(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "VRR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "VRR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Selten hat eine verfassungsgerichtliche Entscheidung im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren so viel Aufmerksamkeit erregt wie der Beschl. des BVerfG vom 11. 8. 2009 in der Sache 2 BvR 941/08 (BVerfG NJW 2009, 3293 = VRR 2009, 355 = StRR 2009, 356), in dem das BVerfG zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Videomessungen im Straßenverkehr Stellung genommen hat. Wir haben über diese Entscheidung in VRR 2009, 355 = StRR 2009, 356 ausführlich berichtet. Darauf und auf die sich aus der Rechtsprechung des BVerfG (zunächst) ergebenden Folgerungen/Fragen wird verwiesen. Die nachfolgende Darstellung soll die seitdem ergangene Rechtsprechung in einem Überblick darstellen (vgl. aus der Literatur noch Bull NJW 2009, 3279; Hecker DVBl. 2009, 1239; Krumm NZV 2009, 620; Niehaus DAR 2009, 632).
Zur Anwendung/Umsetzung der Entscheidung des BVerfG gibt es inzwischen eine ganz Reihe von (amts)gerichtlichen Urteilen/Beschlüssen, die sich mit den daraus ergebenden Fragen auseinandersetzen. Im wesentlichen geht es dabei um die Frage, ob und wenn ja, welche Ermächtigungsgrundlage ggf. für eine Videomessung herangezogen werden kann und ob ggf. ein Beweisverwertungsverbot besteht, falls diese fehlt. Unterscheiden lassen sich bei den Entscheidungen zwei große Gruppen:
Zur Gruppe der verurteilenden Erkenntnisse zählen u.a. die Entscheidungen des AG Freiburg (VRR 2009, 470 = StRR 2009, 477), des AG Schweinfurt (AG Schweinfurt DAR 2009, 660 = VRR 2009, 470 = StRR 2009, 477), des AG Erlangen (AG Erlangen VRR 2009, 470 = StRR 2009, 477) und des AG Oberhausen (Urt. v. 02.11.2009 - 26 OWi-371 Js 1419/09-665/09). Das AG Freiburg (a.a.O.) hat sich für das Verfahren ViBrAM-BAMAS, die AG Schweinfurt und Erlangen (jew. a.a.O.) haben sich für das sog. Bayerische Brückenabstandsmessverfahren durch den Beschluss des BVerfG (BVerfG, a.a.O.) nicht an einer Verurteilung gehindert gesehen, da die von ihnen zu entscheidende Sachverhalte hinsichtlich der Messmethode und der Durchführung des Messung nicht mit dem vom BVerfG entschiedenen Sachverhalt vergleichbar seien (vgl. wegen der Einzelh. jeweils a.a.O. mit Anm. Deutscher). Sie sehen das Vorgehen als durch § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO (so AG Schweinfurt, a.a.O.) bzw. § 163b Abs. 1 StPO (so AG Freiburg, a.a.O. und AG Oberhausen, a.a.O.) gedeckt an, da die individualisierbare Aufzeichnung erst aufgrund eines Entscheidungsaktes nach Begründung eines Anfangsverdachts ausgelöst wird.
Praxistipp:
Auch einige OLG gehen inzwischen von § 100h StPO als Ermächtigungsgrundlage aus (vgl. OLG Bamberg VRR 2009, 470; NJW 2010, 100 = VRR 2009, 468 = StRR 2009, 475 = DAR 2010, 26 = NZV 2010, 98; sowie OLG Bamberg, Beschl. v. 25.02.2010, 3 Ss OWi 206/10 für MultaNova VR F6 und ES 1.0; OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.02.2010 - 1 Ss (Owi) 23 Z/10 für ES 3.0; OLG Jena, Beschl. v. 06.01.2010, 1 Ss 291/09, VRR 2010, 115; OLG Stuttgart, Beschl. v. 29. 1. 2010, 4 Ss 1525/09, VRR 2010, 115 = DAR 2010, 148; wohl auch OLG Koblenz, Beschl. v. 04.01.2010, 1 SsBS 111/09; s.a. Krumm NZV 2009, 620; a.A. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 09.02.2010, 2 Ss OWi 4/10; eingehend zu den Ermächtigungsgrundlagen Elsner DAR 2010, 164). Es ist m.E. allerdings fraglich, ob die §§ 100h, 163b StPO als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden können. Abgesehen davon, dass § 100h StPO für ganz andere Fälle, nämlich für (längerfristige) Observationen gedacht ist, setzt die Vorschrift voraus, dass sich die Maßnahme gegen einen Betroffenen/Beschuldigten richtet (vgl. dazu auch OLG Hamm, Beschl. v. 22.12.2009 1 Ss OWi 960/09, VRR 2010, 115 = DAR 2010, 148; OLG Düsseldorf, a.a.O.). Zum Zeitpunkt der automatischen Fertigung des Lichtbildes hat der Geblitzte aber noch nicht die Betroffeneneigenschaft. Diese kann ihm auch nicht von der Software der Messanlage als Ergebnis der Messung verliehen werden. Denn nach überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung kann die Betroffenen-/Beschuldigteneigenschaft nur durch einen menschlichen Willensakt begründet werden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, Einl. Rn. 76 m.w.N.; vgl. auch BGHSt 51, 72). Die Software einer Maschine kann keine Einzelfallentscheidung treffen. Geht man davon aus, dass § 163b StPO Ermächtigungsgrundlage ist (so u.a. AG Oberhausen, Urt. v. 02.11.2009 - 26 OWi-371 Js 1419/09-665/09) besteht dieselbe Problematik (OLG Düsseldorf, a.a.O., zu allem eingehend auch Niehaus DAR 2009, 632, 633 f.).
Zur Gruppe Freispruch zählen u.a. die Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 09.02.2010, 2 Ss OWi 4/10), des AG Meißen (StRR 2009, 478 = VRR 2009, 472), des AG Grimma (StRR 2009, 478 = VRR 2009, 472) und des AG Eilenburg (DAR 2009, 657). Diese Gerichte (wegen der Einzelh. der a,tsgerichtlichen Erkenntnisse s. jeweils a.a.O. m. Anm. Deutscher; im Übrigen OLG Düsseldorf, a.a.O.) haben ein Beweiserhebungsverbot angenommen, weil eine Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vorliege. §§ 100h Abs. 1, 163b Abs. 1 StPO, jeweils i.V.m. § 46 OWiG, würden als Ermächtigungsgrundlage ausscheiden, da beide Normen das Vorliegen eines Anfangsverdachts gegen den von der Aufzeichnung betroffenen Fahrer in Zeitpunkt ihrer Durchführung erforderten, was bei den verwendeten Kontrollsystem nicht der Fall sei (vgl. auch OLG Hamm, Beschl. v. 22.12.2009, 1 Ss OWi 960/09, VRR 2010, 115). Gleiches gelte für die Ermächtigung zur Identitätsfeststellung nach §§ 163b Abs. 2 StPO, 46 OWiG. Das Beweiserhebungsverbot führe auch zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich des Beweisfotos. Der Verfassungsverstoß bei der Verkehrsüberwachung würde relativiert, wenn das auf diese Weise erlangte Beweismittel zur Überführung des Täters verwertet werden dürfte.
Praxistipp
Ein Beweisverwertungsverbot wird vom OLG Oldenburg (StRR 2010, 37 = VRR 2010, 33 = DAR 2010, 32; auch Niehaus DAR 2009, 632, 633 f.) und vom OLG Düsseldorf (Beschl. v. 09.02.2010, 2 Ss OWi 4/10) bejaht. Das OLG Hamm, (Beschl. v. 22.12.2009, 1 Ss OWi 960/09, VRR 2010, 115) lehnt hingegen auf der Grundlage einer Abwägung aller Umstände ein Beweisverwertungsverbot ab (krit dazu Deutscher in der Anm. zu OLG Hamm, a.a.O.). Das AG Grimma, (DAR 2009, 660; StRR 2009, 478 = VRR 2009, 472), und (ähnlich) auch das AG Lünen (StRR 2010, 39 = VRR 2010, 33 = DAR 2010, 35) gehen über diese Rechtsprechung noch hinaus und meinen, die Grundsätze der Entscheidung des BVerfG (a.a.O.) würden für alle Fälle von Verkehrsverstößen gelten, bei denen die Identifizierung des Fahrers nur mittels (individualisierbaren) Tatbildes möglich ist. Das erscheint aber zweifelhaft (vgl. Deutscher bzw. Burhoff, jeweils in der Anm. zu AG Grimma, a.a.O.).
Einen (teilweise) anderen Weg geht das OLG Dresden. Nach seiner Auffassung (vgl. Beschl. v. 02.02.2010, Ss (OWi) 788/09) kann Rechtsgrundlage für eine Videoaufzeichnung im Straßenverkehr zwar § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG sein, allerdings muss die Aufzeichnung anlassbezogen und lediglich zur Identifizierung des Betroffenen als Verdächtigen erfolgen. Etwas anderes gelte, wenn der Messbeamte die Videoaufzeichnung ununterbrochen durchlaufen lasse, so dass auch eine Vielzahl von sich verkehrsgerecht verhaltenden Fahrern erfasst würde, um dann diejenigen herauszufiltern, die verdächtig sind, eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben (vgl. zu allem a. noch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 09.02.2010, 2 Ss OWi 4/10).
Geht der Verteidiger von der Unverwertbarkeit der Messung/einem Beweisverwertungsverbot aus, muss er im Hinblick auf die Entscheidung BGHSt 38, 214 der Verwertung der Videomessung bzw. des Messfotos vorsorglich widersprechen (vgl. zur Widerspruchslösung im OWi-Verfahren auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 26 StVG, Rn. 2; Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 3. Aufl. 2006, § 46 Rn. 18; Göhler, § 46 Rn. 10c.). Darauf hat das OLG Rostock ausdrücklich hingewiesen (OLG Rostock StRR 2010, 37 = VRR 2010, 38; inzidenter auch OLG Hamm, Beschl. v. 11. 11. 09 - 3 Ss OWi 856/09). Den Widerspruch muss der Verteidiger begründen, und zwar muss im Einzelnen dargelegt werden, welche Fehler geltend gemacht werden, damit für den Tatrichter die Angriffsrichtung erkennbar ist sollen (OLG Hamm StRR 229, 225 = VRR 2009, 234 unter Hinweis auf die WÜK-Entscheidungen des BGH in BGHSt 52, 38 = NJW 2007, 3587 bzw. BGHSt 52, 48 = NJW 2008, 307= StRR 2009, 22, 23; zur Widerspruchslösung eingehend Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 6. Aufl., 2010, Rn. 1166a ff.).
Praxistipp:
Der Verteidiger muss auch dann widersprechen, wenn er mit einem Freispruch rechnet bzw. dieser sich nach seiner Auffassung abzeichnet, da er den Widerspruch auch dann im Fall der Aufhebung und Zurückverweisung nicht nachholen kann (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 13.10.2009, 3 Ss 359/09, StRR 2010, für Verstoß gegen § 81a StPO).
Die nachfolgende Tabelle enthält einige der Entscheidungen, die sich mit den aus dem Beschl. des BVerfG v. 11.08.2009 ergebenden Fragen beschäftigen.
Gericht |
Messverfahren |
Ermächtigungs-grundlage |
BVW |
Fundort |
OLG Bamberg |
Bayerisches Brückenabstandsmessverfahren (VAMA) |
Ja, § 100h StPO |
nein |
NJW 2010, 100 = VRR 2009, 468 = StRR 2009, 475 = DAR 2010, 26 = zfs 2010, 50 |
OLG Bamberg |
offen |
Ja, § 100h StPO |
nein |
|
OLG Bamberg |
MultaNova VR F6 und ES 1.0 |
Ja, § 100h StPO |
nein |
Beschl. v. 25.02.2010, 3 Ss OWi 206/10 |
OLG Brandenburg |
ES 3.0 |
Ja, § 100h StPO |
nein |
Beschl. v. 22.02.2010, 1 Ss (OWi) 23 Z/10 |
OLG Dresden |
VKS 3.01 |
§ 100 h StPO, wenn anlassbezogen gemessen wird |
ggf. ja |
Beschl. v. 02.02.2010, Ss OWi 788/09 |
OLG Düsseldorf |
ViBram |
ja |
Beschl. v. 09.02.2010, 2 Ss OWi 4/10 |
|
OLG Hamm |
VKS 3.0 |
offen |
Widerspruch erforderlich |
StRR 2010, 66 = VRR 2010, = VA 2010, 48 |
OLG Hamm |
VKS |
nicht § 100h StPO |
nein, Abwägung erforderlich |
|
OLG Hamm (4. Senat für Bußgeldsachen) |
VKS 3.1 |
nein |
Beschl. v. 22.10.2009, 4 Ss OWi 800/09, LNR 2009, 32469 |
|
OLG Jena |
offen |
offen |
nein, nur bei verdachtsunabhängiger Messung |
|
OLG Koblenz |
VAMA |
wohl § 100h StPO |
nein |
Beschl. v. 04.11.2010, 1 SsBs 111/09 |
OLG Koblenz |
Brückenabstandsmessverfahren |
nein |
Beschl. v. 04.03.2010, 2 Ss 23/10 |
|
OLG Oldenburg |
VKS 3.0 |
offen |
ja |
StRR 2010, 37 = VRR 2010, 33 = DAR 2010, 32 = VA 2010, 47 |
OLG Rostock |
offen |
offen |
Widerspruch erforderlich |
|
OLG Schleswig |
Provida |
nein |
||
OLG Stuttgart |
ViBrAm-BAMAS |
nein |
||
VG Gelsenkirchen |
bayerisches Brückenabstandsmessverfahren |
|
Beschl. v. 18.01.2010, 14 L 2/10 |
|
AG Brandenburg an der Havel |
Provida |
|
|
Beschl. v. 14.12.2009 24 OWi 4103 Js OWi 60037/09 (631/09) |
AG Coesfeld |
VKS 3.01 |
offen |
ja |
|
AG Eilenburg |
ES 1.0 |
ja |
||
AG Erlangen |
Bayerisches Brückenabstandsmessverfahren |
|
||
AG Freiburg |
ViBrAM-BAMAS |
|
||
AG Grimma |
ES 1.0 |
Ja, und zwar auch für ein Lichtbild zur Identifizierung |
VRR 2009, 472 = StRR 2009, 478;
|
|
AG Hannover |
Brückenabstandsmessverfahren |
nein |
ja |
Beschl. v. 07.12.2009 246 OWi 7351 Js 85292/09 (279/09) |
AG Kamenz |
VKS 3.01 |
offen |
ja |
|
AG Lübben |
ViDiStA 2006 |
nein |
ja, und zwar auch für die Täteridentifizierung |
|
AG Lünen |
offen |
offen |
Ja, und zwar auch für ein Lichtbild zur Identifizierung |
|
AG Meißen |
LEIVTEC XV2 |
ja |
Urt. v. 16.12.2009 - 13 OWi 705 Js 32778/09 |
|
AG Meißen |
Traffipax Traffi Phot S |
Verdachtsabhängige Messung |
nein |
Urt. v. 14.10.2009, 13 OWi 705 Js 30975/09 |
AG Meißen |
VKS 3.0 |
ja |
u.a. Urt. v. 12.11.2009 - 13 OWi 703 Js 42058/09, und v. 09.10.2009 - 13 OWi 705 Js 36235/09 |
|
AG Oberhausen |
VKS |
|
Urt. v. 02.11.2009 - 26 OWi-371 Js 1419/09-665/09) |
|
AG Saarbrücken |
Videomessanlage mit dem Dako-Timer 800007 |
nein |
Urt. v. 11.11.2009 - 22 OWi 901/09, und v. 02.10.2009 - 22 OWi 757/09 |
|
AG Saarbrücken |
Videomessanlage mit dem Dako-Timer 800007 |
Nein, auch Lichtbilder zur Täteridentifizierung verwertbar |
u.a. Urt. v. 15.09.2009 - 22 OWi 68 Js 734/09 (629/09) |
|
AG Schweinfurt |
bayerisches Brückenabstandsmess- verfahren |
|
DAR 2009, 627 = VRR 2009, 470 = StRR 2009, 477 |
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