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Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (II/2016)
Anfang Juni 2016 hat das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz (BMJV) einen Referentenentwurf zur Reform der StPO vorgelegt
(s. ZAP Anwaltsmagazin 13/2016, S. 664). Dieses Gesetz zur
effektiveren und praxistauglicherenAusgestaltung des
Strafverfahrens basiert auf den Empfehlungen der Expertenkommission,
die Ende 2015 ihren Bericht abgegeben hatte (vgl. zu dem Bericht
Schünemann StraFo 2016, 45; von Galen ZRP 2016, 42; Basar StraFo 2016,
226). Der Referentenentwurf, der auf der Homepage des BMJV eingestellt ist,
sieht u.a. folgende Änderungen, die der Entlastung der Gerichte dienen
sollen aber auch an der ein oder anderen Stelle die Beschuldigtenrechte
ausbauen, vor:
Der Entwurf sieht für Befangenheitsanträge die
Möglichkeit vor, dem Antragsteller unter angemessener Fristsetzung die
Begründung in Schriftform aufzugeben (§ 26 Abs. 1 S. 2
StPO-E).
Bei Befangenheitsanträgen kurz vor Beginn der
Hauptverhandlung soll diese vor der Entscheidung bis zur Verlesung des
Anklagesatzes weitergeführt werden dürfen (§ 29 Abs. 1
S. 2 StPO-E).
Die Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung von
Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren wird in
§ 58a Abs. 1 i.V.m. §§ 136 Abs. 4, 163a
StPO-E erweitert.
In Zukunft soll die bislang nur in den RiStBV geregelte Pflicht zur
Anhörung des Beschuldigten vor der Auswahl eines
Sachverständigen in der StPO, hier in § 73 Abs. 3
StPO-E, ausdrücklich geregelt sein.
Vorgesehen ist ein ausdrückliches Antragsrecht des
Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers im
Ermittlungsverfahren (§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO-E) sowie im
Fall richterlicher Vernehmungen (§ 141 Abs. 3 S. 5 StPO-E)
eine besondere Regelung für die Pflichtverteidigerbestellung.
§ 148 Abs. 2 StPO-E stellt klar, dass
Anbahnungsgespräche zwischen Verteidiger und inhaftiertem
Beschuldigten nicht überwacht werden dürfen.
§ 153a Abs. 2 S. 1 StPO-E soll demnächst
auch im Revisionsverfahren anwendbar sein.
Vorgesehen ist die Pflicht von Zeugen, demnächst auf
Ladung der Polizei erscheinen zu müssen, wenn ein Auftrag
der Staatsanwaltschaft dazu vorliegt (§ 163 Abs. 3 StPO-E).
Nach § 213 Abs. 2 StPO-E soll in umfangreichen
erstinstanzlichen Verfahren (mehr als drei Hauptverhandlungstage) der
äußere Ablauf der Hauptverhandlung vor Terminabstimmung mit
den Verfahrensbeteiligten erörtert werden.
In § 243 Abs. 5 S. 2 StPO-E wird das Recht der
Verteidigung auf ein opening statement nach Verlesung des
Anklagesatzes eingeführt.
Im Beweisantragsrecht wird die Möglichkeit einer
angemessenen Frist zum Stellen von Beweisanträgen
eingeführt, sobald die von Amts wegen vorgesehene Beweisaufnahme
abgeschlossen ist. Nach Fristablauf gestellte Beweisanträge können
dann erst im Urteil beschieden werden, es sei denn, die Frist wurde ohne
Verschulden überschritten (§ 244 Abs. 6 S. 2, 3
StPO-E). Für das Verschulden sollen die Grundsätze zur
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand heranzuziehen sein.
2. Abschaffung des
Richtervorbehalts für die Anordnung von Blutproben?
Ein weiterer Referentenwurf betrifft den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes und der
Strafprozessordnung (s. ZAP Anwaltsmagazin 14/2016, S. 721). Er
enthält u.a. die lange erwartete Umgestaltung des§ 81a Abs. 1 StPO, Stichwort: Richtervorbehalt bei der
Blutentnahme. Angefügt werden soll ein Satz 2: Die Anordnung der
Entnahme einer Blutprobe steht abweichend von Satz 1 der Staatsanwaltschaft,
bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch ihren
Ermittlungspersonen zu, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für eine
rechtswidrige Tat vorliegen, die der Beschuldigte bei oder im Zusammenhang mit
dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines
Kraftfahrzeugführers begangen hat. Mit dieser Einfügung in
§ 81a Abs. 2 StPO wird eine Ausnahme vom bisherigen
Richtervorbehalt, der für sämtliche körperlichen
Untersuchungen des Betroffenen i.S.d. § 81a Abs. 1 StPO gilt,
geregelt. Einer richterlichen Anordnung für die Entnahme einer Blutprobe
nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO bedarf es danach nicht mehr,
wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung einer rechtswidrigen
Tat vorliegen, die der Beschuldigte entweder bei dem Führen eines
Kraftfahrzeugs oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs
oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen
hat und der Untersuchungserfolg durch Verzögerung gefährdet ist. Die
Voraussetzungen der drei Varianten des Verkehrsbezugs entsprechen denjenigen,
die in § 44 StGB zur Beschreibung des Kreises der Anlassdelikte
für die Verhängung eines Fahrverbots derzeit verwendet werden (vgl.
statt aller Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 44 Rn 6 ff.),
und denjenigen, die in § 69 StGB der Verhängung der
Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis zugrunde liegen (Fischer,
a.a.O., § 69 Rn 9 ff.). Von der Regelung erfasst werden
daher in erster Linie die Straßenverkehrsdelikte nach den
§§ 315c, 316 StGB aber auch das unerlaubte Entfernen vom
Unfallort gem. § 142 StGB sowie etwaige im Zusammenhang mit dem
Unfall stehende Delikte.
Die Neuregelung überträgt die Anordnungsbefugnis vom Gericht
auf die Staatsanwaltschaft (StA). Ihr steht die Anordnung der Entnahme der
Blutprobe vorrangig zu, die Polizeibehörden als Ermittlungspersonen der
StA sind nur bei einer Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch
Verzögerung berechtigt, die Maßnahme selbst anzuordnen. Der Entwurf
geht in der Begründung davon aus, dass mit der ausdrücklichen
Aufnahme des Staatsanwaltsvorbehalts in die StPO die
Sachleitungsbefugnis der StA gestärkt und eine vorbeugende Kontrolle durch
eine von der Polizei unabhängige Behörde sichergestellt werde.
Für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch
Verzögerung, in denen die Polizei befugt ist, die Maßnahme selbst
anzuordnen, sollen die für die Annahme der Eilkompetenz in der
Rechtsprechung bislang herausgearbeiteten Grundsätze herangezogen werden
(vgl. dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren,
7. Aufl. 2015, Rn 1170 ff. m.w.N.).
Hinweis:
Im Entwurf heißt es ausdrücklich: Insbesondere
sind die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, die Gefährdung des
Untersuchungserfolges in Eilsituationen mit einzelfallbezogenen Tatsachen zu
begründen und diese Tatsachen in den Ermittlungsakten zu dokumentieren,
sofern die Dringlichkeit nicht evident ist. Das liest sich gut, nur:
Dazu waren die Ermittlungsbehörden auch bislang aufgrund der
Rechtsprechung des BVerfG (vgl. NJW 2010, 2864 = VRR 2010, 307 m. Anm. Burhoff)
schon verpflichtet. Wenn man sich allerdings die Rechtsprechung ansieht, ist
das gelinde ausgedrückt an doch recht vielen Stellen nicht
umgesetzt worden. Ob das nach einer Gesetzesänderung anders wird, wage ich
zu bezweifeln. Die Probleme werden m.E. nur auf eine andere Ebene
verlagert.
Hinzuweisen ist auf zwei Entscheidungen des BGH, die die Frage eines
Beweisverwertungsverbots behandeln, wenn bei der Anordnung einer
Durchsuchung der in § 105 Abs. 1 StPO, Art. 13 Abs. 2
GG vorgesehene Richtervorbehalt nicht beachtet worden ist. Die Entscheidungen
zeigen m.E. mal wieder, dass der BGH, wenn er ein Beweisverwertungsverbot als
erforderlich ansieht, die von ihm an sich vertretene Abwägungslehre
über Bord wirft.
a) Durchsuchung ohne
Beweisverwertungsverbot
Dem BGH (Urt. v. 17.2.2016 2 StR 25/15, StRR 6/2016,
S. 11 mit zust. Anm. Hillenbrand) lag folgender Sachverhalt
zugrunde: Der einschlägig vorbestrafte, erst einige Tage zuvor auf
Bewährung aus der Strafhaft entlassene Angeklagte führte am
29.12.2013 in einer verschlossenen Geldkassette im Auto einer Bekannten, die
die Wegnahme des Fahrzeugs nicht bemerkt hatte, mindestens 100 g
Metamphetamin mit sich. Der Angeklagte fuhr an eine abgelegene Stelle, an der
es bereits öfter zu kriminellen Handlungen und auch zu
Verstößen gegen das BtMG gekommen war. Als ihn dort zwei
Polizeibeamte einer Fahrzeugkontrolle unterziehen wollten, stieg der Angeklagte
aus dem Fahrzeug aus und verriegelte es. Dann gelang ihm zu Fuß die
Flucht. Anschließend wurde das Fahrzeug von der Polizei zu einer
Verwahrstelle abgeschleppt. Dort wurde das Fahrzeug gegen 3.15 Uhr durch
Einschlagen einer Seitenscheibe geöffnet und der Rucksack entnommen. Im
Rucksack befand sich u.a. der Entlassungsschein der JVA mit den Personalien des
Angeklagten. Später wurde, ohne dass zuvor eine richterliche Anordnung
eingeholt worden war, auch noch die Geldkassette aufgebrochen und das
Metamphetamin aufgefunden. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen unerlaubten
Handeltreibens mit BtM in nicht geringer Menge verurteilt. Dabei verwertete es
gegen den Widerspruch der Verteidigung die bei der Durchsuchung von Pkw und
Geldkassette aufgefundenen Beweismittel. Die Revision des Angeklagten hatte
keinen Erfolg.
Der BGH (a.a.O.) sieht in § 163b Abs. 1 S. 3
StPO eine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die
Durchsuchung des Fahrzeugs und des Rucksacks, den der Angeklagte darin
mitgeführt hatte. Diese Vorschrift gestatte nicht nur die Durchsuchung der
Person, sondern auch der mitgeführten Sachen. Dazu zähle für
einen von der Maßnahme betroffenen Fahrzeugführer auch das
Kraftfahrzeug, die gesetzliche Erlaubnis zur Durchsuchung schließe auch
die gewaltsame Öffnung des Durchsuchungsobjekts mit ein. Es habe auch der
erforderliche Anfangsverdacht vorgelegen, nachdem der Angeklagte sich durch
seine Flucht verdächtig gemacht und zudem die Fahrzeughalterin
erklärt hatte, die Wegnahme des Fahrzeugs nicht bemerkt zu haben. Die
Polizeibeamten seien deshalb von einer unbefugten Fahrzeugnutzung oder einem
Fahrzeugdiebstahl ausgegangen. Die spätere Öffnung und Durchsuchung
der Geldkassette habe dagegen nicht mehr der Identitätsfeststellung
gedient und sei deshalb nicht von § 163b Abs. 1 S. 3 StPO
gedeckt gewesen. Es habe sich um eine Durchsuchung i.S.d.
§§ 102, 105 StPO gehandelt, die einer richterlichen Anordnung
bedurft hätte.
Der Umstand, dass diese rechtsfehlerhaft nicht eingeholt worden sei,
führt jedoch nach Auffassung des BGH (a.a.O.) nicht zu einem
Beweisverwertungsverbot. Die Abwägung des Interesses der
Allgemeinheit an der wirksamen Strafverfolgung mit dem Interesse des
Angeklagten an der Einhaltung der Verfahrensvorschriften ergebe, dass der
Verfahrensfehler die Rechte des Angeklagten bei der
Beweisgewinnung nicht erheblich beeinträchtigt habe und das
Interesse an der Verwertung der in der Geldkassette gefundenen Sachbeweise
überwiege. Dabei falle ins Gewicht, dass es um den schwerwiegenden Vorwurf
des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge durch den Angeklagten ging, der einschlägig vorbestraft sei. Nachdem
seine Identität durch Auffinden des Entlassungsscheins aus der
Justizvollzugsanstalt, aus der er bedingt entlassen worden war, bekannt war,
sei auch anzunehmen, dass ein Ermittlungsrichter in dem Fall, dass ein Antrag
auf Gestattung der Durchsuchung der Geldkassette gestellt worden wäre,
höchstwahrscheinlich einen Durchsuchungsbeschluss erlassen hätte.
Diese Möglichkeit der hypothetisch rechtmäßigen
Beweiserlangung sei im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.
Schließlich lägen Anhaltspunkte dafür, dass der
Richtervorbehalt von den Ermittlungsbeamten bewusst missachtet wurde, nicht
vor.
Hinweis:
Das Argument, dass ein Ermittlungsrichter in dem Fall, dass ein Antrag
auf Gestattung der Durchsuchung gestellt worden wäre,
höchstwahrscheinlich einen Durchsuchungsbeschluss erlassen hätte, ist
das Hauptargument der Abwägungslehre, das in vergleichbaren
Fällen immer wieder bemüht wird (vgl. dazu BGHSt 51, 285 = StRR 2007,
145; BGH StraFo 2011, 506 = StRR 2012, 61). Dieses Argument ist aber im Grunde
ein Scheinargument, da sich mit dieser Überlegung ein
Beweisverwertungsverbot immer verneinen lässt.
Ganz anders als im seinem Urteil vom 17.2.2016 (s.o.) hat derselbe Senat
des BGH in seinem Beschluss vom 21.4.2016 (2 StR 394/15, StRR 7/2016,
S. 11) entschieden. Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen eines
Verstoßes gegen das BtM-Gesetz verurteilt. Der Angeklagte hatte mit der
Revision ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich bestimmter vom LG
herangezogener Beweise, und zwar bei einer Durchsuchung seines Pkw erlangter
Erkenntnisse und die Aussage der Ermittlungsbeamten, geltend gemacht. Dieses
hatte er mit folgendem Verfahrensablauf begründet: Am 14.10.2013 bewahrte
der Angeklagte in seinem in der Nähe seiner Wohnung abgestellten Fahrzeug
in einer in der Mittelkonsole versteckten Plastiktüte 93,07 g Kokain
auf, das zum Weiterverkauf bestimmt war. Dieser Pkw ist durchsucht worden. Dazu
kam es wie folgt: Nachdem der Angeklagte am 4.10.2013 vorläufig
festgenommen worden war und sich sodann in U-Haft befand, stießen die
Ermittlungsbeamten im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen wegen einer am
selben Tag begangenen gefährlichen Körperverletzung am 14.10.2013
(Montag) zufällig auf einen weiteren, auf den Angeklagten zugelassenen und
in dessen Wohnortnähe abgestellten Pkw, zu dem die passenden
Fahrzeugschlüssel zuvor sichergestellt worden waren. Da die
Ermittlungsbeamten vermuteten, dass sich in diesem Fahrzeug insbesondere die
bei der Straftat verwendeten Tatwaffen befinden, informierten sie den
Oberstaatsanwalt, der als Vertreter der an sich zuständigen Dezernentin
zuständig war. Dieser Oberstaatsanwalt, dem nicht bewusst war, dass die
den Ermittlungen zugrunde liegende Straftat bereits zehn Tage zurücklag,
ordnete wegen Gefahr in Verzug die sofortige Durchsuchung des Pkw des
Angeklagten an, ohne zuvor zu versuchen, eine richterliche Anordnung zu
erlangen; die Anordnung des Oberstaatsanwalts ist zudem weder schriftlich
dokumentiert, noch sind die die Dringlichkeit rechtfertigenden Tatsachen
(schriftlich) begründet worden. Um 13.35 Uhr durchsuchten
Ermittlungsbeamte den Pkw des Angeklagten und fanden dabei zufällig das
versteckte Kokain; Tatwaffen fanden sie nicht.
Der BGH (a.a.O.) hat in diesem Fall ein
Beweisverwertungsverbot bejaht. Die montags am 14.10.2013 um
13.35 Uhr durchgeführte Durchsuchung sei wegen Missachtung des
Richtervorbehalts rechtswidrig gewesen. Eine gem. § 105
Abs. 1 S. 1 StPO grundsätzlich erforderliche richterliche
Durchsuchungsanordnung habe nicht vorgelegen. Der Angeklagte rüge zu
Recht, dass die Anordnung des Oberstaatsanwalts nicht auf einer
rechtmäßigen Inanspruchnahme seiner sich aus § 105
Abs. 1 S. 1 StPO ergebenden Eilkompetenz beruhte, weil Gefahr im
Verzug objektiv nicht vorlag. Das Fehlen einer richterlichen
Durchsuchungsanordnung führt nach Auffassung des BGH hier auch zu einem
Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der bei der Durchsuchung gewonnenen
Beweismittel. Der BGH geht von einem schwerwiegenden Verstoß (vgl. dazu
BVerfGE 113, 29, 61; BVerfG NJW 2006, 2684, 2686; NJW 2011, 2783, 2784) aus.
Der Gesichtspunkt, wonach dem anordnenden Oberstaatsanwalt nicht bewusst
gewesen sei, dass die den Ermittlungen zugrunde liegende Straftat bereits zehn
Tage zurücklag, ändere an dieser Bewertung nichts. Unbeschadet
dessen, dass eine solche Fehlvorstellung auf nicht
nachzuvollziehender nicht vollständiger Information beruht hat, die
der Sphäre der Ermittlungsbehörden zuzurechnen ist, kann dieser
Umstand es nicht rechtfertigen, dass noch nicht einmal der Versuch unternommen
worden ist, an einem Werktag zu dienstüblichen Zeiten eine richterliche
Entscheidung zu erlangen, zumal der Angeklagte sich in Untersuchungshaft
befunden hatte.
Wenn man so etwas doch nur häufiger lesen würde (anders
eben BGH, Urt. v. 17.2.2016 2 StR 25/15, s.o.) und vor allem, wenn man
auch die weiteren Ausführungen des BGH häufiger lesen würde:
Denn der BGH hat der Auffassung des GBA, der sich auf den Aspekt eines
möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs
berufen hatte, zumindest in diesem Fall eine Absage erteilt. Dem
komme bei wie hier solcher Verkennung des Richtervorbehalts keine
Bedeutung zu (vgl. auch BGHSt 51, 285, 295 f. = StRR 2007, 145; StraFo
2011, 506 = StRR 2012, 61). Und dann weiter: Die Einhaltung der durch
§ 105 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegten Kompetenzregelung
könnte in diesen Fällen bei Anerkennung des hypothetisch
rechtmäßigen Ersatzeingriffs als Abwägungskriterium bei der
Prüfung des Vorliegens eines Beweisverwertungsverbots stets unterlaufen
und der Richtervorbehalt sogar letztlich sinnlos werden. Bei Duldung grober
Missachtungen des Richtervorbehalts entstünde gar ein Ansporn, die
Ermittlungen ohne Einschaltung des Ermittlungsrichters einfacher und
möglicherweise erfolgversprechender zu gestalten. Damit würde das
wesentliche Erfordernis eines rechtstaatlichen Ermittlungsverfahrens
aufgegeben, dass Beweise nicht unter bewusstem Rechtsbruch oder
gleichgewichtiger Rechtsmissachtung erlangt werden dürfen (vgl.
dazu auch schon die vorstehend zitierte BGH-Rechtsprechung).
Hinweis:
Das kann man nur unterschreiben und sich gleichzeitig aber fragen: Und
warum gilt das nicht immer? Oder liegt es daran, dass sich hier ein
Oberstaatsanwalt geirrt hat? Dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung das
Beweisverwertungsverbot mit einem Widerspruch geltend machen muss, ist
selbstverständlich (zur Widerspruchslösung Burhoff, Handbuch für
die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 3499 [im Folgenden
kurz: Burhoff, HV]). Das hatte der Verteidiger in beiden Fällen
beachtet.
Zuletzt wurde in ZAP F. 22 R, S. 862 ff. über aktuelle
Rechtsprechung zu Haftfragen berichtet. An die Zusammenstellung schließt
die nachfolgende Rechtsprechungsübersicht an (vgl. i.Ü. eingehend zu
den mit den Untersuchungshaftfragen zusammenhängenden Problemen Burhoff,
EV, Rn 2170 ff., 3695 ff.).
Akteneinsicht, Aufhebung des Haftbefehls: Der Grundsatz eines
fairen rechtsstaatlichen Verfahrens und der Anspruch des Beschuldigten auf
rechtliches Gehör gebieten es, dem Verteidiger eines inhaftierten
Beschuldigten Einsicht zumindest in die Aktenbestandteile zu geben, auf welche
der Haftbefehl gestützt ist. Allein deshalb weil nach Mitteilung der
Staatsanwaltschaft die Akten verspätet von einer anderen Akteneinsicht zur
Staatsanwaltschaft zurückgelangt sind, kann dem Verteidiger die
Akteneinsicht nicht versagt werden. Es ist dann erforderlich, auf eine
frühere Aktenrücksendung hinzuwirken bzw. Doppelakten zu führen,
welche dem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden können (AG
Magdeburg StV 2016, 448).
Außervollzugsetzung des Haftbefehls, Widerruf,
Voraussetzungen: Der Vollzug eines außer Vollzug gesetzten
Haftbefehls kann nicht angeordnet werden, wenn annähernd sechs Monate
Untersuchungshaft bereits vollzogen sind und die besonderen Voraussetzungen des
§ 121 Abs. 1 StPO wegen einer Verletzung des
Beschleunigungsgebots infolge etwa sechsmonatige Untätigkeit der
Staatsanwaltschaft nicht vorliegen (OLG Karlsruhe StV 2015, 652 =
StRR 2015, 163 [Ls.]). Ein Beschuldigter, der in den Hungerstreik
tritt und eigenmächtig seine Medikamente absetzt, begründet durch
dieses Verhalten die konkrete Gefahr der Herbeiführung der eigenen
Verhandlungsunfähigkeit und verstärkt den Haftgrund der Fluchtgefahr
(wieder) derart, dass es des Vollzugs der U-Haft (wieder) bedarf (OLG Hamm StRR
2015, 277 = NStZ-RR 2015, 283 [Ls.]). Es ist i.Ü. auch bei einer
Außervollzugsetzung eines Haftbefehls das verfassungsrechtlich
verbürgte Recht eines jeden Angeklagten, die eigentliche Haftgrundlage
durch Erhebung einer Haftbeschwerde in Frage zu stellen, weshalb die
bloße Wahrnehmung dieses Rechts nicht zu seinem Nachteil gereichen darf
und zum Widerruf der Außervollzugsetzung führen darf (OLG Karlsruhe
StRR 2015, 123 [Ls.]).
Beschleunigungsgebot, Allgemeines: An den zügigen
Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je
länger die Untersuchungshaft schon andauert (KG, Beschl. v. 17.6.2015
4 Ws 48/15). Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner
Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, wird durch das
Beschleunigungsgebot in Haftsachen begrenzt. Bei der Terminierung ist
deshalb nicht jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Die
terminlichen Verhinderungen des Verteidigers können angesichts der
wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit nur
insoweit berücksichtigt werden, als dies nicht zu einer erheblichen
Verzögerung des Verfahrens führt (OLG Bremen, Beschl. v. 11.1.2016
1 HEs 3/15). Es ist zu beachten, dass das Gebot der besonderen
Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen einer Zurückverweisung durch
das Beschwerdegericht regelmäßig entgegensteht, da diese gerade zu
einer ungerechtfertigten Verzögerung des Verfahrens führt (KG StraFo
2015, 419 = StV 2016, 171). Die verfassungsrechtlichen Vorgaben und
damit auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das
Beschleunigungsgebot gelten nicht nur für den vollstreckten
Haftbefehl, sondern sind auch für einen außer Vollzug gesetzten
Haftbefehl von Bedeutung (OLG Karlsruhe StV 2015, 653 [Ls.]). Das Entstehen
einer Verfahrensverzögerung durch die zwangsweise Anordnung einer
Bronchoskopie zur Klärung der Verhandlungsfähigkeit des
wahrscheinlich an offener Tuberkulose erkrankten Angeklagten kann im Einzelfall
mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen vereinbar sein und die weitere
Vollstreckung der Untersuchungshaft auch über sechs Monate hinaus
rechtfertigen. Bei der Anordnung einer solchen körperlichen Untersuchung
zum Zwecke der Feststellung der Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten
steht dem Tatgericht ein Beurteilungsspielraum zur Verfügung. Daher ist im
Wege der Haftprüfung nach § 121 StPO nur zu prüfen, ob das
Tatgericht die rechtlichen Grenzen dieses Beurteilungsspielraums
überschritten hat (OLG Hamburg, Beschl. v. 20.11.2015 1 Ws
148/15).
Beschleunigungsgebot, Ermittlungsverfahren/Zwischenverfahren:
An einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen
zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert. Es
widerspricht daher regelmäßig dem Beschleunigungsgebot, eine bereits
erhobene Anklage wieder zurückzunehmen, um ein weiteres Verfahren hinzu zu
verbinden, und dann erneut Anklage zu erheben (OLG Nürnberg, Beschl. v.
30.3.2016 1 Ws 109/16).
Beschleunigungsgebot, Hauptverhandlung: Das OLG Nürnberg
hat zu den Anforderungen an die Terminierungsdichte in Umfangsverfahren
bei Vollzug von U-Haft Stellung genommen (StraFo 2015, 288). Danach gibt es
keinen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass ein Verstoß gegen das
Beschleunigungsgebot schematisch an die Durchschnittszahl der Sitzungstage pro
Woche anknüpft und bereits dann vorliegt, wenn in Haftsachen an
durchschnittlich weniger als zwei Tagen in der Woche eine Hauptverhandlung
stattfindet (OLG Nürnberg a.a.O.; so auch
OLG Koblenz StRR 2014, 282 [Ls.]). Gerade der
Verlauf eines sog. Umfangverfahrens, d.h. eines absehbar umfangreichen
Verfahrens, hänge von einer Vielzahl festzustellender Parameter ab, die
bei der Bewertung der Beschleunigung des Verfahrens zu berücksichtigen
seien. So könne es geboten sein, zu Beginn eines Verfahrens
weiträumiger zu terminieren, weil etwa der Verlauf angekündigter
Verständigungsgespräche oder die Entwicklung der
Verteidigungsstrategie mehrerer Verteidiger und das Einlassungsverhalten der
Angeklagten nicht absehbar sind. Nach Durchführung komprimierter
Hauptverhandlungssequenzen könne ein Zeitraum erforderlich werden, um im
Rück- und Ausblick den Fortgang des Verfahrens zu überprüfen und
die weitere Gestaltung zu planen, etwa auch um Fristen für weitere
Beweisanträge zu setzen. Relevant sei auch die Auslastung des Gerichts
durch insbesondere bereits laufende Haftverfahren. Andererseits
könne es auch geboten sein, im Laufe des Verfahrens eine ursprünglich
weitläufigere Terminierung zu verdichten. Das Haftgericht sei daher
gehalten, während laufender Hauptverhandlung die Verfahrensentwicklung
kontrollierend im Auge zu behalten und die Terminierungsdichte laufend
dynamisch an die aktuelle Prozesslage unter Beachtung der Dauer der
bereits vollzogenen Untersuchungshaft anzupassen. Das
Beschleunigungsgebot ist aber nach bereits rund 10 Monaten andauernder U-Haft
jedenfalls dann nicht mehr gewahrt, wenn die in Haftsachen gebotene
Terminierungsdichte nicht annähernd eingehalten wird und es sich bei
bislang stattgefunden Hauptverhandlungsterminen überwiegend um sog.
Schiebetermine gehandelt hat, mit denen nur ein äußerst geringer
Verfahrensfortschritt erzielt werden konnte (LG Dresden, Beschl. v. 30.3.2015
4 Qs 25/15).
Beschleunigungsgebot, Rechtsmittelverfahren: Das
verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot erfasst das gesamte Strafverfahren
und gilt demgemäß auch nach dem Urteilserlass; Verzögerungen
nach dem erstinstanzlichen Urteil fallen aber ggf. geringer ins Gewicht
(OLG Köln StV 2016, 445). Es ist aber nicht hinnehmbar, wenn die
Staatsanwaltschaft mehr als sieben Monate benötigt, um zu entscheiden, ob
sie im Revisionsverfahren eine Gegenerklärung zu den von Verteidigern
erhobenen Verfahrensrügen abgibt (OLG Köln a.a.O.). Auch wenn eine
noch nicht rechtskräftige Freiheitstrafe von zehn Jahren wegen Totschlags
im Raum steht, stellt eine von der Justiz zu verantwortende
Verfahrensverzögerung (von fast zwei Monaten Verzögerung der
Protokollfertigstellung gegenüber der Absetzung der schriftlichen
Urteilsgründe um einen Monat; 11 Tage Verfahrensstillstand, um
Nebenklägern Gelegenheit zur Abgabe einer Revisionsgegenerklärung zu
geben; entgegen § 347 Abs. 1 StPO weitere 14 Tage ohne
Bearbeitung vor Abgabe einer Revisionsgegenerklärung der
Staatsanwaltschaft) angesichts einer anrechenbaren Haftdauer von zwei Jahren
und sieben Monaten einen derart gravierenden Verstoß gegen den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Verzögerungsverbot
dar, dass die Aufhebung des Haftbefehls zwingend geboten ist (OLG Hamburg StV
2015 653 [Ls.]). Auch lässt sich ein Zeitraum von einem Monat für
erforderliche Änderungen des Entwurfs des Hauptverhandlungsprotokolls
nicht mit der nacheinander (statt parallel) erfolgten Bearbeitung durch mehrere
Protokollführer einleuchtend begründen (OLG Hamburg a.a.O.).
Beschleunigungsgebot, Überhaft: Für Personen, die
aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ausgeliefert sind, steht der
Spezialitätsgrundsatz dem Erlass eines weiteren Haftbefehls wegen einer
anderen Tat, deren Verfolgung der ersuchte Mitgliedstaat (noch) nicht
zugestimmt hat, nicht entgegen. Überhaft darf aber wegen eines solchen
Haftbefehls nicht angeordnet werden (zur Haftbefehlsaufhebung wegen Verletzung
des Beschleunigungsgebotes bei Überhaft s.a. OLG Jena, Beschl. v.
28.5.2015 1 Ws 179/15).
Beschwerdeverfahren: Die Entscheidung, die das
Beschwerdegericht in einer Haftsache trifft, ist vom Ausgangsgericht dem
weiteren Verfahren zugrunde zu legen und bindet dieses, solange sich der zu
beurteilende Sachverhalt nicht ändert (OLG Braunschweig StRR 2015, 235 m.
Anm. D. Herrmann = StV 2016, 102 = Nds.Rpfl 2015, 179).
Dringender Tatverdacht, Beurteilung während laufender
Hauptverhandlung: In welchem Umfang der Tatrichter bei einer
Haftfortdauerentscheidung während laufender Hauptverhandlung das bisherige
Beweisergebnis darlegen muss, orientiert sich an der Notwendigkeit, es dem
Beschwerdegericht zu ermöglichen, die Entscheidung auf die erforderliche
Plausibilität zu überprüfen. Es kommt maßgeblich darauf
an, welche Darlegungen für das Verständnis des Beschwerdegerichts
unerlässlich sind (KG, Beschl. v. 17.6.2015 4 Ws 48/1; vgl. auch
noch LG Dresden, Beschl. v. 30.3.2015 4 Qs 25/15). Im
Haftbeschwerdeverfahren während laufender Hauptverhandlung unterliegt die
Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht vornimmt,
nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das
Beschwerdegericht (KG StV 2015, 303 [Ls.] = NStZ-RR 2015, 115).
Flucht: Der Haftgrund der Flucht ist anzunehmen, wenn sich
der Beschuldigte von seinem bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt
absetzt, um unerreichbar zu sein. Der Haftgrund enthält das Erfordernis
des Willens, sich dem Strafverfahren dauernd oder zumindest für
eine längere Zeit zu entziehen. Wer also aus
verfahrensunabhängigen Gründen, ohne Wissen der Strafbarkeit eines
Verhaltens, ohne Kenntnis eines gegen ihn eingeleiteten Verfahrens und ohne den
Willen, unerreichbar zu sein, seinen ursprünglichen Aufenthaltsort
verlässt, ist nicht flüchtig, auch wenn er tatsächlich nicht
erreichbar ist. Die subjektive Komponente des hiernach erforderlichen
Fluchtwillens ist eine bestimmte Tatsache i.S.d.
§ 112
Abs. 2 StPO, für deren Vorliegen eine hohe Wahrscheinlichkeit
gegeben sein muss (KG StraFo 2015, 201 = StV 2015, 646).
Fluchtgefahr, Allgemeines: Hat der Angeklagte Kenntnis davon,
dass gegen ihn ermittelt wird und ist er einer Vorladung zur Vernehmung bei der
Polizei gefolgt und hat keine aktenkundigen Schritte unternommen, um sich dem
Verfahren zu entziehen, ist Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2
Nr. 2 StPO zu verneinen (LG Braunschweig StV 2016, 165). Bei einer Tat,
die nach Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen ist, ist eine nachträgliche
Gesamtstrafenbildung mit einer vorangegangen Verurteilung zu einer
Einheitsjugendstrafe ausgeschlossen. Da dem Angeschuldigten deshalb im Falle
eine Verurteilung kein Verlust der Bewährung aus dem vorangegangen
Urteil droht, ist insoweit kein erheblicher Fluchtanreiz mehr erkennbar. Sofern
die dem Angeschuldigten drohende Strafe nach Erwachsenenstrafrecht und seine
persönlichen Verhältnisse nicht die Annahme einer Fluchtgefahr gem.
§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO rechtfertigen, ist der
Untersuchungshaftbefehl aufzuheben (LG Hannover StV 2015, 648 = StRR 2015, 163
[Ls.]). Das Erschleichen von ärztlichen Bescheinigungen, um trotz
Verhandlungsfähigkeit eine formale Entschuldigung für das Ausbleiben
von der Hauptverhandlung vorlegen zu können, begründet allein nicht
den Haftgrund der Fluchtgefahr (OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.2.2015 1 Ws
11/15). Wer sich bewusst in einen Zustand längerdauernderVerhandlungsunfähigkeit versetzt, insbesondere durch den Entzug von
Flüssigkeit bzw. Nahrung oder die Nichteinnahme von Medikamenten, entzieht
sich dem Verfahren i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (OLG Hamm
StRR 2015, 277 = NStZ-RR 2015, 283 [Ls.]). Fluchtgefahr kann im
Übrigen nicht schon bejaht werden, wenn die äußeren Bedingungen
für eine Flucht günstig sind; es ist vielmehr zu prüfen, ob der
Beschuldigte voraussichtlich von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen
wird. Prekäre finanzielle Verhältnisse allein begründen
jedenfalls keinen besonderen Fluchtanreiz (OLG München, Beschl. v.
20.5.2016 1 Ws 369/16).
Fluchtgefahr, Auslandskontakte: Die bloße Tatsache,
dass ein im Ausland lebender Angeklagter, dessen Wohnsitz bekannt ist, einer
ordnungsgemäßen Ladung nicht nachkommt und nicht zur
Hauptverhandlung erscheint, begründet, für sich genommen, nicht den
Haftgrund der Fluchtgefahr, denn ein Angeklagter ist nicht verpflichtet, sich
seiner Verhaftung freiwillig zu stellen, bzw. seine Strafverfolgung durch
aktives Mitwirken zu unterstützen oder zu erleichtern. Der Angeklagte ist
dann weder flüchtig noch hält er sich verborgen (LG Frankfurt/O. StV
2015, 302).
Fluchtgefahr, soziale Bindungen: Der Haftgrund der
Fluchtgefahr liegt nicht mehr vor, wenn Beschuldigte eines laufenden Verfahrens
wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung sich aktiv dem laufenden
Ermittlungsverfahren und einer parallelen finanzgerichtlichen
Auseinandersetzung stellen und ihre festen örtlichen, sozialen und
beruflichen Bindungen nicht gelockert, sondern vielmehr gefestigt haben (AG
Hamburg StV 2016, 175 [Ls.]).
Fluchtgefahr, Straferwartung: Die für die Prüfung
der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
maßgebliche Straferwartung konkretisiert sich durch einen
Verständigungsvorschlag, den das Gericht in Absprache mit der
Staatsanwaltschaft im Zwischenverfahren der Verteidigung unterbreitet. Für
die Strafzumessungsbewertung im Falle eines streitigen Verfahrens ist zugrunde
zu legen, dass die Differenz zu der für den Fall eines Geständnisses
zugesagten Strafobergrenze nicht zu groß sein darf, im Vergleich zum
einvernehmlichen Verfahren also eine angemessene Erhöhung ins Auge zu
fassen ist. Hierbei kann in dem Zwischenstadium einer Haftentscheidung die
verbreitete Auffassung einen ersten Anhaltspunkt bieten, wonach der angemessene
Strafrabatt i.d.R. nicht mehr als 2030 % betragen darf bzw.
Erhöhungen um mehr als ein zusätzliches Drittel der nach einem
Geständnis zu verhängenden Strafe nicht zu rechtfertigen sind (KG StraFo 2015, 201 = StV 2015, 646).
Haftbefehl, Allgemeines: Um den Anforderungen des
§ 114 StPO zu genügen, darf eine Bezugnahme im Haftbefehl auf
andere, bei den Akten befindliche Urkunden nur vorgenommen werden, wenn die
Urkunde dem Haftbefehl als Anlage beigefügt wird (OLG Celle StraFo 2015,
113 = StV 2015, 304). Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine
Neufassung des Haftbefehls geboten. Eine solche Anpassung an eine
geänderte Sach- und Rechtslage ist regelmäßig dann
erforderlich, wenn einer von mehreren Haftgründen entfällt oder wenn
sich im Laufe des Verfahrens die den dringenden Tatverdacht begründenden
Tatsachen wesentlich geändert haben. Das kommt insbesondere in Betracht,
wenn der dringende Tatverdacht wegen einiger der in dem Haftbefehl
angeführten Taten entfällt, die ursprünglich angenommene Tat
rechtlich oder tatsächlich anders zu bewerten ist oder neue, für die
Haftfrage bedeutsame Taten bekannt geworden sind. Die erforderlichen Angaben
zum dringenden Tatverdacht können durch Bezugnahme auf ein ergangenes
Urteil ersetzt werden, wenn der Angeklagte i.S.d. Haftbefehls verurteilt worden
ist. Dann setzt die gleichzeitige Entscheidung über die Fortdauer der
Untersuchungshaft keine gesonderte Prüfung und Begründung des
dringenden Tatverdachts voraus (OLG Koblenz, Beschl. v. 18.1.2016 2 Ws
742/15).
Haftbefehl, Sicherungshaftbefehl: Eine Umwandlung eines
Untersuchungshaftbefehls in einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2
StPO ist nicht möglich, wenn der Vorsitzende den Termin aufgehoben hat
(OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.2.2105 1 Ws 11/15).
Haftbeschwerde, Allgemeines: Wird eine Haftbeschwerde
während laufender Hauptverhandlung damit begründet, dass nach der
bisherigen Beweisaufnahme der dringende Tatverdacht entfallen sei, muss sich
das erkennende Gericht, will es der Haftbeschwerde nicht abhelfen, mit dem
Vortrag in seinem Nichtabhilfebeschluss auseinandersetzen, weil nur so dem
Beschwerdegericht die per se nur eingeschränkte Überprüfung
ermöglicht wird, ob das mitgeteilte Ergebnis auf einer vertretbaren
Bewertung der zzt. für und gegen einen dringenden Tatverdacht sprechenden
Umstände beruht (OLG Celle StraFo 2015, 113 = StV 2015, 305).
Haftbeschwerde/Haftprüfung: Sind die gegen eine
Haftentscheidung zulässigen Rechtsmittel ausgeschöpft, so ist eine
unzulässige erneute Haftbeschwerde grundsätzlich in einen Antrag auf
Haftprüfung umzudeuten (KG, Beschl. v. 22.1.2016 4 Ws 9/16).
Haftfortdauerentscheidung, Begründungsanforderungen: Die
Haftfortdauerentscheidung gem.
§ 268b
StPO erfordert regelmäßig Ausführungen zum Haftgrund und
zur Verhältnismäßigkeit, insbesondere, wenn der Gegenstand der
Verurteilung von demjenigen des Haftbefehls abweicht. Die bloße
Aufrechterhaltung des Haftbefehls aus den Gründen seines Erlasses
und des soeben verkündeten Urteils genügt nicht. Eine
Sachentscheidung des Beschwerdegerichts ist gleichwohl möglich, wenn es
anderweitig etwa durch einen Nichtabhilfebeschluss oder das schriftlich
abgesetzte Urteil hierzu in die Lage versetzt wird (OLG
Saarbrücken, Beschl. v. 7.7.2015 1 Ws 122/15).
Haftprüfung, mündliche, Frist: Der VerfGH Berlin
hat die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Überschreitung
der Zweiwochenfrist des § 118 Abs. 5 StPO das Grundrecht auf
Freiheit der Person verletzt und der Fortdauer der Untersuchungshaft deshalb
zunächst entgegen steht, offen gelassen (Beschl. v. 18.2.2015
176/14). Denn eine nach Rücknahme des Antrags auf mündliche
Verhandlung getroffene Haftfortdauerentscheidung könne zwar eine etwaige
Grundrechtsverletzung nicht rückwirkend heilen, legitimiere aber die
Haftfortdauer für die Zukunft.
Haftprüfung, OLG, Haftfortdauerentscheidung,
Begründungsanforderungen: In Umfangsverfahren muss das nach den
§§ 121, 122 StPO befasste OLG nicht in jedem Einzelfall
prüfen, ob für alle im Haftbefehl aufgeführten Taten bzw.
Tatteile die allgemeinen Haftvoraussetzungen vorliegen, wenn die Frage, ob der
Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gerechtfertigt ist,
bereits unter Berücksichtigung einzelner Taten oder Tatkomplexe positiv
beantwortet werden kann (KG, Beschl. v. 9.6.2015 (4) 161 HEs
13/15).
Haftprüfung, OLG, Sechs-Monats-Frist, Tatbegriff: Nach
dem erweiterten Tatbegriff des § 121 Abs. 1 StPO
können zu derselben Tat auch solche Taten gehören, die Gegenstand
eines getrennten Verfahrens und eines weiteren Haftbefehls sind, wenn für
diese Taten bereits bei Erlass des ersten Haftbefehls ein dringender
Tatverdacht bestand und sie deshalb bereits in den Ursprungshaftbefehl
hätten aufgenommen werden können. Ist wegen einer solchen Tat ein auf
Freiheitsstrafe lautendes Urteil ergangen, so findet auch wegen weiterer
Vorwürfe, die als dieselbe Tat i.S.v. § 121 Abs. 1 StPO
gelten, eine besondere Haftprüfung durch das OLG nicht mehr statt. Es
kommt nicht darauf an, ob die nicht abgeurteilten Taten Gegenstand desselben
oder eines getrennten Ermittlungsverfahrens sind (OLG Celle, Beschl. v.
23.9.2015 2 HEs 6/15; zur Unzulässigkeit des Aufsparens
von Tatvorwürfen für einen zusätzlichen Haftbefehl während
anderweitig laufender Haft OLG Jena, Beschl. v. 28.5.2015 1 Ws 179/15).
Pflichtverteidigerbeiordnung, inhaftierter Beschuldigter:
§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO betrifft nicht solche Verfahren
gegen einen in anderer Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten, in
denen gar kein Haftbefehl erlassen wurde (LG Osnabrück, Beschl. v.
6.6.2016 18 Qs 526 Js 9422/16 [17/16]; vgl. dazu auch Burhoff ZAP F. 22,
S. 861 ff.).
Überhaft, Europäischer Haftbefehl: Für
Personen, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ausgeliefert sind,
steht der Spezialitätsgrundsatz dem Erlass eines weiteren Haftbefehls
wegen einer anderen Tat, deren Verfolgung der ersuchte Mitgliedstaat (noch)
nicht zugestimmt hat, nicht entgegen. Überhaft darf aber wegen eines
solchen Haftbefehls nicht angeordnet werden (OLG Stuttgart StV 2015, 361).
Verdunkelungsgefahr, Haftgrund: Besteht kein aktueller
Verdacht, dass die Beschuldigten unlauter auf sachliche oder persönliche
Beweismittel einwirken, kann der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr
(§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) nicht mehr angenommen werden,
wenn im Ermittlungsverfahren die Auswertung der erhobenen Beweise weit
fortgeschritten ist und die Haftbefehle bereits seit längerem außer
Vollzug gesetzt sind (AG Hamburg StV 2016, 175 [Ls.]). Der Haftgrund der
Verdunkelungsgefahr erfordert, dass die konkrete Gefahr droht, dass die
Ermittlung der Wahrheit erschwert wird. Daran fehlt es, wenn die Beweise so
gesichert sind, dass ein Beschuldigter/Angeschuldigter/Angeklagter die
Wahrheitsfindung grundsätzlich nicht mehr behindern kann.Bei der Gefahr der Einflussnahme auf Zeugen kann dies
insbesondere dann angenommen werden, wenn z.B. eine richterlich protokollierte
Aussage des jedenfalls im Vernehmungszeitpunkt unbeeinflussten Zeugen vorliegt
(LG Braunschweig StV 2015, 311; ähnlich LG Braunschweig, Beschl. v.
5.3.2015 1 Ws 73/15).
Verhältnismäßigkeit, Anordnung der
Untersuchungshaft: Auch bei nur noch geringer Lebenserwartung (hier
möglicherweise sechs Monate) ist die Anordnung der Untersuchungshaft nicht
generell ausgeschlossen (LG Kleve, Beschl. v. 4.12.2014 120 Qs-204 Js
500/124-112/14).
Verhältnismäßigkeit, Dauer der
Untersuchungshaft: Der Erlass eines Haftbefehls gegen einen Beschuldigten,
dessen Strafhaft in anderer Sache in Kürze endet, ist dann
unverhältnismäßig, wenn während der Strafhaft in anderer
Sache genügend Zeit zur Verfügung gestanden hatte, um das
Strafverfahren, in dem der Haftbefehl erlassen werden soll, voraussichtlich
(rechtskräftig) abzuschließen und in dieser Zeit das Verfahren aus
der Justiz zuzurechnenden Gründen nicht hinreichend gefördert wurde
(OLG Hamm NStZ-RR 2015, 78 = StV 2015, 311 [Ls.]; OLG Köln, Beschl. v.
1.6.2015 2 Ws 299/15). Ein Haftbefehl kann aufzuheben sein, wenn
die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr
vorliegen, z.B., wenn die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen einer
Verletzung des Beschleunigungsgebotes inzwischen nicht mehr
verhältnismäßig ist, weil sich der Beschwerdeführer rund
fünf Jahre und neun Monate in Untersuchungshaft befindet und seit fast
zwei Jahren und zehn Monaten eine Verfahrensförderung durch eine erneute
Hauptverhandlung nicht mehr stattgefunden hat. Eine im Rahmen einer
Gesamtbetrachtung festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes kann
daher zur Aufhebung der Untersuchungshaft führen (OLG Köln StraFo
2015, 323). Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist mit dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn ein
ausländischer Beschuldigter zum Zeitpunkt der anstehenden
Revisionshauptverhandlung nach Anrechnung der Untersuchungshaftzeit mehr als
die Hälfte der ausgeurteilten Freiheitsstrafe verbüßt haben
wird und es der Praxis der Strafvollstreckungsbehörden (hier: in NRW)
entspricht, dass Ausländer ohne innerstaatliche Bindungen nach der
Hälfte der verbüßten Strafe abgeschoben werden (LG Bonn StraFo
2016, 146 = StV 2015, 646 [Ls.]). Die verfassungsrechtlichen Vorgaben
und damit auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das
Beschleunigungsgebot gelten nicht nur für den vollstreckten
Haftbefehl, sondern sind auch für einen außer Vollzug gesetzten
Haftbefehl von Bedeutung (OLG Karlsruhe StV 2015, 653 [Ls.]). Ist der
Beschuldigte den ihm gem. § 116 StPO erteilten
Haftverschonungsauflagen (hier: Wohnsitz- und Meldeauflage), die zu einer nicht
unerheblichen Einschränkung seiner Freizügigkeit geführt haben,
seit mehr als einem Jahr und neun Monaten nachgekommen, ist die
Aufrechterhaltung des Haftbefehls angesichts seiner eher untergeordneten
Tatbeteiligung und des nicht abzusehenden Abschlusses des Ermittlungsverfahrens
nicht mehr verhältnismäßig (OLG Karlsruhe a.a.O.).
Wiederholungsgefahr, Haftgrund: Eine Katalogtat des
§ 112a StPO, wie z.B. des gewerbsmäßigen Diebstahls,
scheidet als Anlasstat für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.d.R.
aus, wenn der Einzeltat nicht mindestens eine Straferwartung von einem Jahr
zukommt (OLG Braunschweig StV 2016, 165). Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr
verlangt, dass die wiederholt begangene Anlasstat in ihrer konkreten Gestalt
einen erheblichen Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich
stört, dabei ist nicht allein auf den entstandenen Vermögensschaden
abzustellen, da das Gesetz die Begrenzung auf eine bestimmte Schadenshöhe
nicht vorsieht (OLG Hamm StRR 2015, 194 = NStZ-RR 2015, 115). Ist ein
Mitangeklagter eines Bandendiebstahls (§ 244 StGB) nach der
Haftentlassung entsprechend einer Haftverschonungsauflage in sein Heimatland
(hier: Niederlande) zurückgekehrt, so steht der Gefahr der Begehung
erneuter Bandendiebstähle die räumliche Entfernung zu den
übrigen Mitangeklagten entgegen (OLG Köln StV 2016, 165 [Ls.]).
Beihilfe zum Einbruchsdiebstahl in einen Geschäftsraum durch
bloßes Wachestehen stellt jedenfalls bei geringerem Schaden keine die
Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat i.S.d.
§ 112a
Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO dar (OLG Karlsruhe, Beschl. v.
15.6.2016 2 Ws 193/16, 2 Ws 194/16). Betrugstaten kommen nur dann
als Anlasstaten in Betracht, wenn sie hinsichtlich der Art der
Tatausführung oder des Umfangs des verursachten Schadens, mithin in ihrem
Schweregrad etwa dem besonders schweren Fall des Diebstahls nach
§ 243 StGB entsprechen. Ein im Einzelfall eingetretener oder
beabsichtigter Vermögensschaden von knapp 1.800 zum Nachteil
eines Versandhandelsunternehmens qualifiziert weder den Schweregrad der Tat
noch deren Unrechtsgehalt als überdurchschnittlich und erscheint nicht
geeignet, in weiten Kreisen das Gefühl der Geborgenheit im
Recht zu beeinträchtigen, auch wenn wegen der sonstigen
Umstände der Tatbegehung die Verhängung einer erheblichen
Freiheitsstrafe in Betracht kommt (KG StV 2015, 303 [Ls.] = NStZ-RR 2015, 115).
Ein Betrug ist jedenfalls dann kein Anlassdelikt nach § 112aAbs.
1 S. 1 Nr. 2 StPO, wenn der Schaden der wiederholten Einzelbetrugstat
maximal 560 beträgt (LG Regensburg, Beschl. v. 16.10.2014
3 Ns 112 Js 5299/14; vgl. auch OLG Oldenburg StRR 2015, 42 [Ls.]
[für 1.000 ]; zur Wiederholungsgefahr bei Sexualdelikten
in Form des sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen in einer besonderen
Lebenssituation OLG Jena StV 2014, 750).
Liest man manche Revisionsentscheidungen, stellt sich u.U. die Frage,
welchen StPO-Text das Tatgericht eigentlich vorliegen hatte, als es entschieden
oder das verkündete Urteil schriftlich begründet hat, z.B.
hinsichtlich des Beschlusses des BGH vom 21.1.2016 (2 StR 433/15) und dem
diesen zugrundeliegenden landgerichtlichen Urteil. Das LG hat den Angeklagten
wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen wird die
Verfahrensrüge erhoben, und zwar als Inbegriffsrüge (zu den
Begründungsanforderungen s.u. IV.). Der Rüge lag folgendes
Verfahrensgeschehen zugrunde: Das landgerichtliche Urteil wurde am 26.5.2015
verkündet. Rund einen Monat später, am 23.6.2015, verfügte der
Vorsitzende die Übersendung der Kopien Bl. 461463 d.A. an den
Sachverständigen Prof. Dr. G. unter Bezug auf das heute
geführte Telefonat. Bei den übersandten Kopien handelte es
sich entweder um den vorläufigen Arztbrief vom 16.12.2010, in dem u.a. die
Ergebnisse der CT-Schädel vom 4.12.2010 geschildert
wurden oder aber um zwei polizeiliche Vermerke und einen Laborbefund betreffend
den bei der Geschädigten entnommenen Abstrich. Mit einem am 1.5.2015 beim
LG eingegangenen Schreiben übersandte der Sachverständige daraufhin
ein auf den 29.6.2015 datiertes Gutachten betreffend die Befunde in
Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit und
Realitätswahrnehmung der Geschädigten im
gegenständlichen Tatzeitraum, in dem er sich unter Bezugnahme auf die
CT mit Angiographie vom 4.12.2010 zur
Wahrnehmungsfähigkeit der Geschädigten sachverständig
äußerte. In dem Anschreiben ließ der Sachverständige
ergänzend anfragen, ob die an ihn gerichteten Fragen durch die
Erklärungen abgedeckt seien. Das schriftliche Urteil gelangte am
14.7.2015 zur Geschäftsstelle. In den Urteilsgründen wird das von
Prof. Dr. G. in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten mitgeteilt und im
Rahmen dessen auch das rund eineinhalb Seiten umfassende schriftliche Gutachten
vom 29.6.2015 nahezu vollständig und wörtlich wiedergegeben.
Die Verfahrensrüge hatte wegen des m.E. eklatanten
Verstoßes gegen § 261 StPOErfolg. Alles andere
wäre überraschend gewesen. Dazu gibt der BGH dann einen kleinen
Grundkurs zum Inbegriff der Hauptverhandlung: Grundlage der
Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein,
was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten
Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle
Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (u.a. BGH
NStZ 2001,
595, 596; KK-Ott, Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 261
Rn 6). Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen,
die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der
Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend
äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen
§ 261
StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261
StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs
(Art. 103 Abs. 1 GG, vgl.
BGHSt 22, 26,
28 f.). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl.
BGH
NStZ 2001,
595, 596; Beschl. v. 20.10.1999
5
StR 496/99) noch solche, die erst nach der Urteilsverkündung (vgl.
BGH, Beschl. v. 3.11.2010
1
StR 449/10; vgl. auch OLG Karlsruhe Justiz 1998, 601) erlangt wurden, zur
schriftlichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen
werden. Gegen die Grundsätze hatte das LG verstoßen. Die in dem
schriftlichen Sachverständigengutachten vom 29.6.2015 gewonnenen und im
Rahmen der Beweiswürdigung verwerteten Erkenntnisse hat das LG erst nach
der Urteilsverkündung gewonnen, ohne dass die Verfahrensbeteiligten
Gelegenheit hatten, hierzu Stellung zu nehmen.
Hinweis:
Der BGH verweist allerdings darauf, dass die Übernahme des
Gutachtens in die schriftlichen Urteilsgründe zwar dann
unschädlich sein könnte, wenn zweifelsfrei feststünde,
dass das in der Beratung rechtlich fehlerfrei gewonnene Ergebnis
lediglich durch Umstände bestätigt wurde, die nach Verkündung
des Urteils entstanden sind (vgl. insoweit BGH, Urt. v. 21.12.1983
3 StR 444/83). Das war
hier aber nicht der Fall. Denn die Strafkammer ist gerade nicht von einer nur
späteren Bestätigung ihrer unabhängig von dem Gutachten
des Sachverständigen Prof. Dr. G. gewonnenen Überzeugung
ausgegangen (vgl. insoweit OLG Karlsruhe Justiz 1998, 601), sondern hat
bereits verschwiegen so die Formulierung des BGH ,
dass es sich um ein erst nachträglich erstattetes Gutachten
handelt.
Wenn ein Richter während der Hauptverhandlung krank wird, dann muss
je nach Länge der Erkrankung die Hauptverhandlung ggf.
ausgesetzt werden, es sei denn das Gericht hat einen Ergänzungsrichter
(§ 192 Abs. 2 GVG) zugezogen, der für den erkrankten
Kollegen einspringen kann. Zu der Frage, wann dieser einspringen darf, hat sich
jetzt der 3. Strafsenat des BGH in seinem Beschluss vom 8.3.2016 (3 StR
544/15) geäußert. Nach dem Sachverhalt hatte die
Hauptverhandlung vor dem LG unter Zuziehung eines Ergänzungsrichters
begonnen. Zu Beginn des 15. Verhandlungstages am 30.6.2015 teilte der
Vorsitzende mit, dass eine beisitzende Richterin an der weiteren Mitwirkung in
der Hauptverhandlung verhindert sei, weil ihr wegen einer Komplikation bei
ihrer Schwangerschaft aus medizinischen Gründen zunächst für die
Dauer von zwei Wochen ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen worden und
ungewiss sei, ob sie danach wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren
werde; deshalb sei der Ergänzungsrichter eingetreten. Die Angeklagten
rügten daraufhin die vorschriftswidrige Besetzung der Kammer und
beantragten, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, um sie später ggf.
unter Mitwirkung der beisitzenden Richterin fortzusetzen. Das lehnte der
Vorsitzende ab. Die Hauptverhandlung wurde bis zur Urteilsverkündung in
der geänderten Besetzung fortgeführt.
Der BGH (a.a.O.) hat das Urteil des LG wegen eines
Verstoßes gegen § 338 Nr. 1 StPO aufgehoben.
Danach kommt, wenn ein zur Urteilsfindung berufener Richter wegen Krankheit
nicht zu einer Hauptverhandlung erscheinen kann, die bereits an mindestens zehn
Tagen stattgefunden hat (§ 229 Abs. 3
S. 1 StPO), der Eintritt eines Ergänzungsrichters (§ 192 Abs. 2 GVG) grundsätzlich erst
dann in Betracht, wenn der erkrankte Richter nach Ablauf der maximalen
Fristenhemmung zu dem ersten notwendigen Fortsetzungstermin weiterhin nicht
erscheinen kann. Das begründet der BGH u.a. mit der Änderung des
§ 229 Abs. 3 S. 1 StPO durch das
1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004 (BGBl I, S. 2198).
Nach der Neufassung der Vorschrift sei der Lauf der in
§ 229
Abs. 1, 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen auch dann kraft
Gesetzes für bis zu sechs Wochen gehemmt, wenn eine zur Urteilsfindung
berufene Person wegen Erkrankung zu einer Hauptverhandlung nicht erscheinen
kann, die zuvor bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat; die Fristen
enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Damit werde so
der BGH nicht nur gewährleistet, dass in Großverfahren die
Aussetzung der Hauptverhandlung in weiterem Umfang vermieden werden kann, als
dies nach der früheren Rechtslage der Fall war (vgl. BT-Drucks 15/1508
S. 13, 25). Vielmehr werde auch das Prinzip des gesetzlichen Richters
gestärkt, da die Urteilsfindung weiterhin den Richtern obliegt, die nach
den geschäftsplanmäßigen Regelungen ursprünglich dazu
berufen waren. Dies sei aber auch dann zu beachten, wenn ein
Ergänzungsrichter zugezogen worden ist, der unmittelbar für den
erkrankten Richter in das Quorum eintreten könnte. Daraus folgt für
den BGH: Im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters sei es geboten,
die Feststellung des Verhinderungsfalls zurückzustellen und abzuwarten, ob
die Hauptverhandlung noch unter Mitwirkung des erkrankten Richters fortgesetzt
werden könne. Solange die Fristen gehemmt seien, sei für eine
Ermessensentscheidung des Vorsitzenden deshalb kein Raum, und der Eintritt des
Ergänzungsrichters komme erst in Betracht, wenn der erkrankte Richter nach
Ablauf der maximalen Fristenhemmung zu dem ersten notwendigen
Fortsetzungstermin weiterhin nicht erscheinen kann (so auch LR/Becker, StPO,
26. Aufl., § 229 Rn 21; KK-Gmel, a.a.O., § 229
Rn 11; vgl. auch SSW-StPO/Grube, 2. Aufl., § 229 Rn 8;
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016,
§ 192 GVG Rn 7).
Hinweis:
Etwas anderes kann nur ausnahmsweise dann gelten, wenn
schon von vornherein feststeht, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung mit
dem erkrankten Richter auch nach Ablauf der maximalen Fristenhemmung nicht
möglich sein wird, oder wenn andere vorrangige Prozessmaximen
beeinträchtigt würden. Dies kann nach Auffassung des BGH (a.a.O.)
etwa der Fall sein, wenn durch den durch die Fristenhemmung bedingten
Zeitablauf ein Beweismittelverlust droht und daher durch weiteres Abwarten die
Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 244
Abs. 2 StPO) verletzt würde. Der Verteidiger muss in solchen
Fällen, ggf. die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts rügen und
beantragen, die Hauptverhandlung zu unterbrechen. Die Einwände sind dann
in der Revision mit der Verfahrensrüge geltend zu machen.
zurück
IV.
Rechtsmittelverfahren
In der Praxis häufig(er) sind die Fälle, dass im Urteil
Erkenntnisse verwendet werden, die nach dem Protokoll der Hauptverhandlung
nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Dann liegt ein Verstoß gegen
§ 261 StPO vor, der mit der Verfahrensrüge in der Form der sog.
Inbegriffsrüge geltend zu machen ist (s. auch oben III. 1.).
Für die gelten dann die besonderen Anforderungen des
§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Hürden liegen also hoch
und der Verteidiger muss sehen, dass man sie überwindet.
Was vorzutragen ist, zeigt an einem Beispiel aus dem
straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren u.a. sehr schön
der OLG Hamm (Beschl. v. 15.4.2016 2 RBs 61/16). Da hatte der Betroffene
geltend macht, dass u.a. das Messprotokoll von einer Geschwindigkeitsmessung
nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt,
jedoch der Verurteilung zugrunde gelegt worden sei. Das OLG führt zu den
Anforderungen an die insoweit erhobene Inbegriffsrüge aus: Es müssen,
um die Zulässigkeit der Rüge zu begründen, die den Mangel
enthaltenen Tatsachen so genau bezeichnet und vollständig angegeben
werden, dass das Rechtsmittelgericht schon anhand der Rechtsmittelschrift ohne
Rückgriff auf die Akte prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt,
falls die behaupteten Tatsachen zutreffen (vgl. für die Rechtsbeschwerde
Seitz in: Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 79 Rn 27 d m.w.N.; zur
Revision Junker in: Burhoff/Kotz (Hrsg.) Handbuch für die strafrechtlichen
Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Rn 2411 ff. m.w.N.).
Zur ordnungsgemäßen Begründung gehört im Übrigen auch
der Vortrag, dass der Inhalt der Urkunde auch nicht anderweitig, insbesondere
durch Vorhalt oder durch Vernehmung eines Zeugen, in die Hauptverhandlung
eingeführt worden ist.
Hinweis:
Gerade zu dem letzten Umstand wird häufig nicht vorgetragen, was
dann zum Misserfolg der Rüge führt (vgl. dazu BGH, Beschl. v.
10.7.2013 1 StR 532/12; Urt. v. 12.5.2016 4 StR 569/15; KG,
Beschl. v. 8.1.2016 3 Ws (B) 650/15).
Hinzuweisen ist zum Abschluss noch auf den Beschluss des OLG
Braunschweig vom 25.4.2016 (1 ARs 9/16, NStZ-RR 2016, 231 [Ls.]), der noch
einmal zu der Frage Stellung nimmt, wann der Pauschgebühranspruch
nach § 51 RVGverjährt. Die Frage wurde bis dahin von der
Rechtsprechung nicht ganz einhellig beantwortet. Die h.M. in Rechtsprechung und
Literatur geht/ging davon aus (vgl. s.a. Burhoff in: Burhoff [Hrsg.], RVG
Straf- und Bußgeldsachen, 4. Aufl. 2014, § 51 Rn 87 ff.
m.w.N.), dass der Anspruch auf Bewilligung einer Pauschgebühr
sofern die Tätigkeit des Anspruchsinhabers nicht bereits vorher infolge
Entpflichtung endgültig beendet wurde erst mit dem
rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens fällig wird. Begründet
wird das mit dem Sinn und Zweck der Pauschgebühr, mit der die besonderen
Schwierigkeiten anwaltlicher Tätigkeiten im gesamten Verfahren pauschal
honoriert werden sollen. Ihre Bemessung könne gewöhnlich erst nach
Abschluss des Verfahrens und nicht schon mit Erlass des erstinstanzlichen
Urteils oder Beendigung des Rechtszuges erfolgen. Unter anderem hat das OLG
Braunschweig früher (JurBüro 2000, 174; 2001, 308) eine andere
Auffassung vertreten. Es ist davon ausgegangen, dass die (dreijährige)
Verjährungsfrist schon mit Verkündung des Urteils im
Erkenntnisverfahren zu laufen beginnt und lediglich bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gehemmt ist. Das ist/wäre
für den Pflichtverteidiger nachteilig, weil es zu einem früheren
Verjähren des Pauschgebühranspruchs führt. Diese Auffassung hat
das OLG Braunschweig nun aufgegeben und sich wohl der h.M. angeschlossen.
Hinweis:
Nach Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung durch das OLG
Braunschweig (a.a.O.) ist es jetzt einhellige Meinung in der Rechtsprechung der
OLG, dass die Verjährung des Pauschgebührenanspruchs unter
Berücksichtigung des § 195 BGB erst am Ende des dritten
Jahres eintritt, nach dem das Urteil im Verfahren rechtskräftig
geworden ist (so auch unter Aufgabe alter Rechtsprechung KG
RVGreport 2015, 257 = StRR 2015, 237; früher schon teilweise zur
BRAGO OLG Düsseldorf AGS 2007, 75; OLG Köln AGS 2006, 281; OLG
Jena AGS 1998, 87; OLG Hamm JurBüro 1996, 642; OLG Bamberg JurBüro
1990, 1282).
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