aus Prozessrecht Aktiv (PAK) 2002, 59
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "PAK" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "PAK" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
StPO: Ermittlungsverfahren
von RiOLG Detlef Burhoff, Ascheberg/Hamm
Äußert der Beschuldigte keinen Wunsch auf Zuziehung eines Verteidigers, muss er nicht auf einen vorhandenen anwaltlichen Notdienst hingewiesen werden. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft oder gar die ermittlungsführende Polizei im Ermittlungsverfahren den dringenden Verdacht eines Verbrechens oder eines gewichtigen Vergehens für begründet hält, ist sie zur Stellung eines Antrags auf Verteidigerbestellung nach
§ 141 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht verpflichtet (BGH 5.2.02, 5 StR 588/01, n.v.).
(Abruf-Nr.020373*)
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Der Angeklagten wurde Beihilfe zum versuchten Totschlag vorgeworfen. Sie war unmittelbar vor der in der späteren Hauptverhandlung verwerteten haftrichterlichen Vernehmung und schon vor ihrer ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, bei der sie die Einlassung verweigert hatte, über ihr Recht belehrt worden, jederzeit, auch schon vor ihrer Vernehmung, einen zu wählenden Verteidiger zu befragen (§ 136 Abs. 1 S. 2,
§ 163a Abs. 4 S. 2 StPO). Die Angeklagte hatte danach nicht zu erkennen gegeben, dass sie einen Verteidiger konsultieren wolle. Vor dem Haftrichter hat sie nach der Belehrung unter Zuziehung eines Dolmetschers ohne Verteidigerbeistand ausgesagt.
Diese Verfahrensweise stand nach Auffassung des BGH der Verwertung der Vernehmung der Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht entgegen. Insbesondere war ein ausdrücklicher Hinweis auf einen Verteidigernotdienst und die Möglichkeit, zu diesem eine telefonische Verbindung mit dem Ziel schneller anwaltlicher Konsultation herzustellen, nicht geboten. Das habe der BGH in der Vergangenheit lediglich für den Fall erwogen, dass ein Beschuldigter nach der vorgeschriebenen Belehrung zu erkennen gegeben hat, dass er von seinem Recht auf Verteidigerkonsultation nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO Gebrauch machen wollte. Hieraus könne eine weitergehende Verpflichtung zur effektiven Ermöglichung dieses Rechts erwachsen.
Die Ermittlungsbehörden mussten bei der gegebenen haftrichterlichen Vernehmungssituation auch nicht für eine Verteidigung der damaligen Beschuldigten Sorge tragen. Aus dem Regelungsgefüge der §§ 140, 141 StPO folgt, dass insoweit auch in näherer Konkretisierung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK in bestimmten gewichtigen Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers regelmäßig ab Anklageerhebung unerlässlich ist. Ein solches Erfordernis kann zwar bereits während des Ermittlungsverfahrens eintreten. Für die Stellung eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers, der sich nach der Prognose notwendiger Verteidigung in einem künftigen gerichtlichen Verfahren richtet, stehe der Staatsanwaltschaft aber ein nicht umfassend gerichtlich überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.
Eine Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren ist jedenfalls dann zu veranlassen, wenn im Sinne des § 140 Abs. 1 oder 2 StPO mit gewichtiger Anklageerhebung zu rechnen ist und eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers unerlässlich erfordert. Dem geltenden Recht ist aber nicht zu entnehmen, dass bereits bei Vorliegen eines bloßen Verdachts eines Verbrechens oder eines gewichtigen Vergehens (vgl. nur § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 S. 1 StPO), eine entsprechende Reduzierung des Beurteilungsspielraums der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO anzunehmen wäre.
Praxishinweis
Die Entscheidung ist die vorerst letzte in einer Reihe von Entscheidungen des BGH zur Frage, wann im Ermittlungsverfahren, ggf. bereits schon bei der (ersten) Vernehmung des Beschuldigten, ein Verteidiger hinzugezogen werden muss und wie der Beschuldigte über sein Recht auf Verteidigerkonsultation zu belehren ist (BGHSt 38, 214). Für die Praxis ist die Frage von Bedeutung, weil effektive Verteidigung immer auch möglichst frühzeitige Verteidigung ist. Zudem darf nur bei richtiger Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte nach § 136 StPO später in der Hauptverhandlung die (erste) Vernehmung auch verwertet werden.
Auf dem (richtigen) Weg zu einer möglichst effektiven frühzeitigen Verteidigung des Beschuldigten ist die Entscheidung vom 5.2.02 ein Rückschritt. Wenn die Ermittlungsbehörden nicht zumindest in gewichtigen Fällen verpflichtet sind, dem Beschuldigten möglichst frühzeitig einen Verteidiger bestellen zu lassen, ist dieser in der Phase des ersten Kontakts mit der Staatsanwaltschaft und Polizei ohne anwaltlichen Schutz. Fehler, die gemacht werden, lassen sich später häufig nicht mehr reparieren. Zu begrüßen ist daher, dass zur Zeit über eine Verstärkung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren diskutiert wird (sog. "Eckpunktepapier" zur Reform des Strafverfahrens, StV 01, 314).
Tipp: Der Verteidiger, der sich in der Hauptverhandlung vor die Situation der Verwertung einer im Ermittlungsverfahren ohne Mitwirkung eines Verteidigers zustande gekommenen Vernehmung gestellt sieht, muss der vom Gericht beabsichtigten Verwertung ausdrücklich widersprechen, wenn er sie für unverwertbar hält (BGHSt 38, 214). Anderenfalls kann er das von ihm angenommene Beweisverwertungsverbot nicht mit der Revision geltend machen (zur sog. "Widerspruchslösung" des BGH siehe Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 3. Aufl., Rn. 1066a ff.).
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