aus Prozessrecht Aktiv 2004, 14
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "PA" die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "PA" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
1. Wer darf die Akten einsehen?
2. Was gehört zu den Akten i.S. des § 147 StPO?
3. Haben Spurenakten eine Sonderstellung?
4. Wie sind Akten anderer Behörden und Beiakten zu behandeln?
5. Was gilt bei Verfahren gegen mehrere Beschuldigte?
6. Einsichtsrecht in gerichtliche Dateien?
7. Dürfen nicht am Verfahren Beteiligte die Akten einsehen?
8. Was ist bei Untersuchungshaft des Beschuldigten zu beachten?
9. Wie können Entscheidungen angefochten werden?
von RiOLG Detlef Burhoff, Münster/Hamm
Der Beschuldigte kann sich nur wirksam verteidigen, wenn er die ihm zur Last gelegten Umstände kennt. Nur so kann er sich rechtzeitig auf die Verteidigung einrichten und Verteidigungsmittel beschaffen. Deshalb ist das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO ein Kernstück der Verteidigung, das den Grundsätzen des Rechts auf rechtliches Gehör und des fairen Verfahrens entspringt (Lüderssen in Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 147 Rn. 1). Der Beitrag fasst die wichtigsten Fälle der Akteneinsicht zusammen und stellt die relevanten Rechtsmittel dar.
Zur Akteneinsicht nach § 147 StPO ist grundsätzlich nur der Verteidiger berechtigt. Verteidiger i.S. dieser Vorschrift sind zunächst der Wahl- (§ 138 StPO) und der Pflichtverteidiger (§ 141 StPO). Verteidiger sind aber auch der Rechtsreferendar, dem die Verteidigung gemäß § 139 StPO übertragen wurde, sowie die nach § 138 Abs. 2 StPO als Verteidiger zugelassenen Personen, unabhängig davon, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt. Der Begriff des Verteidigers ist weit auszulegen.
Für das Akteneinsichtsrecht ist aber nicht Voraussetzung, dass bereits ein Verteidigungsverhältnis i.S. eines zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten zu Stande gekommenen Geschäftsbesorgungsvertrag nach den §§ 675, 611 BGB besteht. Vielmehr ist nach h.M. auch schon während des so genannten Anbahnungsverhältnisses, also in der Zeit, in der der Rechtsanwalt prüft, ob er das Mandat überhaupt annehmen will, Akteneinsicht zu gewähren (Meyer-Goßner, StPO, 46 Aufl., § 147 Rn. 9).
Praxishinweis: Kein Akteneinsichtsrecht besteht, wenn der Rechtsanwalt selbst Beschuldigter ist. Er wird dann ebenso wie jeder andere Beschuldigte behandelt. Auch der gesetzliche Vertreter oder ein Beistand haben kein Recht zur Einsichtnahme. Ihnen kann jedoch gegebenenfalls Einsicht gewährt werden. Auch der Beschuldigte hat grundsätzlich kein Akteneinsichtsrecht (a.A. EGMR NStZ 98, 429 für den Beschuldigten, der sich selbst verteidigt; dazu Haas NStZ 99, 442). Nach der (Neu-)Regelung des § 147 Abs. 7 StPO können aber dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, Abschriften oder Ablichtungen der Akten ausgehändigt werden (Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., Rn. 78 ff.).
Im Allgemeinen werden zu den Akten, auf die sich das Einsichtsrecht des Verteidigers erstreckt, alle vom ersten Zugriff der Polizei an gesammelten be- und entlastenden Schriftstücke gezählt, die bei Anklageerhebung dem Gericht vorzulegen wären. Zudem erstreckt sich das Einsichtsrecht auch auf die nach der Anklageerhebung entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten (Meyer-Goßner, a.a.O., § 147 Rn. 14; BVerfGE 62, 338; BGH StV 88, 193). Danach fallen unter das Akteneinsichtsrecht (siehe zum Umfang des Akteneinsichtsrechts auch das "ABC" bei Burhoff, a.a.O., Rn. 164 ff.) alle Schriftstücke, Ton- (LG Bonn StV 95, 632) oder Bildaufnahmen (OLG Karlsruhe AnwBl 81, 18), einschließlich etwaiger Videoaufnahmen (BayObLG NStZ 91, 190, für das OWi-Verfahren) und der Strafregisterauszug (BVerfG StV 83, 137). Vom Akteneinsichtsrecht nicht umfasst sind die Handakten der Staatsanwaltschaft und andere innerdienstliche Vorgänge. Dazu gehören auch Notizen, die sich Mitglieder des Gerichts während der Hauptverhandlung gemacht haben.
Zu den zur Akteneinsicht vorzulegenden Akten gehören nicht die Handakten der Staatsanwaltschaft (s.o.). Hierin dürfen jedoch, von der Ausnahme des § 147 Abs. 2 StPO abgesehen, keine Bestandteile zurückgehalten werden, die in die dem Gericht vorzulegenden Akten gehören. Problematisch wird dies bei den so genannten "Spurenakten" (Löwe/Rosenberg, a.a.O., § 147 Rn. 31 ff.). Hier gilt Folgendes:
Praxishinweis: Das BVerfG (a.a.O.) hat der Verteidigung ein nach § 23 EGGVG einklagbares Recht zur Einsicht in die Spurenakten zuerkannt, die Polizei oder Staatsanwaltschaft dem Gericht nicht vorgelegt haben.
4. Wie sind Akten anderer Behörden und Beiakten zu behandeln?
Auch in Akten anderer Behörden ist Einsicht zu gewähren, es sei denn, sie sind nur zur vertraulichen Behandlung übersandt worden (RiStBV 187 Abs. 2 S. 2; Meyer-Goßner, a.a.O., § 147 StPO Rn. 16). Eine Vertraulichkeitsbitte ist unbeachtlich (BGHSt 42, 71). Für einen Ausschluss der Akteneinsicht ist eine Sperre nach § 96 StPO durch die oberste Dienstbehörde erforderlich (BGH, a.a.O.). Die Akteneinsicht umfasst auch Beiakten, also etwa Vorstrafen-, Personal- und Steuerakten sowie Akten über Zivil- oder Verwaltungsprozesse. Dem steht der Grundsatz des Datenschutzes nicht entgegen (Burkhard StV 00, 526; Burhoff, a.a.O., Rn. 1521).
Bei Verfahren gegen mehrere Beschuldigte treten Probleme in praktischer und rechtlicher Hinsicht auf (Burhoff, a.a.O., Rn. 75 ff.):
Im Zuge fortschreitender Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften mit Personalcomputern, ohne die heute umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren kaum noch zu erledigen sind, erhält die Frage, wie die Einsicht in während der Ermittlungen angelegte Dateien zu behandeln ist, immer größere praktische Bedeutung. Sie ist wie folgt zu beantworten:
Das Gesetz regelt in § 147 StPO nur die Akteneinsicht des Beschuldigten. Als Vertreter anderer Verfahrensbeteiligter hat ein Rechtsanwalt einen Anspruch auf Einsichtnahme, und zwar als Prozessbevollmächtigter des Privatklägers (§ 385 Abs. 3 StPO), des Nebenklägers (§ 397 Abs. 1 S. 2 i.V. m. § 385 Abs. 2 StPO), der Einziehungs- oder Verfallsbeteiligten (§ 434 Abs. 1 S. 2, § 442 Abs. 1 StPO) sowie der bußgeldbeteiligten juristischen Person oder einer Personenvereinigung (§ 444 Abs. 2 S. 2 StPO), sowie des Verletzten (§ 406e StPO; zur Anfechtung BGH NStZ 93, 351).
Für sonstige Nichtverfahrensbeteiligte galten früher die Nr. 182 ff. RiStBV. Inzwischen ist auch für diese das Akteneinsichtsrecht nicht mehr bloß durch Verwaltungsvorschriften geregelt (OLG Hamm NStZ 86, 236; OLG Koblenz NJW 86, 3093; BVerfG NStZ 87, 286), sondern in den §§ 474 ff. StPO. Danach erhalten Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizbehörden Akteneinsicht, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist (§ 474 Abs. 1 StPO). Andere öffentliche Stellen erhalten unter den Voraussetzungen des § 474 Abs. 2 StPO Auskunft, z.B. zur Feststellung, Durchsetzung oder zur Abwehr von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit der Straftat.
Für eine Privatperson abgesehen von den Verletzten erhält ein Rechtsanwalt Auskunft, wenn er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt (§ 475 StPO; OLG Stuttgart NStZ-RR 00, 349; Meyer-Goßner, a.a.O., § 475 StPO Rn. 2). Für wissenschaftliche Zwecke gilt § 476 StPO.
Von besonderer Bedeutung ist das Einsichtsrecht, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, denn oft kann er erst durch die beantragte Akteneinsicht dem dringenden Tatverdacht oder den Haftgründen entgegentreten. Daher muss der Verteidiger hier besonders energisch versuchen, einer ggf. auf § 147 Abs. 2 StPO gestützten Verweigerung der Akteneinsicht zu begegnen. Dazu muss er sich auf jeden Fall auf die (neuere) Rechtsprechung des EGMR berufen. Der EGMR hat bereits in der so genannten Lamy-Entscheidung (StV 93, 283) ausgeführt, dass der Verteidiger einen Anspruch auf Einsicht in alle Akten hat, die dem Haftrichter zum Zeitpunkt des Antrags auf Haftprüfung bzw. der (Haft-)Beschwerde gegen den Haftbefehl vorliegen (Zieger, StV 93, 322; Schmitz, wistra 93, 319).
Dazu hat dann später das BVerfG Stellung genommen (NJW 94, 3219): Danach dürfen ein Haftbefehl und die ihn bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen im Haftprüfungs- und Haftbeschwerdeverfahren nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er sich äußern konnte. Zwar bestehe auch in diesen Fällen kein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht, allerdings müsse dem Verteidiger unter Umständen Teilakteneinsicht gewährt werden. Sei dies nicht möglich, könne das Gericht seine Entscheidung nicht auf die dem Beschuldigten nicht bekannten Tatsachen stützen und müsse deshalb gegebenenfalls den Haftbefehl aufheben.
Noch weiter geht inzwischen der EGMR (NJW 02, 2013 ff.). Er erstreckt das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nicht nur auf die Tatsachen und Beweismittel, die das Gericht seiner Entscheidung zu Grunde legen will (so aber BVerfG, a.a.O.). Die Akteneinsicht muss sich vielmehr auf den gesamten Akteninhalt erstrecken (so auch OLG Hamm StV 02, 318; s. aber OLG Köln NStZ 02, 659 und Lange, NStZ 03, 348).
Im Ermittlungsverfahren getroffene Entscheidungen der Staatsanwaltschaft über die Akteneinsicht durch Verfahrensbeteiligte sind nach § 147 Abs. 5 S.2 StPO n.F. anfechtbar, wenn die Versagung erfolgt, nachdem der Abschluss der Ermittlungen (§ 169a StPO) in den Akten vermerkt worden ist, wenn die Versagung die in § 147 Abs. 3 StPO bezeichneten Unterlagen betrifft oder der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet. Hier kann Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 161a Abs. 3 S. 2-4 StPO gestellt werden.
In den übrigen Fällen ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, zulässig ist nur eine Dienstaufsichtsbeschwerde, nicht aber der Antrag nach § 23 EGGVG (OLG Hamm NStZ 84, 280; OLG Hamburg StV 86, 422). Aus § 147 Abs. 5 S. 2 StPO ist zu entnehmen, dass ein Rechtsbehelf nur in den dort genannten Fällen zulässig sein soll (Meyer-Goßner, a.a.O.). Der insoweit früher bestehende Streit hat sich also erledigt. Wird allerdings die Einsicht in die den Ermittlungsakten beigefügten Spurenakten (s.o., 3.) abgelehnt, ist dagegen der Rechtsweg nach § 23 EGGVG (noch) gegeben (BVerfG NJW 83, 1043).
Richterliche Entscheidungen auch des erkennenden Gerichts können mit der Beschwerde angefochten werden. § 305 S. 1 StPO steht dem nicht entgegen (streitig: OLG Brandenburg NJW 96, 67; OLG Frankfurt NStZ 96, 238). Nichtverfahrensbeteiligte haben das Beschwerderecht des § 304 Abs. 2 StPO, nicht das Antragsrecht nach § 23 EGGVG (OLG Köln NJW 85, 336). Nach § 147 Abs. 4 S. 2 StPO besteht folgende Ausnahme: Die Entscheidung über die Mitgabe von Akten zur Einsichtnahme oder deren Verweigerung kann nicht angefochten werden. Das gilt auch für eine Entscheidung, die die Modalitäten der Mitnahme regelt, z.B. Abholung auf der Geschäftsstelle (OLG Hamm MDR 93, 788). Die richterliche Entscheidung über die Akteneinsicht des Verletzten nach § 406e StPO ist für den Beschuldigten jedoch anfechtbar (BGH NStZ 93, 351).
Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens sind Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nach Maßgabe des § 147 Abs. 5 S. 2 StPO anfechtbar. Für die Rechtsmittel betreffend Entscheidungen zur Akteneinsicht Dritter gilt § 478 Abs. 3 StPO. Die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft können angefochten werden, die des Vorsitzenden sind unanfechtbar (Meyer-Goßner, a.a.O., § 478 Rn. 3; Burhoff, a.a.O., 152).
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