aus VRR 2010, 52
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "VRR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "VRR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Wir haben in VRR 2009, 451 in einer ersten VRR-Arbeitshilfe über die Rechtsprechung zum Fahrverbot aus den Jahren 2007 - 2009 zu allgemeinen Fragen, zur Beharrlichkeit und zum Zeitablauf berichtet. Der nachfolgende Beitrag enthält nun die Rechtsprechung zum sog. Augenblicksversagen.
Die Anordnung eines Fahrverbotes nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG kommt in der Regel in Betracht, wenn der Betroffene einen der in § 2 Abs. 1 BKatV beschriebenen Tatbeständen verwirklicht hat. Bei den dort beschriebenen sog. Katalogtaten handelt es sich nämlich um Regelbeispiele, deren Verwirklichung das Vorliegen einer Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers indiziert (BGHSt 38, 125 = NJW 1992, 446), da die aufgeführten Tatbestände - insbesondere eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder ein Rotlichtverstoß - regelmäßig sowohl objektiv als auch subjektiv grobe Pflichtverletzungen darstellen. Die Verhängung eines Fahrverbotes ist damit in diesen Fällen i.d.R. gerechtfertigt. Nach dem grundlegenden Beschluss des BGH vom 11. 9. 1997 (BGHSt 43, 241 = NZV 1997, 525 = DAR 97, 450) kommt ein Fahrverbot aber auch in diesen Fällen dann nicht in Betracht, wenn die vom Betroffenen begangene Ordnungswidrigkeit lediglich auf leichter Fahrlässigkeit beruht. Fehle es nämlich subjektiv an einer besonders verantwortungslosen Verhaltensweise des Betroffenen, bedürfe es so der BGH - des Fahrverbots zur Einwirkung auf diesen nicht. Um die damit zusammenhängenden Fragen hat sich in der Folgezeit unter dem Stichwort des sog. "Augenblicksversagens" eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt. Diese stellt im Wesentlichen die nachfolgende Arbeitshilfe vor, wobei es sich im Wesentlichen um Rechtsprechung zur Geschwindigkeitsüberschreitung handelt (eingehend zum Augenblicksversagen Deutscher in. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl., 2009, Rn. 959 ff.).
Sachverhalt |
Gerichtliche Entscheidung:
Augenblicksversagen: |
Fundstellen |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts |
ja, aber nur, wenn der Fahrer das Ortseingangsschild übersehen hat und die geschlossene Ortschaft als solche nicht erkennen konnte Praxistipp: Ist dem Betroffenen die Einlassung, ein die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkendes Verkehrszeichen übersehen zu haben, nicht zu widerlegen, kann die Verhängung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers nicht allein darauf gestützt werden, dass das Verkehrszeichen beidseitig aufgestellt war (OLG Brandenburg, Beschl. v. 23. 7. 2009, 2 Ss(OWi) 87B/09). |
KG DAR 2001, 413; OLG Celle NZV 1998, 254; OLG Dresden VA 2005, 177 = NZV 2005, 490 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, nachts, Ortseingangsschild übersehen |
nein, wenn der Betroffene aufgrund der Art der Straßenbeleuchtung mit einer geschlossenen Ortschaft hätte rechnen müssen |
BayObLG NZV 1998, 212 |
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Übersehen der Anordnung einer Tempo 30-Zone und Befahren der Zone mit 69 km/h |
nein, da die innerorts an sich gültige Geschwindigkeit von 50 km/h deutlich überschritten wird |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, der Betroffene wohnt in der Nähe des Tatorts oder befährt die Strecke regelmäßig |
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OLG Köln NZV 1998, 164; OLG Hamm VA 2006, 138 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, die bei einer Geschwindigkeitsmessung grundsätzlich einzuhaltende Mindestentfernung von 200 m zu Beginn und Ende einer Geschwindigkeitsbeschränkung wird nicht eingehalten |
Grundsätzlich ja, aber nein, wenn die Mindestentfernung aus sachlichem Grund Gefährdung von Verkehrsteilnehmern durch Geschwindigkeitsüberschreitung im Messbereich) unterschritten wird |
OLG Köln VRS 96, 62 OLG Hamm DAR 2000, 580 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, die Aufstellung der Ortseingangsschilder entspricht nicht den Verwaltungsvorschriften |
ja |
BayObLG VRS 95, 130; OLG Düsseldorf VA 2002, 95 = NZV 2002, 409; AG Zossen zfs 2001, 234, wenn sich das die Geschwindigkeit begrenzende Schild nur auf einer Seite der Straße befand. |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, durch vorfahrtsregelnde Verkehrszeichen wird auf Kreuzungsbereich hingewiesen |
nein, mit Geschwindigkeitsbeschränkungen muss gerechnet werden |
BayObLG DAR 1999, 559 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts zur Nachtzeit in einem Bereich, der bereits am Tag den Eindruck der Außerörtlichkeit erweckt |
ja |
AG Meißen zfs 2003, 570 |
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Hausarzt überschreitet auf dem Weg zu einem Notfallpatienten die zulässige Höchstgeschwindigkeit |
Ggf. ja, entscheidend sind aber die Umstände des Einzelfalls Praxistipp: Zu den konkreten Umständen des Falls muss ggf. unter Beweisantritt vorgetragen werden. Das ist vor allem von Bedeutung, weil in der Rechtsprechung das Absehen vom Fahrverbot auch als gerechtfertigt angesehen wird, wenn der Betroffene als Arzt (nur) vom Vorliegen einer solchen Gefahrensituation ausgehen durfte (OLG Karlsruhe, a.a.O.). |
OLG Hamm VA 2002, 19; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 214; OLG Karlsruhe VA 2005, 15 = NJW 2005, 450 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 32 km, unmittelbar nach Fahrtbeginn; Fahrerin ist durch gerade Erlebtes emotional völlig derangiert |
nein |
OLG Koblenz 21. 6. 2002, 2040 Js 18396/02 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, auf dem Straßenpflaster befindet sich das Verkehrszeichen Vorsicht Kinder |
nein, da sich dem Betroffenen aufdrängen musste, dass er sich innerhalb einer Geschwindigkeitsbeschränkung befand |
AG Riesa DAR 2005, 109 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h außerorts, der Betroffene achtet aus Sorge um seine schwangere, aus seiner Sicht möglicherweise bereits in den Wehen liegende Ehefrau, nicht mit der gebotenen Sorgfalt auf die einzuhaltende Geschwindigkeit |
ja |
OLG Karlsruhe VA 2002, 78 = DAR 2002, 229 |
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Tempo-30-Zone, Verkehrsschild nur einmal aufgestellt, Strecke erstmalig befahren |
ja Praxistipp: Nach BayObLG (DAR 2000, 533) muss aber innerorts mit der Einrichtung von Tem-po-30-Zonen gerechnet werden. |
OLG Hamm NZV 1998, 334; OLG Köln VRS 97, 375; OLG Celle DAR 2003, 323 (Grund für die Geschwindigkeitsbeschränkung ist erkennbar weggefallen) |
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Tempo-30-Zone, zugleich mit oder unmittelbar hinter dem Ortseingangsschild |
ja |
OLG Hamm NStZ-RR 1999, 313; DAR 1999, 327 |
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Tempo-30-Zone ist dem Betroffenen bewusst, Verbreiterung der Straße |
nein, die Verbreiterung der Straße berechtigt nicht zur Annahme, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben ist. Das gilt auch, wenn der Betroffene abgelenkt war (Streit seiner Kinder im Pkw) |
OLG Hamm VA 2001, 73 |
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Betroffener überschreitet nicht nur die durch Zeichen 274 beschränkte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, sondern auch die an sich innerörtlich zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h in erheblicher Weise (hier: um 16 km/h) |
nein |
OLG Dresden NJW 2005, 2100; DAR 2005, 570 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung um 50 km/h auf |
trotz Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung ja, da Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung allein die grobe Pflichtwidrigkeit nicht begründet Praxistipp: Je höher die gefahrene Geschwindigkeit, desto höher sind die Anforderungen an die Aufmerksamkeit (Deutscher NZV 1999, 112). |
OLG Zweibrücken DAR 1998, 362 |
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Betroffener übersieht auf einer BAB eine sich über die Breite mehrerer Fahrbahnen erstreckende Leucht-anzeige, die flexibel die Geschwindigkeitsanzeige an die gegebenen Verkehrsverhältnisse anpasst |
nein, wegen der besonderen Auffälligkeit dieser Anzeige |
OLG Hamm VA 2006, 16 = VRR 2006, 75 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung um 76 Prozent auf BAB, zulässige Geschwindigkeit durch Zeichen 274 auf 60 km/h beschränkt |
nein, und zwar auch nicht, wenn ein sog. Geschwindigkeitstrichter nicht eingerichtet ist bzw. dazu Feststellungen fehlen |
OLG Hamm VRS 96, 388 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer BAB, Beschränkung auf 120 km/h eingehalten |
ja, die Verminderung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit muss sich dem Betroffenen nicht allein aufdrängen, weil er sich einer Anschlussstelle nähert |
OLG Braunschweig NZV 1998, 420; OLG Rostock DAR 1999, 277 (Geschwindigkeitsüberschreitung wegen instabiler Brücke) |
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Geschwindigkeitsüberschreitung auf Landstraße, Übersehen der Zeichens 274 an Straßeneinmündung |
nein |
OLG Zweibrücken NJW 1998, 3581 |
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Betroffener befährt außerorts eine dreispurig autobahnmäßig ausgebaute Fahrbahn einer Landstraße mit Mittelleitplanke |
ein auswärtiger Verkehrsteilnehmer muss außerhalb geschlossener Ortschaften auf einer solchen Straße nicht mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h zu rechnen |
OLG Karlsruhe VA 2006, 66 = VRR 2006, 111 |
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Durch Telefonieren beim Autofahren abgelenkt |
nein, weil Unaufmerksamkeit fast zwangsläufig und damit von Vorsatz auszugehen ist. Praxistipp: Das gilt erst Recht nach Inkrafttreten des § 23a Abs. 1a StVG am 1. 2. 2001. |
OLG Celle VA 2001, 111; OLG Karlsruhe NZV 2004, 211; OLG Hamm VA 2003, 168 |
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Verfahren auf BAB und darauf zurückzuführende Geschwindigkeitsüberschreitung nach dreimaligem Übersehen der entsprechenden Begrenzungsschilder |
nein |
OLG Hamm VA 2002, 157 |
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Fahren auf BAB und Übersehen der Geschwindigkeitsbegrenzungsschilder wegen eines Gesprächs über geschäftliche Angelegenheiten |
nein |
NZV 2002, 142, 143 |
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Übersehen von Verkehrsschilder innerorts durch einen Ortsfremden |
nein, wenn dieser durch zu schnelles Fahren (Überschreiten der an sich innerorts zulässigen Geschwindigkeit um 9 km/h) selbst zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen hat |
OLG Karlsruhe VA 2003, 71 |
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Betroffener hat nachts und bei fehlender Straßenbeleuchtung das auf der linken Straßenseite befindliche Ortsausgangsschild passiert und daher geglaubt, er befinde sich außerorts, er hat aber das Ortseingangsschild des nächsten Ortes auf gleicher Höhe auf der rechten Seite übersehen und die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten |
ja |
OLG Rostock NJW 2004, 2320 |
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Betroffener wird nachts durch entgegenkommende Fahrzeuge geblendet, reduziert aber nicht seine Geschwindigkeit und übersieht mehrere Geschwindigkeitsbeschränkungen |
nein |
AG Lüdinghausen NJW 2005, 3159 |
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GÜ zur Nachtzeit auf einer BAB bei geringem oder nahezu fehlendem Verkehrsaufkommen |
nein, wenn nicht weitere Umstände hinzukommen |
OLG Bamberg VA 2007, 50 = VRR 2007, 235 |
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GÜ zur Nachtzeit, Grund für die Lärmschutzmaßnahme Geschwindigkeitsüberschreitung ist für den Betroffenen nicht erkennbar |
nein |
OLG Bamberg VA 2007, 50 = NStZ-RR 2007, 123 |
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GÜ, Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit von 70 km/h um 62 km/h außerorts |
nein |
OLG Karlsruhe VA 2007, 164 = DAR 2007, 529 |
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Irrtum über die (objektiv) beschränkte Wirkung von Zusatzschildern zu den Vorschriftszeichen 274 und 276 |
nein |
OLG Bamberg VA 2007, 185 = VRR 2007, 432 |
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Geschwindigkeitsüberschreitung; defekter Tempomat; Schild aufgrund greller Sonne und gleißendem Schnee nicht wahrgenommen |
nein |
OLG Hamm, NJW 2007, 2198 = VRS 112, 216 |
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zu schnelles Fahren, um zur kranken Mutter zu kommen |
ja |
AG Bad Salzungen zfs 2008, 168 |
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Übersehen der geschwindigkeitsbegrenzenden Schilder durch geparkten Lkw |
ggf. ja |
OLG Hamm VRR 2008, 155, zugleich auch zum Umfang der Feststellungen |
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Bei einem Rotlichtverstoß wird versehentlich auf das falsche Lichtzeichen geschaut |
ja |
AG Frankfurt NZV 2008, 371 |
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Absehen von der Anordnung eines Regelfahrverbots nach § 4 Abs. 4 BKatV unter Anhebung der Geldbuße wenn sich die Straßenverkehrsbehörde trotz Kenntnis einer unübersichtlichen Beschilderung weigert, durch Änderung der Beschilderung für Rechtsklarheit zu sorgen. |
ja |
AG Stollberg VA 2009, 173 (m.E. zw.) |
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die für die Verhängung eines Fahrverbots maßgebliche Grenze einer Geschwindigkeitsüberschreitung wird mit einem Kilometer pro Stunde nur knapp überschritten worden |
nein, kein Ausnahmefall |
OLG Hamm VA 2009, 173 = VRR 2009, 430 |
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Frühstarter bei einem Rotlichtverstoß |
allein das reicht nicht zum Absehen vom Fahrverbot aus, es sei denn es liegen besondere Umstände vor (Rotlicht dient gerade nicht dem Schutz des Querverkehrs) |
OLG Bamberg DAR 2008, 596 = VRR 2008, 433; VA 2009, 209 |
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Rotlichtverstoß, weil sich der Betroffene von einem wegen eines Defekts liegen gebliebenen Fahrzeug hat ablenken lassen. |
nein |
OLG Karlsruhe VA 2007, 14 = VRS 11, 439 = NZV 2007, 213. |
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