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zugelassen haben. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv der sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebende Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten entgegenzuhalten ist und das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307; 53, 152, 158 f. mit weiteren Nachweisen). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu. Bei der insoweit erforderlichen Prüfung des Verfahrens(fort)gangs sind die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO grundsätzlich auch eng auszulegen (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264, 271 mit weiteren Nachweisen; siehe auch BVerfG NJW 1980; 1448; 1992, 1749 f. = StV 1991, 565; vgl. die weiteren Rechtsprechungsnachweise bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 StPO Rn. 18 ff.; zu allem auch Burhoff StraFo 2000, 109, 114, 116). Die Fortdauer der Untersuchungshaft kommt danach u.a., dann nicht in Betracht, wenn ihre Dauer dadurch verursacht worden ist und wird, dass die Strafverfolgungsbehörden und oder Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen haben.

Vorliegend wird der nach den Akten festzustellende Verfahrensgang diesen von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen an die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens gegen inhaftierte Angeklagte nicht gerecht.

Die Sachbehandlung bei der Staatsanwaltschaft ist allerdings nicht zu beanstanden. Nach der vorläufigen Festnahme der Angeklagten am 19. April bzw. 20. Mai 2000 sind diese - zum Teil mehrfach - vernommen worden. Nach Durchführung von weiteren Durchsuchungen und Abwicklung von Haftbeschwerdeverfahren sind noch am 6. Juni und am 14. Juli 2000 weitere Zeugen vernommen worden. Nach Erteilung von mehreren Zwischenberichten hat die Steuerfahndung ihren Schlussbericht dann am 4. August 2000 vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft Bochum hat dann unverzüglich schon unter dem 4. August 2000 Anklage beim erweiterten Schöffengericht Bochum erhoben. Wann die Anklage dort eingegangen ist, lässt sich den dem Senat vorliegenden Akten nicht entnehmen. Die erste Verfügung des Amtsrichters datiert jedoch vom 16. August 2000.

Danach ist das Verfahren nicht mehr mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Zwar waren nach Eingang der Akten zunächst noch Akteneinsichtsgesuche der Verteidiger der insgesamt sechs Angeklagten, von denen sich nur drei in Untersuchungshaft befinden, abzuwickeln. Auch war über die Abtrennung des Verfahrens gegen ein sich in Bulgarien aufhaltenden siebten Angeklagten zu entscheiden, bevor dann am 25. September 2000 das Hauptverfahren gegen die verbliebenen sechs Angeklagten eröffnet werden konnte. Die vom Amtsgericht vorgenommene Terminierung des Beginns der Hauptverhandlung auf den 30. November 2000 ist jedoch mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und dem sich daraus für Haftsachen ergebenden besonderen Beschleunigungsgebot nicht vereinbar.

Das Amtsgericht hat diesen (späten) Beginn der Hauptverhandlung damit begründet, dass im Oktober und November 2000 mehrere Mehrtagessachen verhandelt werden, in denen die Hauptverhandlungstermine mit den jeweiligen Verteidigern abgesprochen worden seien. Dabei handelt es sich, wie eine Anfrage des Senats ergeben hat, um die Verfahren 30 b LS AK 4/00 - Hauptverhandlungstermin am 19., 24. und 31. Oktober 2000, 30 b Ls AK 34/00 - Hauptverhandlungstermin 26. Oktober und 2. November 2000, 30 b Ls AK 39/00 - Hauptverhandlungstermin 9. und 16. November 2000 und um das Verfahren 30 b Ls AK 30/00 - Hauptverhandlungstermin 10. und 17. Oktober 2000. Bei keinem dieser Verfahren befinden sich die Angeklagten in Untersuchungshaft.

Dies ist nicht ausreichend, um einen wichtigen Grund im Sinn von § 121 Abs. 1 StPO, der ausnahmsweise eine länger als sechs Monate dauernde Untersuchungshaft rechtfertigen würde, anzunehmen. Die Belastung eines Gerichts kann nach allgemeiner Meinung allenfalls dann als wichtiger Grund im Sinn von § 121 Abs. 1 StPO angesehen werden, wenn ihr trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Maßnahmen nicht begegnet werden kann (BVerfGE 36, 264; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 22 mit weiteren Nachweisen). Das hat zur Folge, dass Haftsachen in der Regel den Vorrang vor anderen Strafsachen haben und es geboten ist, dass das Gericht bereits bei Eingang der Anklageschrift Überlegungen anstellt, zu welchem Termin - nach voraussichtlicher Eröffnung des Hauptverfahrens - die Haftsache verhandelt werden kann. Nach allgemeiner Meinung müssen sonstige Strafsachen hinter Haftsachen zurückstehen (OLG Karlsruhe Justiz 1986, 28 f. mit weiteren Nachweisen; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 122 Rn. 25 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Das hat nach Auffassung des Senats weiter zur Folge, dass ggf. bereits angesetzte Termine in Nichtshaftsachen aufgehoben werden müssen, um die vorrangige Haftsache zu verhandeln (so auch OLG Karlsruhe, a.a.O.; ähnlich OLG Düsseldorf StV 1988, 390; OLG Köln NJW 1973, 912). Ggf. sind, wenn die ordentlichen Sitzungstage nicht ausreichen, außerordentliche Terminstage einzuschieben, wozu vorliegend bei neun Hauptverhandlungstagen in zwei Monaten nach Ansicht des Senats genügend Möglichkeiten bestanden hätten. Jedenfalls ist es im Hinblick auf den Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten nicht hinnehmbar, wenn Haft- und Nichthaftsachen der gleiche Rang zugebilligt wird. Das ist vorliegend aber geschehen, da anderenfalls in Anbetracht der mitgeteilten Termine und des weiteren Umstandes, dass in der Zeit vom 16. bis zum 30. November 2000 offenbar überhaupt keine Hauptverhandlungen stattfinden, nicht nachvollziehbar ist, dass es in dem Zeitraum vom 16. August 2000 - spätester Eingang der Akte - bis zum beabsichtigten Hauptverhandlungsbeginn am 30. November 2000 nicht möglich gewesen sein soll, einen früheren Hauptverhandlungstermin für diese vorrangige Haftsache anzusetzen.

Unter diesen Umständen kann nach allem ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer im Sinn des § 121 Abs. 1 StPO nicht bejaht werden. Das gilt auch hinsichtlich des Angeklagten S. bereits jetzt. Zwar befindet sich dieser erst seit dem 20. Mai 2000 in Untersuchungshaft. Aus dem vorstehenden folgt jedoch, dass ein früherer Hauptverhandlungstermin erforderlich und nach Auffassung des Senats auch möglich gewesen wäre. Damit ist aber auch hinsichtlich des Angeklagten S. bereits jetzt der Beschleunigungsgrundsatz verletzt und somit auch der gegen ihn bestehende Haftbefehl aufzuheben. Das Verfahren mit inhaftiertenAngeklagten ist von Anfang an und nicht erst nach Ablauf von sechsmonatiger Untersuchungshaft besonders beschleunigt zu betreiben.


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