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aus ZAP Heft 24/2015, F. 22 R, S. 913

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (III/2015)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise.  
  1. Empfehlungen der BMJV-Expertenkommission.
  2. Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU..  
II. Ermittlungsverfahren.    
  1. Pflichtverteidigungsfragen.  
    a) Eigenes Antragsrecht des Beschuldigten.  
    b) Rückwirkende Bestellung/Beiordnung.
    c) Rechtsprechungsübersicht.
  2. Anforderungen an die Anklageschrift.  
III. Hauptverhandlung.    
  1. Eigenmächtiges Ausbleiben des Angeklagten.  
  2. Mobiltelefon in der Hauptverhandlung.  
IV. Rechtsmittelverfahren/Berufungsverwerfung.    
V. Bußgeldverfahren.    

I. Hinweise

1. Empfehlungen der BMJV-Expertenkommission

Im Juli 2014 hatte die vom BMVJ eingesetzte Expertenkommission zur „Effektivierung des Strafverfahrens“ ihre Arbeit aufgenommen. Inzwischen hat sie im Oktober 2015 ihre „Empfehlungen“ abgegeben (vgl. dazu ZAP Anwaltsmagazin 21/2015, S. 1110 und den auf der Homepage des BMVJ eingestellten Abschlussbericht nebst Protokollen aus den Kommissionssitzungen und der von den Mitgliedern vorgelegten Gutachten). Die Empfehlungen enthalten u.a. Vorschläge, die, wenn sie umgesetzt werden, die Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren stärken. Zudem ist ein Ausbau der Möglichkeiten, Vernehmungen audiovisuell, auch in der Hauptverhandlung, aufzunehmen, vorgesehen (zu allem auch Kasiske NJW Spezial 2015, 696).

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2. Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU

Seit dem 16.11.2015 gelten EU-weit für Opfer von Straftaten verbindliche, harmonisierte Rechte. An diesem Tag ist die Umsetzungsfrist für die Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU abgelaufen. Die Opferrechte gelten unabhängig von der Staatsangehörigkeit für jeden, der in der EU Opfer einer Straftat geworden ist. Familienangehörige von Personen, die infolge einer Straftat zu Tode kamen, genießen nach der Richtlinie dieselben Rechte wie die Opfer selbst, einschließlich des Rechts auf Information, Unterstützung und Entschädigung. Die nationalen Behörden müssen den Opfern Informationen über ihre Rechte, ihren Fall und die verfügbaren Dienste und Unterstützungsleistungen zur Verfügung stellen, sobald sich die Opfer das erste Mal an sie wenden. Im Strafverfahren haben Opfer das Recht, gehört und über die einzelnen Abschnitte des Verfahrens informiert zu werden. Sie können insbesondere die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung verlangen, wenn sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind.

Hinweis:

In Deutschland soll die Richtlinie u.a. durch Änderungen bzw. Einfügungen, wie z.B. einen neuen § 48 Abs. 3 StPO, durch das 3. Opferrechtsreformgesetz umgesetzt werden. Dieses befindet sich noch im Gesetzgebungsverfahren (vgl. BT-Drucks. 18/4612). Solange das Gesetz jedoch nicht beschlossen ist und die Änderungen in Kraft getreten sind, findet die Richtlinie ab sofort direkt Anwendung.

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II. Ermittlungsverfahren

1. Pflichtverteidigungsfragen

a) Eigenes Antragsrecht des Beschuldigten

In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, ob dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ein eigenes Recht zusteht, die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen umstritten (vgl. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2015, Rn. 3051 m.w.N.; im Folgenden kurz: Burhoff, EV). Zu der Frage hat jetzt vor kurzem (noch einmal) die Ermittlungsrichterin des BGH (Beschl. v. 9.9.2015 – 3 BGs 134/15, NJW 2015, 3383 = StRR 2015, 458) Stellung genommen. Die Ermittlungsrichterin verneint kategorisch ein Antragsrecht des Beschuldigten auf Pflichtverteidigerbestellung gem. § 141 Abs. 3 S. 1–3 StPO. Eine solche setze einen Antrag der Staatsanwaltschaft zwingend voraus. Damit bezieht die Ermittlungsrichterin eine klare Position in der heftig umstrittenen Frage. Begründet wird das mit dem Wortlaut des § 141 Abs. 3 StPO und den Zuständigkeitsregelungen (abl. Barton StRR 2015, 458 in der Anm. zu BGH, a.a.O.) und dem Argument, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren „Herrin des Verfahrens“ sei, sie zur Objektivität verpflichtet sei und werde daher schon ggf. einen Antrag stelle, da sie ggf. nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO tätig werden müsse.

Ob dieses Argument heute noch zutrifft, kann man m.E. bezweifeln, wenn man manche Verfahren sieht und auch hört, wie von der Staatsanwaltschaft agiert wird. M.E. stellt man den Beschuldigten durch die Verneinung eines eigenen Antragsrechts in der Phase des Ermittlungsverfahrens auch schutzlos in dem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft nicht tätig wird, aber tätig werden müsste. Denn dieser hat, wenn sein Bestellungsantrag unzulässig wird, kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. kann nicht (gerichtlich) überprüfen lassen, wenn diese nicht nach § 142 Abs. 3 S. 2 StPO tätig wird. So ausdrücklich die Ermittlungsrichterin im BGH-Beschluss vom 9.9.2015 (a.a.O.), indem sie insbesondere auch den Weg über § 98 Abs. 2 StPO verneint.

Hinweis:

Wie geht der Verteidiger mit der Entscheidung um? Nun, sie ist m.E. nicht der Weisheit letzter Schluss, da sie „nur“ vom Ermittlungsrichter kommt. Jedenfalls ist aber die Diskussion wieder eröffnet und man darf gespannt sein, wie sich ggf. demnächst die Senate positionieren. Als Verteidiger muss man für den Mandanten ein Antragsrecht reklamieren und den Antrag stellen. Die Rechtsprechungsnachweise in der Entscheidung (vgl. u.a. LG Heilbronn Justiz 1979, 444; LG Erfurt StRR 2012, 266; LG Limburg StV 2013, 625 = StRR 2013, 106 m. Anm. Burhoff) zeigen, dass die Instanzgerichte das teilweise anders gesehen haben als der BGH (s.a. BGHSt 46, 93; BGH StV 2008, 58).

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b) Rückwirkende Bestellung/Beiordnung

In der Praxis spielt die Frage der Zulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung eines Beistands bzw. der Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn das Verfahren rechtkräftig abgeschlossen ist, eine große Rolle. In der Frage, gehen die Obergerichte uni sono davon aus, dass das nicht möglich ist (vgl. die Zusammenstellung der Rspr. bei Burhoff, EV, Rn. 3043 ff. für den Pflichtverteidiger).

Begründet wird das i.d.R. so, wie es das OLG Celle (Beschl. v. 4.8.2015 – 2 Ws 111/15, StRR 2015, 461) vor kurzem noch einmal im Hinblick auf die nachträgliche Beiordnung eines Nebenklagebeistands getan hat. Da hatte die Rechtsanwältin zwar gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Beiordnung für die Nebenklägerin Beschwerde eingelegt, diese dann aber während des Verfahrens nicht mehr weiterverfolgt. Das OLG hat die Beschwerde zurückgewiesen – dies mit der in diesen Fällen üblichen Begründung: Eine nachträglich rückwirkende Beiordnung eines Nebenklägervertreters bzw. eine nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren sei grundsätzlich nicht zulässig (BGH StraFo 2011, 115; Senge in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 397a, Rn. 2 und 11 [im Folgenden kurz: KK-Bearbeiter]). Die Bestellung eines Beistands verfolge den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, dafür zu sorgen, dass ein Geschädigter in den vom Gesetz ausdrücklich bezeichneten Fällen (§ 397a Abs. 1 StPO) oder, wenn er seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen könne oder ihm dies nicht zuzumuten sei (§ 397a Abs. 2 StPO), einen rechtskundigen Beistand erhalte, der die Interessen des Nebenklägers vertrete und einen auch in dessen Interesse liegenden Verfahrensablauf gewährleiste. Dieser Zweck könne nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht mehr erreicht werden. Es gebe in diesem Zeitpunkt keine von dem Opferanwalt zu erbringende Tätigkeit mehr. Die Bestellung eines Beistands nach § 397a Abs. 1 StPO bzw. die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nach § 397a Abs. 2 StPO erfolge mithin nicht im Kosteninteresse des Nebenklägers. Die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts würde ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Beistand für ein bereits abgeschlossenes Verfahren einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (§ 45 Abs. 3 RVG), nicht jedoch einen ordnungsgemäßen Rechtsbeistand des Nebenklägers für das Verfahren zu gewährleisten (u.a. KG StRR 2009, 362 [Ls.] m.w.N.).

Das OLG Celle (a.a.O.) hat allerdings nun auch die Tür für eine Ausnahme von diesem Grundsatz geöffnet, insoweit in Übereinstimmung mit der weitgehend einhelligen landgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 3046; unzutreffend a.A. LG Halle StRR 2015, 389 mit zutreffend abl. Anm. Barton). Es sieht eine nachträgliche Beiordnung/Bestellung dann als zulässig an, wenn der entscheidungsreife Antrag rechtzeitig gestellt, aber nicht rechtzeitig beschieden wurde (so auch LG Saarbrücken, Beschl. v. 14.10.2015 – 4 Qs 14/15).

Praxishinweis:

Allerdings muss der Rechtsanwalt an der Stelle schnell handeln und darauf achten, dass er die Tür, die sich für ihn dort öffnet, nicht selbst wieder zuschlägt, wenn er nämlich zu lange eine Nichtbescheidung seines Antrags/Rechtsmittels hinnimmt und so selbst dazu beiträgt, dass man es mit einem Fall der nachträglichen Beiordnung/Bestellung zu tun hat. Er muss also auf Antrags-/Rechtsmittelbescheidung drängen, um nicht selbst sein Rechtsmittel unzulässig zu machen (vgl. die Fallgestaltung bei OLG Celle und LG Saarbrücken, jeweils a.a.O.). Das hatte die Rechtsanwältin hier nicht getan.

Wird der Rechtsanwalt tätig, dürfte ihm das Argument „nachträglich wird nicht mehr beigeordnet/bestellt“, nicht entgegengehalten werden dürfen. Das sehen aber leider noch nicht alle OLG so, z.B. das OLG Hamm (vgl. OLG Hamm StRR 2013, 103 m. Anm. Barton). In dem Zusammenhang verhalten sich die OLG m.E. z.T. widersprüchlich, wenn sie nämlich einerseits eine zeitnahe Entscheidung über einen Beiordnungs-/Bestellungsantrag anmahnen, andererseits aber keine nachteiligen Konsequenzen ziehen, wenn diese Mahnung überhört und – wie in manchen Fällen, insbesondere, wenn es um Einstellungen nach § 154 StPO geht, – die Instanzgerichte bewusst untätig bleiben, um so das Argument der Nachträglichkeit herbei zu führen.

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c) Rechtsprechungsübersicht

An die Zusammenstellung der Rechtsprechung zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO) in ZAP F. 22 R, S. 844 f. schließen die nachfolgenden Ausführungen an:

aa) Auswahlkriterien – Allgemeines

Die Ortsferne des Kanzleisitzes des Verteidigers steht der Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger nicht entgegen, wenn nicht ersichtlich ist, dass hierdurch eine sachdienliche Verteidigung des Angeklagten und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet würden (OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.10.2014 – 1 Ws 162/14, StRR 2015, 181; OLG Jena, Beschl. v. 10.10.2014 – 1 Ws 453/14). Daher tritt im Bestellungsverfahren der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der gebotenen Interessensabwägung grundsätzlich gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück (OLG Brandenburg, a.a.O.). Auch haben fiskalische Interessen an der Entstehung möglichst niedriger Verteidigerkosten (insbesondere Fahrtkostenersatz) angesichts der hohen Bedeutung des Rechts eines Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, zurückzutreten (OLG Brandenburg, a.a.O.). Allerdings ist die Ablehnung der Beiordnung eines ortsfernen, dem Angeklagten nur aufgrund einer Internetrecherche und der dortigen – zudem kanzleibezogenen – Werbeaussage einer Spezialisierung auf Sexualdelikte bekannt gewordenen Verteidigers nicht zu beanstanden (OLG Jena, a.a.O.).

bb) Bestellung – Schwere der Tat

Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe wird – auch wenn es sich hierbei nicht um eine starre Grenze handelt – unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat, die Bestellung eines Pflichtverteidigers i.d.R. geboten sein, auch wenn sich die Straferwartung erst aus einer wertenden Gesamtschau ergibt (vgl. u.a. LG Berlin, Beschl. v. 17.6.2015 – 504 Qs 67/15 [sog. Gesamtstrafübel]; LG Kleve, Beschl. v. 14.11.2014 – 120 Qs 96/14, NStZ-RR 2015, 51 = StRR 2015, 183; AG Backnang, Beschl. v. 2.12.2014 – 2 Ds 95 Js 81545/13, StRR 2015, 184). Auch bei einer Strafdrohung unterhalb eines Jahres liegt aber ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers nach einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung geboten erscheint, wie z.B. wegen einer erforderlichen besonders kritischen Würdigung von Zeugenaussagen aus dem familiären Umfeld (AG Backnang, a.a.O.).

Als schwerwiegender mittelbarer Nachteil, den der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat und der die Bestellung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen kann, ist die ggf. in einem anderen Verfahren drohende Unterbringung nach § 64 StGB von Bedeutung (LG Braunschweig, Beschl. v. 20.3.2015 – 14 Qs 21/15). Ist im vorliegenden Verfahren lediglich eine Geldstrafe zu erwarten, so ist eine Pflichtverteidigerbestellung nicht allein deswegen unter dem Gesichtspunkt „Schwere der Tat“ anzuordnen, weil der Bewährungswiderruf hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder höher droht (LG Kleve, a.a.O.).

cc) Bestellung – Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

Ob dann, wenn eine Verständigung i.S.v. § 257c StPO zustande kommen soll, die Rechtslage schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO ist, weil ein Angeklagter sich bei der Erörterung einer solchen Verfahrensweise i.d.R. nicht selbst wirksam verteidigen kann (so OLG Naumburg StraFo 2014, 21 = NStZ 2014, 116 m. abl. Anm. Wenske = StV 2014, 274 = StRR 2014, 70) ist umstritten (verneinend OLG Bamberg StraFo 2015, 67 = StRR 2015, 102 m. abl. Anm. Burhoff).

Bejaht worden ist die Schwierigkeit des Verfahrens bei einem Geldwäschevorwurf in Zusammenhang mit einer Verfallsanordnung sowie Fragen eines Täter-Opfer-Ausgleichs und eines Akteneinsichtsrechts des Verteidigers (LG Traunstein, Beschl. v. 19.1.2015 – 2 Qs 332/14).

Im Steuerstrafrecht, bei dem es sich um Blankettstrafrecht handelt, kann die Rechtslage nur in einer Zusammenschau straf- und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden. Damit ist ein Angeklagter regelmäßig überfordert, wenn er nicht über Spezialwissen verfügt. Eine laienhafte oder intuitive Einschätzung der Rechtslage, wie sie bei Normen des Kernstrafrechts möglich ist, genügt nicht. Dies gilt umso mehr, wenn vertiefte Kenntnisse des Umsatzsteuerrechts erforderlich sind, so dass dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (LG Essen, Beschl. v. 2.9.2015 – 56 Qs 1/15). Ist der Verurteilte im Verfahren nach dem DNA-IFG nicht in der Lage, die Bedeutung der für die Prognose i.S.d. § 81g StPO maßgeblichen Kriterien inhaltlich zu erfassen und selbst hierzu umfassend vorzutragen, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen (LG Cottbus, Beschl. v. 24.7.2014 – 24 Qs 33/13).

Der 2. Strafsenat des BGH hat die Praxis gerügt, wonach Revisionshauptverhandlungen ohne Anwesenheit des vom Angeklagten gewählten Verteidigers durchgeführt werden. Dies genüge nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK. Erscheine ein Wahlverteidiger, dem der Termin der Hauptverhandlung gem. § 350 Abs. 1 StPO mitgeteilt wurde, nicht zur Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht, oder teile er vorab mit, dass er nicht erscheinen werde, sei er daher i.d.R. zum Pflichtverteidiger für die Revisionshauptverhandlung zu bestellen, um das Recht des Angeklagten auf Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK zu wahren (BGH NJW 2014, 3527 = StRR 2015, 25).

Die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers ist i.d.R. nicht wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten, wenn das Berufungsverfahren allein die Frage zum Gegenstand hat, ob der Einspruch gegen einen Strafbefehl zu Recht nach § 412 StPO verworfen wurde (KG, Beschl. v. 4.5.2015 – 1 Ws 20/15).

Von einem Fall der notwendigen Verteidigung ist auszugehen, wenn in der Hauptverhandlung eine Auseinandersetzung mit der Frage erforderlich ist, ob das Ergebnis eines Blutalkoholgutachtens wegen Verletzung des Richtervorbehalts einem Verwertungsverbot unterliegt (§ 81a-StPO-Problematik; s. LG Gera, Beschl. v. 5.8.2015 – 9 Qs 313/15 m.w.N. aus der h.M. in der Rspr.). Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO ist auch bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil nicht geboten, wenn in der Berufungsverhandlung die alle Beweismittel ausschöpfende Beweisaufnahme stattfindet, die eigentlich in 1. Instanz geboten gewesen wäre (OLG Köln NStZ-RR 2012, 215 = StRR 2012, 162 [Ls.]; ähnlich OLG Dresden, Beschl. v. 9.2.2015 – 3 Ws 9/15, StRR 2015, 83 [Ls.] = StV 2015, 541 [Ls.]).

Hinweis:

Für die Frage, ob eine schwierige Sach- und Rechtslage nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, ist auf den Zeitpunkt der Antragstellung für die Pflichtverteidigerbestellung abzustellen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.10.2014 – 16 Qs 35/14, StRR 2015, 183).

dd) Bestellung – Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls. Eine Bestellung eines notwendigen Verteidigers kommt daher insbesondere in Betracht, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 26.6.2015 – 2 Qs 118/15; s.a. OLG Hamm NJW 2003, 3286).

Ist bei mehreren Angeklagten, die eine Tatbeteiligung jeweils bestreiten, zu besorgen, dass die Angeklagten sich in der Hauptverhandlung gegenseitig belasten könnten, gebietet der Grundsatz der „Waffengleichheit“ grundsätzlich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn auch dem anderen Mitangeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist,§ 140 Abs. 2 StPO (LG Braunschweig, Beschl. v. 18.5.2015 – 3 Qs 51/15, StRR 2015, 242 [Ls.] = StV 2015, 543 [Ls.]; ähnlich für das JGG-Verfahren LG Köln StraFo 2015, 163; zur Bestellung in den Fällen der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung s. Burhoff, EV, Rn. 2901 ff.).

Liegt nicht der gesetzlich geregelte Fall einer gerichtlichen Beiordnung eines Verletztenbeistands nach den §§ 397a, 406g Abs. 3, 4 StPO vor, sondern bedient sich der Nebenkläger auf eigene Kosten in der Hauptverhandlung des Beistands eines Rechtsanwalts, spricht keine Vermutung für die Unfähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung. Diesem ist demgemäß weder i.d.R. ein Pflichtverteidiger beizuordnen noch darf von der Bestellung eines Pflichtverteidigers gar nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen besonderer Umstände abgesehen werden. Vielmehr ist ohne Bindung an eine Vermutung im Wege einer Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falls zu untersuchen, ob erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung begründet sind (KG StV 2012, 714 = StRR 2012, 260; vgl. auch LG Braunschweig, Beschl. v. 4.11.2014 – 13 Qs 216/14, StRR 2014, 462 = StV 2015, 543 [Ls.]). Das gilt auch nach der Einfügung des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO (KG, Beschl. v. 27. 8. 2015 – 4 Ws 81/15).

Kann die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gem. § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden, begründet das die Schwierigkeit der Sachlage (LG Köln StV 2015, 20; LG Leipzig, Beschl. v. 25.6.2013 – 8 Qs 22/13 [Insolvenzstrafverfahren]; LG Magdeburg, Beschl. v. 2.6.2015 – 25 Qs 828 Js 75909/13 [schwierige Beweiswürdigung]; LG Essen, Beschl. v. 2.9.2015 – 56 Qs 1/15 [Steuerstrafverfahren: zur Prüfung der die Tatvorwürfe, ist die Kenntnis der Berechnungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und die Auswertung von Geschäftsunterlagen erforderlich ist]; vgl. aber auch LG Frankfurt/M. StV 2015, 20).

Hat ein Angeklagter als Ausländer Verständigungsschwierigkeiten, so ist ihm wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung regelmäßig ein Verteidiger beizuordnen. Dies gilt zwar nicht ausnahmslos. Insbesondere hat dies jedoch dann zu gelten, wenn ein Fall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten von Gewicht aufweist, die unter Heranziehung eines Dolmetschers nicht ohne weiteres ausräumbar erscheinen (LG Freiburg, Beschl. v. 18.8.2015 – 8 Qs 7/15; LG Hannover, Beschl. v. 19.1.2015 – 70 Qs 2/15, Nds.Rpfl. 2015, 138).

ee) Bestellung – Strafvollstreckungsverfahren

Nach § 109 Abs. 3 StVollzG n.F. stellt die Pflichtverteidigerbestellung den Regelfall dar (KG NStZ-RR 2015, 123 [Ls.] m. Anm. Neumann StRR 2015, 73). Im Vollstreckungsverfahren ist i.Ü. in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann. Das kann regelmäßig dann der Fall sein, wenn eine Entscheidung gem. § 57a StGB oder über den Beginn und die Fortdauer der Vollstreckung einer unbefristeten stationären Maßregel gem. §§ 63, 66 StGB ansteht. Ist dagegen allein über den (weiteren) Vollzug einer befristeten Strafe oder Maßregel zu befinden, so kann nach den Umständen des Einzelfalls eine Beiordnung geboten sein. In anderen, weniger gewichtigen Fällen, in denen insbesondere auch nicht über die (längere) Vollstreckung von freiheitsentziehenden Rechtsfolgen zu entscheiden ist, wird eine Beiordnung eher fernliegen (KG, a.a.O.).

Droht dem Verurteilten nach einem Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung die Verbüßung einer fast zweijährigen Freiheitsstrafe, so ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er unter Betreuung steht (LG Magdeburg, Beschl. v. 19.9.2014 – 21 Qs 68/14, StraFo 2015, 116 = StRR 2015, 3 [Ls.]; StRR 2015, 202 [Ls.]; vgl. auch noch LG Kiel, Beschl. v. 29.7.2014 – 2 Qs 41/14, StRR 2014, 322 zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren, wenn nach einem Bewährungswiderruf Freiheitsentzug von rund 4 Jahren und 3 Monaten zu vollstrecken ist). Im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn Gericht und Staatsanwaltschaft abweichende Rechtsauffassungen vertreten (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.10.2014, StRR 2015, 183; AG Backnang, Beschl. v. 13.8.2014 – 2 BWL 90/11, StV 2015, 47 = StRR 2014, 363 [Ls.]; ähnlich wenn der Widerrufsgrund in zwei Instanzen unterschiedlich bewertet wurde) oder wenn es sich bei dem Verurteilten um einen Ausländer handelt (OLG Frankfurt/M. StV 2015, 229-230 = NStZ-RR 2015, 229).

Hinweis:

Im Maßregelvollstreckungsverfahren über die Fortdauer der Unterbringung (hier: in einer Entziehungsanstalt) ist dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder die Entscheidung von besonders hohem Gewicht und ersichtlich ist, dass sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist dabei in entsprechender Anwendung der §§ 140 Abs. 2, 141 ff. StPO nicht in allen Fällen der Überprüfung gem. § 67d und § 67e StGB, sondern nur dann erforderlich, wenn insbesondere aufgrund von Besonderheiten oder Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich es als evident erscheint, dass sich der Verurteilte angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, oder wenn sonst die Würdigung aller Umstände – wobei der Dauer der weiteren Freiheitsentziehung besonderes Gewicht zukommt – das Vorliegen eines schwerwiegenden Falls ergibt (OLG Braunschweig, Beschl. v. 18.12.2014 – 1 Ws 343/14, RuP 2015, 116; ähnlich OLG München StV 2015, 46).

Die Bestellung eines Verteidigers für das Vollstreckungsverfahren kann geboten sein, wenn eingeschränkte deutsche Sprachkenntnisse des Verurteilten mit einer erörterungswürdigen Rechtslage (Widerruf der Strafaussetzung ohne rechtskräftige Verurteilung hinsichtlich der Anlasstat für den Widerruf) zusammentreffen (OLG Hamm, Beschl. v. 9.12.2014 – 3 Ws 431/12).

ff) Bestellung – Strafbefehlsverfahren

Die Bestellung nach § 408b StPO bezieht sich nur auf das Strafbefehlsverfahren und gilt nicht für die Hauptverhandlung (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 Ws 126/14), ggf. kommt aber eine stillschweigende Bestellung in Betracht (OLG Saarbrücken, a.a.O.). Dass sich die Beiordnung nach § 408b StPO nur auf das Strafbefehlsverfahren und nicht auf eine Hauptverhandlung erstrecke, ändert aber nichts an einem Gebührenanspruch des Rechtsanwalts im Hinblick auf eine ggf. durch seine Mitwirkung an einer Einstellung des Verfahrens entstandenen zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG. Dieser knüpft denklogisch nicht an eine Hauptverhandlung an (AG Tiergarten, Beschl. v. 1.9.2015 – (271 Cs) 234 Js 217/13 (167/13]).

gg) Bestellung – Verfahren

Im Ermittlungsverfahren ist grundsätzlich ein Antrag der Staatsanwaltschaft für die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich, da die Prüfung nach § 141 Abs. 3 StPO in erster Linie der Staatsanwaltschaft obliegt (BGH, Beschl. v. 9.9.2015 – 3 BGs 134/15, StRR 2015, 402; s.o. II. 1. a). Der Beschuldigte hat kein eigenes Antragsrecht (BGH, a.a.O.) Die in § 142 Abs. 1 S. 1 StPO normierte „Benennungsfrist“, innerhalb der der Beschuldigte einen Verteidiger seiner Wahl bezeichnen kann, der zum Pflichtverteidiger bestellt werden soll, ist keine Ausschlussfrist (OLG Köln StV 2015, 20 = StRR 2014, 497). Vielmehr ist auch ein Vorschlag des Beschuldigten, der nach Fristablauf eingeht, bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen, solange eine Pflichtverteidigerbestellung noch nicht ergangen ist oder eine bereits ergangene Entscheidung noch keine Außenwirkung erlangt hat (s. dazu schon LG Magdeburg, Beschl. v. 26.3.2013 – 21 Qs 22/13, StRR 2013, 282 [Ls.]). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kann auch konkludent erfolgen (vgl. zuletzt auch BGH, Beschl. v. 4.11.2014 – 1 StR 586/12, StraFo 2015, 37). Erklärt ein Verurteilter bei einer mündlichen Anhörung, er überlasse die Auswahl des Pflichtverteidigers dem Gericht, kann auf die Bestimmung einer Überlegungsfrist i.S.d. § 142 Abs. 1 S. 1 StPO regelmäßig verzichtet werden. Etwas anderes gilt, wenn Zweifel daran bestehen, ob dem Verurteilten die Bedeutung und Reichweite seiner Erklärung bewusst ist (KG, Beschl. v. 8.7.2014 – 2 Ws 239/14).

hh) Bestellung – rückwirkende Bestellung

Die rückwirkende Bestellung eines Strafverteidigers ist unzulässig; daran hält die obergerichtliche Rechtsprechung fest (vgl. OLG Braunschweig, Beschl. v. 18.12.2014 – 1 Ws 343/14, RuP 2015, 116; OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, StRR 2015, 182; s.a. BGH StRR 2010, 29; LG Halle, Beschl. v. 31.7.2015 – 3 Qs 540 Js 25080/14 (151/15), StRR 2015, 389 m. abl. Anm. Barton; s. dazu Burhoff, ZAP F. 22 R, S. 850; Burhoff, EV, Rn. 3040; vgl. auch oben II. 1. b). Von dem Grundsatz ist jedoch jedenfalls dann abzuweichen, wenn ein rechtzeitig beantragter Beiordnungsantrag nicht zeitnah beschieden und aus nicht nachvollziehbaren Gründen über längere Zeit hinweg von der Entscheidung abgesehen worden ist (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 26.6.2015 – 2 Qs 118/15; LG Trier, Beschl. v. 5.6.2015 – 5 Qs 34/15, StRR 2015, 346; s.a. OLG Celle, Beschl. v. 4.8.2015 – 2 Ws 111/15, StRR 2015, 461). Übergeht das Gericht einen deutlichen und unübersehbaren Beiordnungsantrag des Verteidigers und lässt es seine Mitwirkung in der Folge ohne Hinweis auf ein eigenes Kostenrisiko zu, so kann aber eine schlüssige Bestellung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen (OLG Karlsruhe StraFo 2015, 36; OLG Stuttgart, a.a.O.; ähnlich LG Arnsberg StRR 2015 43 [Ls.]). Die stillschweigende Bestellung kann nachträglich festgestellt werden.

Hinweis für den Verteidiger:

Der Verteidiger sollte in diesen Fällen auf jeden Fall zeitnah an die Bestellung erinnern. Das gilt vor allem, wenn eine Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 154 f. StPO im Raum steht. Nicht selten versuchen die AG hier, die erforderliche Bestellung eines Pflichtverteidigers durch Nichtbescheidung eines entsprechenden Antrags zu „unterlaufen“.

ii) Bestellung – Zeitpunkt

Die Pflichtverteidigerbeiordnung im Vorverfahren setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft voraus (vgl. oben II. 1. a). In der Regel muss aber im Ermittlungsverfahren nicht schon vor einer verantwortlichen Vernehmung des Beschuldigten nach dessen Ergreifung aufgrund eines Haftbefehls wegen Mordverdachts ein Pflichtverteidiger bestellt werden (BGHSt 60, 38 = NJW 2015, 265 = StRR 2015, 23).

jj) Entpflichtung – Allgemeines

Allein die Flucht des Angeklagten während laufender Hauptverhandlung und der sich daraus ergebende Kontaktabbruch mit dem Verteidiger stellt keinen wichtigen Grund zur Entpflichtung dar, § 143 StPO (OLG Hamm, Beschl. v. 25.8.2015 – 3 Ws 307/15). Es ist allgemein anerkannt, dass der fehlende Besuch eines Pflichtverteidigers über einen längeren Zeitraum in der Untersuchungshaft bzw. einstweiligen Unterbringung das fehlende Vertrauen des Beschuldigten zu dem beigeordneten Verteidiger rechtfertigt und deshalb einen wichtigen Grund für die Entpflichtung darstellt (zuletzt LG Ingolstadt StV 2015, 27 = NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]; ähnlich LG Siegen, Beschl. v. 20.8.2015 – 10 Qs 57/15; zur Entpflichtung s.a. Burhoff, EV, Rn. 2912). Nach Auffassung des OLG Koblenz werden die Rechte des Angeklagten nicht verletzt, wenn in einer Haftsache mit mehreren Angeklagten die gerichtliche Bestellung des vom Angeklagten bezeichneten Vertrauensanwalts zum Verteidiger wegen dessen Verhinderung an den vorgesehenen Hauptverhandlungsterminen widerrufen und ihm unter Beachtung von § 142 Abs. 1 S. 1 StPO ein anderer Rechtsanwalt als Verteidiger beigeordnet wird (OLG Koblenz NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]; vgl. aber zur Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes und des Umstands der bisherigen mangelnden Verfahrensförderung bei der Entpflichtung des Pflichtverteidigers in einer Nichthaftsache LG Lüneburg, Beschl. v. 10.11.2015 – 31 Qs 19/15).

kk) Entpflichtung – Umbeiordnung

Teilweise vertritt die Rechtsprechung die Auffassung, eine auf Antrag erfolgende „einvernehmliche Umbeiordnung“ sei dann zulässig, wenn der bisherige beigeordnete Verteidiger zustimme, das Verfahren durch den Verteidigerwechsel nicht verzögert werde und der Staatskasse keine Mehrkosten entstünden (vgl. dazu Burhoff ZAP F. 22 R, S. 849 m.w.N.). Die von Gerichts wegen vorgenommene Einschränkung der Pflichtverteidigerbestellung im Rahmen der Auswechselung des Pflichtverteidigers, dass damit der Staatskasse keine zusätzlichen Kosten entstehen (dürfen), entbehrt jedoch einer gesetzlichen Grundlage (LG Hagen, Beschl. v. 3.8.2015 – 31 Qs-400 Js 157/15-1/15 67 Gs 992/15).

ll) Inhaftierter Mandant – Allgemeines

§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gilt auch dann, wenn gegen den Beschuldigten in einem anderen Ermittlungsverfahren Untersuchungshaft vollstreckt wird (LG Trier, Beschl. v. 5.6.2015 – 5 Qs 34/15, StRR 2015, 346; enger LG Bonn NStZ-RR 2012, 15 = StRR 2012, 103 m. Anm. Heydenreich). Die im Bestellungsbeschluss gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ausgesprochene Begrenzung der Verteidigerbestellung „für die Dauer der Untersuchungshaft“ hat als auflösende Bedingung oder als Befristung keinen Bestand. Die Verteidigerbestellung bedarf zur Beendigung eines gerichtlichen Aufhebungsbeschlusses (OLG Hamburg StraFo 2015, 149 = StV 2015, 535).

mm) Inhaftierter Mandant – Beiordnungsverfahren

Das Gebot der „Unverzüglichkeit“ der Pflichtverteidigerbestellung in zeitlichem Zusammenhang mit der Verkündung eines Haftbefehls besagt nur, dass die Entscheidung ohne schuldhaftes Zögern zu ergehen hat. Eine Orientierung hierfür ergeben die Gemeinsamen Empfehlungen der Strafverteidigervereinigungen, wonach einem Beschuldigten eine Regelfrist von zwei Wochen eingeräumt werden sollte (LG Stendal StV 2015, 543).

nn) Inhaftierter Mandant – Entpflichtung

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist aufzuheben, wenn dem Beschuldigten keine ausreichende Gelegenheit gegeben wurde, zur Bestellung des Pflichtverteidigers Stellung zu nehmen (LG Landau StV 2015, 23 = NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]; LG Siegen, Beschl. v. 20.8.2015 – 10 Qs 57/15).

oo) Mehrere Pflichtverteidiger

Ein aktiver (Konflikt)Verteidiger ist kein Grund, neben ihm einen Verteidiger zur Sicherung des Verfahrens zu bestellen (LG Köln StraFo 2015, 376).

pp) Rechtsmittel – Allgemeines

Die Beschwerde des Pflichtverteidigers gegen die Ablehnung seiner Entpflichtung ist wegen § 48 Abs. 2 BRAO, der ein eigenes Recht des Verteidigers auf Aufhebung der Beiordnung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes vorsieht, zulässig (OLG Hamm, Beschl. v. 25.8.2015 – 3 Ws 307/15). In erstinstanzlichen Verfahren vor dem OLG ist der ablehnende Beschluss auf Entpflichtung des Pflichtverteidigers unanfechtbar (BGH StraFo 2015, 203).

qq) Rücknahme der Bestellung

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO kann das Gericht aufheben, wenn sich die für die Anordnung maßgeblichen Umstände wesentlich verändert haben (hier: Haftentlassung in anderer Sache). Das Gericht hat insofern aber einen Ermessensspielraum (LG Magdeburg, Beschl. v. 19.6.2014, 21 Qs 44/14; s.a. OLG Düsseldorf NStZ 2011, 653 = StV 2011, 658). Im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert (OLG Düsseldorf, LG Magdeburg, jeweils a.a.O.).

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2. Anforderungen an die Anklageschrift

Zwei obergerichtliche Entscheidungen haben sich im Berichtszeitraum mit den Anforderungen an eine i.S.d. § 200 StPO ordnungsgemäße Anklageschrift befasst (zur Anklageschrift s. Burhoff, EV, Rn. 462 ff.).

Das war einmal OLG Celle (Beschl. v. 21.5.2015 – 2 Ss 107/15, NStZ 2015, 603 = StRR 2015, 386). In dem Beschluss ging es um die Umgrenzungsfunktion der Anklage bei einem Verstoß gegen das AufenthG. Nach Auffassung des OLG entsprach die Anklageschrift nicht den nach § 200 StPO an eine ordnungsgemäße Anklage zu stellenden Anforderungen (vgl. dazu u.a. auch noch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 200 Rn. 2 m.w.N. [im Folgenden Meyer-Goßner/Schmitt]; BGH NStZ 1994, 350; 1999, 553). Denn der darin enthaltene Vorwurf war – so das OLG – zu unbestimmt, um die Tat zu individualisieren. Vielmehr hatte die Anklageschrift gänzlich auf die Mitteilung konkretisierender Umstände verzichtet. Das ergab sich daraus, dass weder aus der Anklageschrift noch aus dem späteren Urteil deutlich wurde, wann die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat, deren Begehung auf den 14.4.2011 festgelegt worden sei, beendet war. Die Formulierung „bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ sprach nach Auffassung des OLG dafür, dass die Staatsanwaltschaft davon ausging, dass die Beendigung des Delikts erst mit Erlass des Urteils eintreten solle. Das sei jedoch nach dem AufenthG nicht der Fall. Vielmehr beziehe sich eine einzelne Tat auf den Zeitraum, der jeweils durch die Dauer der erteilten Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung bestimmt werde. Deshalb dürfe nicht unklar bleiben, für welchen konkreten Zeitraum dem Angeklagten ein strafrechtlich relevantes Verhalten zur Last gelegt werde, gegen welches er sich angemessen verteidigen kann.

Ähnlich hat das KG in dem zweiten Fall argumentiert (KG, Beschl. v. 12.5.2015 – 121 Ss 152/14, StRR 2015, 385). Verfahrensgegenstand war die Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in der Zeit vom 16.12.2000 bis zum 3.3.2009. Das KG hat wegen einer nicht ausreichenden Anklageschrift ein Verfahrenshindernis angenommen. Die Anklage sei wegen inhaltlicher Mängel unwirksam, weil sie das dem Angeklagten vorgeworfene Tatgeschehen nicht hinreichend umgrenze. Der Anklagesatz kennzeichne bereits keine nach einzelnen Tatzeiten oder anderen individualisierenden Merkmalen bestimmbaren Teilakte der Misshandlung einer Schutzbefohlenen, die zur Umgrenzung des Tatvorwurfs erforderlich wären. Die Anklage gehe nicht über eine allgemein gehaltene und zusammenfassende Schilderung der dem Angeklagten vorgeworfenen Verhaltensweisen nach Tatgruppen über einen sehr langen Tatzeitraum hinaus. Sie lasse die Darstellung auch nur eines konkreten Einzelfalls vermissen.

Praxishinweis:

Solche Mängel in der Anklage spielen in der Praxis immer wieder eine Rolle. Sie sind verknüpft mit der Frage, ob die Mängel so schwerwiegend sind, dass die Anklage unwirksam ist. Ist das der Fall, wird das Verfahren nach § 206a StPO – ggf. noch in der Revisionsinstanz, wie die Entscheidung des KG (a.a.O.) zeigt – eingestellt. Als Faustregel muss man sich merken: Kann der Beschuldigte aufgrund der Anklage nicht erkennen, dass er gemeint ist und was ihm konkret vorgeworfen wird, dann bestehen Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der Anklage und es lohnt sich ein Blick in die dazu vorliegende einschlägige Rechtsprechung.

Allerdings: Es stellt sich immer auch die Frage, ob Mängel der Anklage in der Hauptverhandlung mit einem rechtlichen Hinweis nach § 265 StPO behoben werden können. Dazu verhält sich der OLG Celle-Beschluss nicht, da das AG die Problematik der Unwirksamkeit der Anklage wohl gar nicht gesehen und die Sache einfach hatte „durchlaufen“ lassen. Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur nicht ganz unbestritten. Das OLG Oldenburg (StRR 2010, 69 = StV 2010, 511) und das KG (a.a.O.) haben sie vor kurzem verneint. Sie wird hingegen von Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 Rn. 26 bejaht (a.A. KK-Schneider, § 200 Rn. 41).

Hinweis:

In der Revision wird das Vorliegen einer wirksamen Anklage und damit korrespondierend eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses von Amts wegen geprüft. Der Verteidiger muss dazu also keine Ausführungen machen. Er sollte aber dennoch ggf. den Finger in die Wunde legen.

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III. Hauptverhandlung

1. Eigenmächtiges Ausbleiben des Angeklagten

Nach § 231 Abs. 2 StPO kann die Hauptverhandlung ausnahmsweise ohne den Angeklagten fortgesetzt werden, wenn dieser der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben ist. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „Eigenmacht“ liegt vor, wenn der Angeklagte wissentlich und ohne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der weiteren Hauptverhandlung fern bleibt (vgl. BGHSt 56, 298 = StRR 2011, 424). Ein eigenmächtiges Ausbleiben ist dagegen zu verneinen, wenn der Angeklagte in dem Glauben ist, nicht zum Termin erscheinen zu müssen, etwa weil das Gericht ihm das Ausbleiben entweder gestattet oder den Anschein hervorgerufen hat, es sei mit seiner Abwesenheit einverstanden (vgl. BGHSt 37, 249, 252; 3, 187, 190; OLG Celle StraFo 2012, 140).

Mit den damit zusammenhängenden Fragen setzt sich der KG (Beschl. v. 10.4.2015 – (2) 121 Ss 58/15, StRR 2015, 344 m. Anm. Burhoff) auseinander. Dort war der Angeklagte, der der deutschen Sprache nicht mächtig war, nachdem er zur Anklage vernommen war, zum darauf folgenden Fortsetzungstermin erschienen. Nachdem das Gericht das Fehlen eines Dolmetschers bemerkt hatte, wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden gefragt, ob er nicht bereit wäre, den Saal zu verlassen. Da der Angeklagte dies nicht verstand, wandte sich – mit Einverständnis des Vorsitzenden – die Nebenklagevertreterin in spanischer Sprache an den Angeklagten, der daraufhin den Saal verließ. Die Sitzung wurde um 8.59 Uhr ohne den Angeklagten fortgesetzt. Sodann wurde ein Sachverständigengutachten verlesen. Danach ergänzte die Nebenklägerin ihren Adhäsionsantrag um einen weiteren Feststellungsantrag. Im Anschluss daran wurde die Sitzung um 9.05 Uhr beendet.

Das KG hat darin, dass das LG die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt hat, einen gem. § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des Urteils führenden Rechtsfehler gesehen. Denn es hätten keine Gründe vorgelegen, welche ausnahmsweise die Fortsetzung der Verhandlung ohne den Angeklagten gestatteten. Eine Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten gem. § 231 Abs. 2 StPO sei nicht möglich gewesen. Denn dann hätte der Angeklagte der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben sein müssen. Das sei aber nicht der Fall. Vielmehr sei angesichts des Vortrags der Revision davon auszugehen, dass der Vorsitzende das Ausbleiben des Angeklagten nicht nur hingenommen, sondern – durch seine in Gestalt einer Frage formulierte Bitte – sogar selbst initiiert habe. Grund hierfür sei offenkundig gewesen, dass an diesem Verhandlungstag kein Dolmetscher zugegen gewesen sei und der Vorsitzende – zu Recht – eine Fortsetzung der Verhandlung scheute, da dies mit dem Anspruch des Angeklagten aus § 187 Abs. 1 S. 1 GVG unvereinbar gewesen wäre. Ebenso gesetzwidrig sei es jedoch gewesen, die erforderliche Heranziehung eines Dolmetschers dadurch zu umgehen, den Angeklagten zu bitten, den Saal zu verlassen. Zwar sei, nachdem der Angeklagte den Saal verlassen hatte, die Bestellung eines Dolmetschers überflüssig geworden. Doch sei das Vorgehen des Vorsitzenden in keiner Weise mit dem Recht und der Pflicht des Angeklagten zur fortdauernden Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§§ 230 ff. StPO) in Einklang zu bringen. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Angeklagte der „Anregung“ des Vorsitzenden letztlich widerspruchslos gefolgt sei und auch keiner der anderen Verfahrensbeteiligten – namentlich der Verteidiger und die Staatsanwältin – gegen eine solche Vorgehensweise Bedenken erhoben hätte. Denn die Anwesenheitspflicht des Angeklagten stehe grundsätzlich nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten; sie sei – vorbehaltlich einzelner, hier nicht einschlägiger Ausnahmeregelungen wie etwa §§ 231c, 233 StPO – einer „konsensualen Regelung“ von vornherein nicht zugänglich (vgl. BGH NJW 1973, 522; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70; OLG Hamm StV 2007, 571).

Hinweis:

Vergleichbare Verstöße – von denen es hoffentlich nicht zu viele gibt – müssen mit der Revision/Verfahrensrüge als ein Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht werden. Entscheidend für den Erfolg der Revision ist, dass die Abwesenheit (des Angeklagten) sich auf einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung bezogen hat. Das war in dem vom KG entschiedenen Sachverhalt der Fall. Denn während der Abwesenheit des Angeklagten ist die Beweisaufnahme u.a. durch die Verlesung eines Sachverständigengutachtens fortgesetzt worden. Die Beweisaufnahme ist aber grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, ohne dass es auf die Dauer der Abwesenheit des Angeklagten ankommt (vgl. OLG Hamm NJW 1992, 3252; Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 Rn. 37 m.w.N.).

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2. Mobiltelefon in der Hauptverhandlung

Wenn man den der BGH-Entscheidung (Urt. v. 17.6.2015 – 2 StR 228/14, NJW 2015, 2986 = StraFo 2015, 413 = StRR 2015, 422 m. Anm. Burhoff; allgemein zum Mobiltelefon in der Hauptverhandlung Fromm StraFo 2015, 445) zugrunde liegenden Sachverhalt liest, weiß man, dass das Mobiltelefon bzw. Smartphone auch im Gerichtssaal angekommen ist. Im entschiedenen Fall hatte die Revision des Angeklagten nämlich mit einer Verfahrensrüge Erfolg, mit der ein Verstoß gegen §§ 24 Abs. 1 u. 2, 338 Nr. 3 StPO geltend gemacht worden ist. Dieser Rüge lag zugrunde, dass der Angeklagte u.a. eine beisitzende Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hatte, da diese während der Vernehmung eines Zeugen am vierten Hauptverhandlungstag über einen Zeitraum von etwa zehn Minuten mehrfach ihr Mobiltelefon bedient habe. Aufgrund des mit der Bedienung des Mobiltelefons und dem Schreiben von Kurzmitteilungen einhergehenden Aufmerksamkeitsdefizits sei – so der Angeklagte – das Fragerecht bzw. die Fragemöglichkeit der abgelehnten Richterin eingeschränkt. Damit sei der Eindruck erweckt worden, die Richterin habe sich mangels uneingeschränkten Interesses an der Beweisaufnahme bereits zur Tat- und Schuldfrage der Angeklagten festgelegt. In ihrer dienstlichen Erklärung hatte die Beisitzerin u.a. ausgeführt, ihr vor ihr liegendes stumm geschaltetes Mobiltelefon in der Hauptverhandlung als „Arbeitsmittel“ zu nutzen. Die an diesem Tag erwartete Sitzungszeit sei bereits deutlich überschritten gewesen. Einen (stummen) Anruf von zu Hause habe sie mit einer vorgefertigten SMS des Inhalts „Bin in Sitzung“ beantwortet; eine weitere dringende SMS-Anfrage bezüglich der weiteren Betreuung der Kinder habe sie „binnen Sekunden“ beantwortet. Auf Rüge der Verteidigung habe sie diesen Sachverhalt öffentlich gemacht und sich entschuldigt. Das LG hat den Befangenheitsantrag als unbegründet zurückgewiesen.

Der 2. Strafsenat des BGH hat hingegen die von dem Angeklagten gehegte Besorgnis der Befangenheit geteilt. Der Angeklagte habe bei verständiger Würdigung Grund zu der Annahme, der Richter nehme ihm gegenüber eine Haltung ein, die dessen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Auch aus der Sicht eines besonnenen Angeklagten gebe die private Nutzung des Mobiltelefons durch die beisitzende Richterin während laufender Hauptverhandlung nämlich begründeten Anlass zu der Befürchtung, die Richterin habe sich mangels uneingeschränkten Interesses an der dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit unterfallender (vgl. § 261 StPO) Beweisaufnahme auf ein bestimmtes Ergebnis festgelegt. Angesichts der Tatsache, dass es die beisitzende Richterin wegen der erwarteten Überschreitung der Sitzungszeit mit vorgefertigter SMS offensichtlich von vornherein darauf angelegt habe, aktiv in der Hauptverhandlung in privaten Angelegenheiten nach außen zu kommunizieren, komme es entgegen der Auffassung im ablehnenden Beschluss des LG auch nicht darauf an, ob deswegen die Aufmerksamkeit der Richterin erheblich reduziert gewesen sei. Denn die beisitzende Richterin habe sich während der Zeugenvernehmung durch eine mit der Sache nicht im Zusammenhang stehende private Tätigkeit nicht nur gezielt abgelenkt und dadurch ihre Fähigkeit beeinträchtigt, die Verhandlung in allen wesentlichen Teilen zuverlässig in sich aufzunehmen und zu würdigen, sie habe damit auch zu erkennen gegeben, dass sie bereit sei, in laufender Hauptverhandlung Telekommunikation im privaten Bereich zu betreiben und dieses über die ihr obliegenden dienstlichen Pflichten zu stellen. Von kurzfristigen Abgelenktheiten, wie sie während einer länger andauernden Hauptverhandlung auftreten können, unterscheide sich dieser Fall dadurch, dass eine von vornherein über den Verhandlungszusammenhang hinausreichende externe Telekommunikation unternommen werde; eine solche sei mit einer hinreichenden Zuwendung und Aufmerksamkeit für den Verhandlungsinhalt unvereinbar. Da es sich auch nicht um ein unbedachtes Verhalten der abgelehnten Richterin gehandelt habe, das durch Klarstellung und Entschuldigung beseitigt werden könne, hätte das Ablehnungsgesuch nicht zurückgewiesen werden dürfen.

Hinweis:

M.E. ist dem BGH beizutreten. Dabei ist für mich nicht so entscheidend, ob und wie die Beisitzerin die SMS vorbereitet hat, sondern vielmehr der Umstand, dass sie sich in laufender Sitzung mit privaten Dingen beschäftigt hat. Daraus kann m.E. auch ein besonnener Angeklagter ableiten, dass es dieser Richterin offenbar nicht (mehr) darauf ankommt, was in der noch laufenden Hauptverhandlung geschieht, welche Beweisergebnisse noch zu erwarten sind, weil für sie die Entscheidung schon feststeht. In dem Zusammenhang ist es für mich auch unerheblich, ob es sich um einen einmaligen SMS-Kontakt oder um mehrere SMS handelt. Allein der Umstand, dass die Richterin ihre privaten Dinge in den Vordergrund, also über die Ereignisse in der Hauptverhandlung, stellt, reicht m.E. aus die Besorgnis – und nur darauf kommt es nach § 24 StPO an – der Befangenheit zu bejahen. Wehret den Anfängen und somit: Finger weg vom Handy.

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IV. Rechtsmittelverfahren/Berufungsverwerfung

Am 25.7.2015 ist das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ vom 17.7.2015 mit der in § 329 Abs. 1 StPO erweiterten Vertretungsmöglichkeit des Angeklagten im Berufungshauptverhandlungstermin durch einen „vertretungsbereiten Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht“ in Kraft getreten (BGBl. I, S. 1332; vgl. dazu Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2015, Rn. 691 ff.). Dazu liegt inzwischen die erste – soweit ersichtlich – obergerichtliche Entscheidung vor, nämlich der Beschluss des KG v. 16.9.2015 – (2) 121 Ss 141/15 (051/15). Allerdings: Der Beschluss behandelt keine materielle Verfahrensfrage der eigentlichen Änderungen i.S.d. § 329 StPO, sondern es geht um eine Übergangsproblematik. Das LG hatte am 7.7.2015 – also noch nach altem Recht – eine Berufung verworfen. Dagegen ist Revision eingelegt worden, mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts durch die fehlerhafte Anwendung des § 329 StPO a.F. gerügt worden ist. Der Angeklagte hat geltend gemacht, das LG habe die Berufung trotz seines Ausbleibens nicht gem. § 329 Abs. 1 StPO a.F. verwerfen dürfen. Vielmehr hätte es ihn in konventionskonformer Auslegung der genannten Vorschrift als durch seine Verteidigerin in zulässiger Weise vertreten ansehen müssen.

In dem Zusammenhang prüft das KG die Frage, ob für das Revisionsverfahren § 329 StPO in der alten oder aber in der ab 25.7.2015 geltenden Fassung zugrunde zu legen ist. Es entscheidet sich für § 329 StPO a.F. Der Nachprüfung sei die bis zum 24.7.2015 geltende Fassung des § 329 StPO zugrunde zu legen. Die Neufassung des § 329 Abs. 1 StPO durch das Gesetz vom 17.7.2015 sei erst am 25.7.2015 in Kraft getreten und finde auf den zu entscheidenden Fall keine Anwendung. Regelungen über eine Rückwirkung enthalte das Gesetz nicht. Nach dem Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts erfasse eine Änderung des Verfahrensrechts, soweit – wie hier – nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt sei, zwar auch bereits anhängige Verfahren (vgl. BVerfGE 87, 48; BGHSt 22, 321; 26, 288; OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.3.2007 – 3 Ws 240/07; OLG Hamburg NStZ-RR 2003, 46; Meyer-Goßner/Schmitt, § 354a, Rn. 4). Dieser Grundsatz gelte nicht nur für Rechtsvorschriften, sondern auch für Bestimmungen, welche die Stellung von Verfahrensbeteiligten, ihre Befugnisse und Pflichten betreffen, sowie für Vorschriften über die Vornahme und Wirkungen von Prozesshandlungen (vgl. BGHSt 22, 321, 325). Die Änderung erfasse das Verfahren aber in der Lage, in der es sich bei Inkrafttreten der neuen Vorschrift befindet (vgl. BGH, a.a.O.). Für ein bereits beendetes prozessuales Geschehen gelte eine Verfahrensänderung nicht (vgl. BayObLGSt 1954, 92; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamm NJW 1975, 701; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 354a Rn. 6; KK-Gericke, § 355 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 203).

Hinweis:

Der vom KG behandelte Fall stellt einen Sonderfall dar, in dem also altes Recht gilt. Ansonsten: Geht es jetzt um die Berufung in am 25.7.2015 bereits anhängiger Verfahren oder demnächst um ab dem 25.7.2015 eingelegte Berufungen gilt neues Recht.

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V. Bußgeldverfahren

In den vergangenen Jahren hat im (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren die Frage der Akteneinsicht des Betroffenen/Verteidigers in die Bedienungsanleitung und/oder andere Messunterlagen eine große Rolle gespielt (vgl. dazu Cierniak zfs 2012, 664 ff.; Cierniak/Herb DAR 2014, 2; Burhoff VRR 2011, 250; ders., VA 2012, 50; ders., VRR 2012, 130; zur Rspr. Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 4. Aufl. 2015, Rn. 254 ff.; Burhoff in: Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Aufl. 2015, § 5 Rn. 244 ff.). Diese Frage ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Gestritten wird derzeit vermehrt darum, ob der Betroffene/Verteidiger einen Anspruch auf die sog. Rohmessdaten hat und ihm diese und/oder Token/Passwort zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies wird – soweit ersichtlich – von den AG übereinstimmend bejaht.

Exemplarisch ist in dem Zusammenhang der Beschluss des AG Weißenfels zu nennen (Beschl. v. 3.9.2015 – 10 AR 1/15, zfs 2015, 592 = StRR 2015, 437; vgl. auch noch AG Kassel zfs 2015, 354; AG Trier, Beschl. v. 9.9.2015 – 35 OWi 640/15; AG Kempten, Beschl. v. 10.9.2015 – 24 OWi 220 Js 15207/15; AG Bergisch Gladbach, Beschl. v. 2.10.2015 – 48 OWi 35/15 [b]). Das hat die Bußgeldstelle verpflichtet, die sog. Rohmessdaten der Messserie, auf der das Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung gegen den Betroffenen beruhte, in unverschlüsselter Form zur Verfügung zu stellen. Das begründet das AG mit den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der Gewährung rechtlichen Gehörs. Liege dem Bußgeldbescheid ein standardisiertes Messverfahren zugrunde, so obliege es dem Betroffenen, konkrete und einer Beweiserhebung zugängliche Umstände zu einem Messfehler vorzutragen. Hierzu bedürfe es zunächst neben dem Einsichtsrecht in das Messprotokoll und den Eichschein des Messgeräts auch der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung sowie in die erforderlichen Fotos, also z.B. beim Gerät ES 3.0 in das Messfoto und das sog. Fotolinienbild. Darüber hinaus müsse dem Betroffenen auf sein Verlangen hin aber auch die bei der Messung erstellte Messdatei zugänglich gemacht werden, um ihm – unter Hinzuziehung eines privaten Sachverständigen – die Möglichkeit zu geben, eventuelle Messfehler zu entdecken und im Verfahren substantiiert behaupten zu können. Würde man dem Betroffenen dieses Einsichtsrecht unter Hinweis darauf versagen, dass die Daten vom Gerätehersteller verschlüsselt werden und nur durch diesen in unverschlüsselter Form zur Verfügung gestellt werden können, würde der Betroffene in seinen Verfahrensrechten unzulässig eingeschränkt. Der Betroffene könne diesbezüglich auch nicht auf die Möglichkeit des Einspruchs und das anschließende gerichtliche Verfahren verwiesen werden. Eine Beweiserhebung kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn der Betroffene konkrete Umstände zu einem Messfehler vorträgt. Kenne er die Rohdaten nicht bzw. könne er diese nicht unverschlüsselt auslesen, so werde ihm diese Möglichkeit zumindest teilweise genommen. Ein Beweisantrag des Betroffenen wäre dann durch das Gericht als „ins Blaue hinein gestellt“ möglicherweise abzulehnen.

Die Verwaltungsbehörde kann sich nach Auffassung der AG (s.o.) auch nicht darauf zurückziehen, dass die Daten durch den Hersteller verschlüsselt werden und derzeit lediglich dieser zur Entschlüsselung in der Lage ist. Wie durch das Urteil des OLG Naumburg vom 27.8.2014 (DAR 2015, 27) eindeutig festgestellt wurde, steht die Befugnis, über die Messdaten zu verfügen, der Behörde zu, die diese Daten erzeugt und abgespeichert hat. Es ist insoweit Sache der Verwaltungsbehörde, die Rohdaten in unverschlüsselter Form zu beschaffen und dem Betroffenen auf sein Verlangen hin zur Verfügung zu stellen. Genauso wenig kann der Betroffene darauf verwiesen werden, die unverschlüsselten Rohdaten unmittelbar bei der Herstellerfirma des Messgerätes anzufordern, denn diese wäre zu einer Herausgabe an den Betroffenen gar nicht berechtigt, da sie keine Befugnis hat, über diese Daten zu verfügen (OLG Naumburg, a.a.O.).

Hinweis:

Das AG Trier (a.a.O.) weist in dem Zusammenhang ausdrücklich auf die Entscheidung des OLG Oldenburg hin (DAR 2015, 406), wonach die Messdatei zwar nicht Aktenbestandteil sei, sie jedoch als Grundlage und originäres, unveränderliches Beweismittel der Geschwindigkeitsmessung rechtzeitig vor der Hauptverhandlung einem Betroffenen auf dessen Wunsch hin zugänglich zu machen sei. Werden die Daten nicht zur Verfügung gestellt, muss der Verteidiger dagegen mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG vorgehen.

Ob er gegen eine gerichtliche Entscheidung mit der Beschwerde nach § 304 StPO vorgehen kann, ist nicht unbestritten, da die h.M. seit einiger Zeit insoweit auf § 305 S. 1 StPO verweist (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 372 m.w.N.). Das LG Neubrandenburg sieht eine Beschwerde allerdings zumindest dann als zulässig an, wenn dem Betroffenen ein Rechtsmittel gegen das Urteil nicht, oder, wenn zwar ein Rechtsmittel gegen das Urteil zusteht, die betroffene Entscheidung aber im Rahmen dieses Rechtsmittels nicht überprüft werden kann. Die „vage Möglichkeit“ der Zulassung der Rechtsbeschwerde sei insoweit aber nicht ausreichend (LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.9.2015 – 82 Qs 112/15, StRR 2015, 436). Das bedeutet, dass zumindest in allen „Zulassungsfällen“ nach § 80 OWiG die Beschwerde zulässig ist.

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