aus ZAP Heft 14/2018, F 22 R, S. 745
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
a) Durchsuchung von Wohnung und Geschäftsräumen
b) Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsmaßnahme
2. Pflichtverteidiger bei Haftbefehlseröffnung
3. Keine Belehrung des Beschuldigten über Pflichtverteidigerbestellung (§ 136 StPO)
4. DNA-Identitätsfeststellung (§ 81g StPO)
a) Verweigerte Schweigepflichtsentbindung und Beweisantrag
b) Unerreichbarkeit des (Auslands-)Zeugen
3. Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung
4. Sachverhandlung nach Unterbrechung der Hauptverhandlung
IV. Bußgeldverfahren: Anspruch auf Herausgabe von Messdaten
1. Abtretung des Kostenerstattungsanspruchs in der Vollmacht
2. Abrechnung der Tätigkeit als Verteidiger bei der richterlichen Vernehmung
Derzeit läuft die 19. Legislaturperiode. Wegen der Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung, die sich über mehr als ein halbes Jahr hingezogen hat, ist zzt. nicht erkennbar, ob und wenn ja wann, welche gesetzliche Neuregelungen die GroKo 2017 bringen wird. Soweit ersichtlich sind Gesetzesvorhaben zur Änderung der StPO bislang noch nicht initiiert. Zurückgreifen kann man derzeit nur auf die Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag 2018 (abzurufen unter www.bundesregierung.de). Dort finden sich ab den Zeilen 5.757 ff. unter der Überschrift Pakt für den Rechtsstaat folgende Aussagen zum Verfahrensrecht (Anm. Aufzählungspunkte durch den Verf. eingefügt):
Wir stärken das Vertrauen in den Rechtsstaat, indem wir die Strafprozessordnung (StPO) modernisieren und Strafverfahren beschleunigen mit folgenden Maßnahmen:
Teile dieser Vorschläge, wie z.B. die gebündelte Vertretung der Interessen von Nebenklägern, waren auch im Bericht der sog. Expertenkommission zur Effektivierung der Strafverfahrens enthalten. Zum Teil sind die Vorschläge neu, scheinen aber auf die Anregungen des sog. Strafkammertags zurückzugehen. Man wird abwarten müssen, was die GroKo 2017 umsetzt. Jedenfalls lassen die o.a. Absichtserklärungen nichts Gutes erwarten (scharf ablehnend auch Norouzi AnwBl 2018, 290).
Derzeit spielen Durchsuchungsfragen in der Rechtsprechung wieder eine Rolle. Das zeigt sich u.a. daran, dass sich zu den Fragen der §§ 102 ff. StPO vermehrt auch wieder das BVerfG zu Wort meldet (vgl. dazu zuletzt auch Burhoff ZAP F. 22 R, S. 1049 f.):
Ein Durchsuchungsbeschluss gestattet nicht auch die Durchsuchung der Wohnräume eines Beschuldigten, wenn als Durchsuchungsobjekte im Beschluss ausdrücklich nur seine Geschäftsräume mit Nebenräumen genannt werden, während die Wohnanschrift lediglich bei den zur Identifizierung des Beschuldigten dienenden Angaben zur Person erwähnt wird. Das ist das Fazit aus dem Beschluss des BVerfG vom 13.3.2018 (2 BvR 2990/14, StRR 5/2018, 2 [Ls.]). Nach dem Sachverhalt wurde gegen den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs geführt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG gem. §§ 102, 105 Abs. 1 StPO einen Durchsuchungsbeschluss, in dem die Durchsuchung der Person, der Geschäftsräume mit Nebenräumen, Garagen und der Fahrzeuge des Beschuldigten B [ ] angeordnet wurde. Nach den Angaben zu Geburtsdatum und -ort und vor den Angaben zu Staatsangehörigkeit, Familienstand und Beruf des Beschwerdeführers sind folgende Adressen aufgeführt: wohnhaft: M-Straße, (bei Fa. B ), Nebenwohnung: A-Straße, . Bei der Durchsuchung wurden zum einen Firmenräume und Keller sowie das Lager in der M-Straße durchsucht. Dort wurden u.a. Unterlagen sichergestellt. Zum anderen wurden etwa zur gleichen Uhrzeit auch die Wohnräume des Beschuldigten und von dessen Familie in der A-Straße in pp. durchsucht. Der Beschuldigte hat Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 2.5.2014 sowie die bereits erfolgte Beschlagnahme der Geschäftsunterlagen eingelegt mit dem Antrag, den Beschluss aufzuheben. Das LG hat die Beschwerde als unbegründet verworfen. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
Das BVerfG (a.a.O.) hat die Verfassungsbeschwerde zwar nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. dazu unten), es führt aber dennoch aus, dass der Beschuldigte zutreffend davon ausgeht, dass der Durchsuchungsbeschluss des AG hinreichend bestimmt war und eine Durchsuchung seiner Geschäftsräume, nicht aber seiner Wohnräume gestattete. In dem Beschluss werde das Durchsuchungsobjekt vor den Angaben zur Person des Beschuldigten bezeichnet: Neben seiner Person sei die Durchsuchung seiner Geschäftsräume mit Nebenräumen, seiner Garagen und seiner Fahrzeuge angeordnet worden. Im Umkehrschluss ergebe sich zugleich, dass sich die Durchsuchungsanordnung nicht auf Wohnräume erstrecke. Soweit die Anschriften der beiden Wohnungen des Beschuldigten in U. und B. im Rahmen der Angaben zu seiner Person genannt werden, diene dies erkennbar nicht der Bestimmung der zu durchsuchenden Objekte, sondern vielmehr bloß der Identifizierung des Beschwerdeführers. Eine Auslegung dahingehend, dass sich die Durchsuchung auch auf diese Wohnräume erstrecken solle, lasse der Wortlaut des Beschlusses nicht zu. Ein etwaiger diesbezüglicher Wille sei in der Formulierung der Durchsuchungsanordnung jedenfalls nicht mit hinreichender Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht worden.
Hinweis:
Soweit das LG eine von diesem Inhalt abweichende Auslegung des Durchsuchungsbeschlusses vorgenommen hat, hat das BVerfG dies als eine nachträgliche Erweiterung der Durchsuchungsobjekte nach dem Vollzug des Durchsuchungsbeschlusses gerügt, die mit der Funktion des Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG als einer vorbeugenden Kontrolle der Durchsuchung nicht vereinbar sei. Diese verbietet es schon, Mängel, die die Begrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses betreffen, nachträglich zu heilen (vgl. BVerfG NStZ-RR 2005, 207; StRR 10/2016, 2 [Ls.]).
Die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG damit begründet, dass deutlich abzusehen sei, dass die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Durchsuchungsbeschluss auch im Falle einer Zurückverweisung an das LG im Ergebnis keinen Erfolg haben würde. Das ist zutreffend, denn Rechtsschutzziel des Beschuldigten ist die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung seiner Wohnräume. Dieses Ziel kann er aber mit einer Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO gegen den Durchsuchungsbeschluss nicht erreichen. Der Einwand, die Durchsuchung sei in Bezug auf die Wohnräume ohne eine richterliche Anordnung und ohne das Vorliegen von Gefahr im Verzug rechtswidrig erfolgt, betrifft nämlich allein die Art und Weise der Durchsuchung. Insoweit ist dann aber ein Antrag entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 StPO beim AG zu stellen (vgl. die Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2015, Rn 1538 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]; vgl. auch noch BGHSt 45, 183, 187 m.w.N.).
Hinweis:
In vergleichbaren Fällen ist also zunächst ein Antrag entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 StPO zu stellen, sodann muss gegen eine etwaige Zurückweisung dieses Antrags durch das AG Beschwerde eingelegt werden. Darauf muss man als Verteidiger achten. Allerdings: Gegebenenfalls kommt eine Umdeutung in Betracht. Dazu schweigt das BVerfG jedoch.
In der zweiten vorzustellenden Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 10.11.2017 2 BvR 1775/16, NJW 2018, 1240 = StRR 5/2018, 10) spielen Fragen der Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsmaßnahme eine Rolle. Ergangen ist der Beschluss in einem Ermittlungsverfahren wegen Diebstahls/Fundunterschlagung. Das Verfahren war nach dem Sachverhalt aufgrund einer Strafanzeige einer Zeugin eingeleitet worden. Diese hatte angegeben, ihr Smartphone sei während eines Aufenthalts in einem Billardzentrum gestohlen worden; sie könne aber auch nicht ausschließen, es beim Aussteigen aus dem Auto vor ihrer Wohnung verloren zu haben. Später habe ihr eine weibliche Stimme unter einer Mobilfunknummer mitgeteilt: Sie kriegen Ihr Handy wieder. Eine Kontaktaufnahme über SMS sei fehlgeschlagen. Im Laufe der Ermittlungen wurde festgestellt, dass die Mobilfunknummer dem im gegenüberliegenden Haus wohnenden Beschuldigten zugeordnet werden konnte. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das AG die Durchsuchung der Person und der Wohnung sowie der Fahrzeuge des Beschuldigten nach dem abhanden gekommenen Smartphone an. Dem Beschuldigten wurde Diebstahl oder (Fund-)Unterschlagung zur Last gelegt. Bei der Durchsuchung wurde das Smartphone nicht gefunden. Bei der anschließenden Beschuldigtenvernehmung gab der Beschuldigte an, dass er seinem achtjährigen Sohn ein Handy für gelegentliche Anrufe zur Verfügung gestellt habe. Die Prepaid-Karte sei auf seine Personalien eingetragen. Einige Tage nach dem angeblichen Diebstahl sei seinem Sohn und dessen Freund ein Aushang mit der Überschrift Smartphon [sic!] verloren aufgefallen. Aus Spaß hätten sie bei der angegebenen Telefonnummer angerufen und mitgeteilt, dass das Wort Smartphone falsch geschrieben worden sei. Sein Sohn habe ihm erzählt, dass auf seinem Handy keine SMS mit einem Herausgabeverlangen angekommen sei. Er könne dies nicht mehr prüfen, da das damalige Handy seines Sohnes inzwischen verschwunden sei. Er habe in keiner Weise etwas mit dem Verlust des Handys der Anzeigeerstatterin zu tun. Das Strafverfahren gegen den Beschuldigten wurde daraufhin gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Das LG hat die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss als unbegründet verworfen. Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Das BVerfG (a.a.O.) lässt die Frage, ob zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses plausible Gründe für einen gegen den Beschuldigten gerichteten Anfangsverdacht vorlagen, im Ergebnis offen. Es weist aber darauf hin, dass die tatsächlichen Anhaltspunkte, die möglicherweise auf eine von dem Beschuldigten begangene Straftat hinweisen konnten, jedenfalls von so geringem Gewicht seien, dass sich die Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung als unverhältnismäßig darstelle. Ein Abhandenkommen des Smartphones durch Verlieren sei zumindest gleichermaßen wahrscheinlich gewesen wie ein Diebstahl. Zudem hätten keinerlei Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass sich der Beschuldigte in dem Billardzentrum als dem für einen Diebstahl in Betracht kommenden Tatort aufgehalten haben könnte. Die Annahme des Anfangsverdachts einer durch den Beschuldigten begangenen Fundunterschlagung erscheint dem BVerfG in Anbetracht des Umstands, dass die Anzeigeerstatterin die Stimme des Anrufers für eine Frauenstimme gehalten hatte, zweifelhaft. Hinzu komme, dass in dem Telefonat nach den Angaben der Anzeigeerstatterin die Rückgabe des vermissten Smartphones angekündigt worden sei, was gerade gegen einen für eine Unterschlagung erforderlichen Zueignungswillen sprach. Im Übrigen sei der Anruf nicht von dem vermissten Mobiltelefon aus erfolgt, so dass gar nicht festgestanden habe, ob der Anrufer überhaupt im Besitz des Smartphones war. Die tatsächlichen Anhaltspunkte, die auf das Vorliegen einer Straftat und eine Täterschaft des Beschuldigten hindeuten konnten, waren somit nach Auffassung des BVerfG zumindest sehr schwach. Auch sei der Unrechtsgehalt der in Betracht kommenden Straftat eher im unteren Bereich der Eigentumsdelikte anzusiedeln. Bei dieser Sachlage so das BVerfG seien die Ermittlungsbehörden zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit gehalten gewesen, alle in Betracht kommenden, naheliegenden und grundrechtsschonenderen Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen, bevor sie eine Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten in Betracht ziehen durften. Aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls hätte zumindest eine vorherige Vernehmung des Beschuldigten in Betracht gezogen werden müssen.
Hinweis:
Die mit der Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsmaßnahme zusammenhängenden Fragen scheinen das BVerfG derzeit besonders zu beschäftigen. Denn in seinem Beschluss vom 10.1.2018 (2 BvR 2993/14, ZInsO 2018, 705) hat das BVerfG dazu auch noch einmal Stellung genommen bzw. nehmen müssen. Auch dort hat das BVerfG von den Ermittlungsbehörden gefordert, vor einer Durchsuchung alle naheliegenden, weniger eingriffsintensiven Ermittlungsmaßnahmen in Betracht zu ziehen. Insbesondere wäre in dem Fall, in dem es um Insolvenzverschleppung bei einer GmbH ging, die Finanzlage der GmbH durch Einsichtnahme in das Schuldnerverzeichnis und in die offenzulegenden, über den Bundesanzeiger zugänglichen Jahresabschlüsse sowie durch Rückgriff auf die Kontenumsätze über die BaFin und die kontenführenden Kreditinstitute aufzuklären gewesen.
Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202; vgl. dazu Burhoff ZAP F. 22, S. 889 ff. u. 907 ff.) wurde die Vorschrift des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO in die StPO eingefügt. Diese sieht jetzt die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Falle einer richterlichen Vernehmung vor. Nach Auffassung des LG gilt das auch für die richterliche Vernehmung im Zusammenhang mit einer Haftbefehlseröffnung (vgl. LG Halle, Beschl. v. 26.3.2018 10a Qs 33/18, StRR 5/2018, 17 f.).
Das LG begründet seine Auffassung damit, dass es nach dem Wortlaut der Vorschrift keine Einschränkungen gebe, sondern die Vorschrift ganz allgemein von richterlichen Vernehmungen spreche. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spreche ebenfalls für die Anwendung auf Fälle der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten im Rahmen der Haftvorführung. Die Vorschrift ist Ausprägung der Richtlinie EU 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016, in der es unter Art. 4 Abs. 4 lit. a heißt: wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich dieser Richtlinie einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird. Aber auch die Bedeutung der Vernehmung gebiete hier eine Beiordnung, denn vorliegend gehe es um die Frage, ob gegen den Betroffenen Haftbefehl ergeht bzw. die Haft aufrechterhalten oder der Haftbefehl aufgehoben wird, mithin um die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG). Eine richterliche Vernehmung des Beschuldigten im Rahmen eines Haftverkündungstermins habe auch sonst erhebliche Bedeutung für das weitere Verfahren, so dass eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten und erforderlich erscheint, denn nach § 254 StPO können Erklärungen des Angeklagten, die in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis in der Hauptverhandlung verlesen werden. Erklärungen des Angeklagten gegenüber einem Richter können auch durch Zeugenvernehmung des damals vernehmenden Richters in die Hauptverhandlung eingeführt werden.
Hinweis:
Die Entscheidung ist zutreffend. Sie entspricht der bislang zu der neuen Vorschrift vorliegenden Rechtsprechung und Literatur (vgl. AG Stuttgart StraFo 2018, 114; Schlothauer StV 2017, 557; Burhoff ZAP F. 22, S. 889, 895). Auf diese muss sich der Verteidiger spätestens im Haftprüfungstermin berufen, damit er beigeordnet wird. Denn später droht sonst ggf. die Diskussion, ob eine nachträgliche Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger möglich ist. Das wird man in diesen Fällen aber auf jeden Fall bejahen müssen, da sonst die Neuregelung unschwer unterlaufen werden könnte.
Bezüglich der gebührenrechtlichen Auswirkungen der Neuregelung wird verwiesen auf Burhoff (RVGreport 2017, 402) und auf die Entscheidung des LG Magdeburg (Beschl. v. 19.3.2018 25 Qs 14/18, StRR 5/2018, 24 f.; vgl. hierzu auch unten V. 2.).
Durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BGBl I, S. 1938) sind die Belehrungspflichten in § 136 StPO erweitert worden. Vorgesehen ist danach in § 136 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 StPO a.F. (jetzt: § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO), dass der Beschuldigte auch darüber belehrt werden muss, dass ihm unter den Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann. In einem Verfahren wegen Mordes beim LG Erfurt war das nicht erfolgt. Der Beschuldigte hat dann mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht, seine Angaben bei seiner Vernehmung seien wegen dieses Fehlers unverwertbar. Die Rüge hatte beim BGH keinen Erfolg.
Zur Begründung verweist der 2. Strafsenat des BGH in seinem Beschluss vom 6.2.2018 (2 StR 163/17, NStZ-RR 2018, 219) darauf, dass der BGH die Frage, ob das Unterbleiben des gesetzlich vorgeschriebenen Hinweises auf die Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung zu einem Beweisverwertungsverbot führt, bisher nicht entschieden habe. Er weist aber darauf hin, dass der BGH jedoch bereits vor der gesetzlichen Einführung dieser Belehrungspflicht auch ohne gesetzliche Vorgabe im Einzelfall eine Pflicht zur Belehrung über die Möglichkeit einer unentgeltlichen Verteidigung bejaht, bei einem Verstoß hiergegen allerdings ein grundsätzliches Beweisverwertungsverbot abgelehnt hat (BGH NStZ 2006, 236 f.). Dies sei im Wesentlichen damit begründet worden, dass nur gravierende Verfahrensverstöße zu einem Beweisverwertungsverbot führen könnten und die Verletzung der Pflicht zur Belehrung über die Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung nicht annähernd einer Verletzung der Pflicht zur Belehrung über die Möglichkeit einer Verteidigerkonsultation gleichkomme, die grundsätzlich ein Verwertungsverbot nach sich ziehe.
An dieser Rechtsprechung hält der 2. Strafsenat auch nach der Einfügung der Belehrungspflicht in § 136 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 StPO a.F. fest. Die Annahme eines absoluten Beweisverwertungsverbots sei nicht geboten (ebenso Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 136 Rn 21 [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]). Weder dem Gesetz, das Art. 3 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.6.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren umsetzt, noch den Gesetzgebungsmaterialien oder auch der genannten Richtlinie lasse sich entnehmen, dass die Neuregelung das Ziel verfolge, die Verletzung der Belehrungspflicht hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen den von der Rechtsprechung für Verstöße gegen § 136 Abs. 1 S. 2 StPO entwickelten Grundsätzen gleichzustellen. Dies gelte auch, wenn davon auszugehen sei, dass die neu eingefügte Regelung der Sache nach eine Erweiterung der Pflicht zur Belehrung über die Verteidigerkonsultation nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO darstelle (so im Ergebnis auch MüKo-StPO/Schuhr, § 136, Rn 38). Hieraus folge nicht, dass auch hinsichtlich der Rechtsfolgen an diese Regelung anzuknüpfen wäre (a.A. aber Schuhr, a.a.O.). Wie der BGH in seinen Entscheidungen zur alten Rechtslage ausgeführt habe, bleibe die Verletzung der Pflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO a.F. in ihrer Bedeutung hinter derjenigen nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO zurück, die die grundsätzliche Zugangsmöglichkeit zu einem Verteidiger als solchen betrifft. Es handele sich insoweit um eine für die Rechtsstellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt konstitutive Bestimmung, deren Verletzung in aller Regel zur Annahme eines Beweisverwertungsverbots führen muss (vgl. dazu Schneider NStZ 2016, 552, 554). Damit seien die Regelungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers, die nicht absolut gelten und vom Vorliegen der in § 140 Abs. 1 und 2 StPO genannten Voraussetzungen abhängig sind, nicht vergleichbar. Hinzu komme, dass der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren kein eigenes Antragsrecht auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers habe, sondern lediglich anregen könne, dass die Staatsanwaltschaft von ihrem Antragsrecht Gebrauch mache. Hieran habe i.Ü. wie die Gesetzesbegründung klarstelle die Ergänzung der Vorschrift nichts ändern sollen (vgl. BT-Drucks 17/12578, S. 16).
Der BGH verneint dann auch ein relatives, im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung festzustellendes Verwertungsverbot. Das LG habe in seinem den Widerspruch gegen die Verwertung zurückweisenden Beschluss zutreffend in den Blick genommen, dass das staatliche Verfolgungs- und Aufklärungsinteresse wie hier bei einem Tötungsdelikt besonders hoch ist, die Belehrung nicht bewusst oder willkürlich, sondern aus Unkenntnis der Vernehmungsbeamten über die Neuregelung unterblieben und damit der festgestellte Verstoß von geringerem Gewicht sei. Zudem gebe es keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, die Angeklagten hätten im Rahmen ihrer ersten Vernehmung Angaben zur Sache gemacht, weil sie mangels wirtschaftlicher Mittel keine Möglichkeit gesehen hätten, sich eines Verteidigers zu bedienen.
Hinweise:
Man fragt sich: Was sollen eigentlich die ganzen neuen Belehrungspflichten, die in Umsetzung der Vorgaben aus Brüssel durch Gesetze eingeführt werden, die wie hier auch noch das Wort Stärkung der Beschuldigtenrechte o.Ä. im Namen führen, wenn diesen Worten dann nicht auch Taten folgen? Oder anders: Wie will man eigentlich die Ermittlungsbehörden anhalten, die Vorgaben neuer gesetzlicher Vorschriften umzusetzen, wenn man sie nicht bestraft, wenn sie dies nicht tun? Also die Angaben, die Beschuldigte trotz unzureichender Belehrungen machen, dann als unverwertbar ansieht. Tut man dies nicht, kann man sich m.E. die gesetzlichen Neuregelungen, die wie dieser Fall anschaulich zeigt, den Vernehmungsbeamten häufig ja noch nicht einmal bekannt sind ersparen.
Als Verteidiger muss man sich auf die Situation einstellen und zumindest die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, um in der Revision ein Beweisverwertungsverbot überhaupt geltend machen zu können, also Widerspruch einlegen gegen die Verwertung der inkriminierten Angaben. Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.
In der Praxis ist nach Rechtskraft von Verurteilungen wegen Verbreitung, Erwerb oder Besitzes kinderpornographischer Schriften (§§ 184b, 184c StGB) häufig ein Antrag der Ermittlungsbehörden nach § 81g StGB auf Entnahme einer Speichelprobe der Verurteilten sowie deren molekulargenetische Untersuchung die Folge. Begründet wird dies häufig allein mit der bloß abstrakten Wahrscheinlichkeit eines künftigen Strafverfahrens. Das LG Braunschweig (Beschl. v. 19.4.2018 4 Qs 72/18) hat jetzt noch einmal darauf hingewiesen, dass das für die Anordnung der Maßnahme nicht ausreicht.
Das LG Braunschweig (a.a.O.) weist darauf hin, dass es an der erforderlichen Negativprognose für die Annahme von Wiederholungsgefahr fehlt. Die zu treffende Prognoseentscheidung müsse sich mit den Umständen des Einzelfalls auseinandersetzen. Eine bloß abstrakte Wahrscheinlichkeit eines künftigen Strafverfahrens genüge für die Anordnung der Maßnahme nach § 81g StPO nicht. Dementsprechend genüge die bloße kriminalistische Erfahrung, dass bei Personen, die geneigt seien, sich aus sexueller Motivation kinderpornographische Bilder zu beschaffen und zu betrachten, nicht, auch wenn bei diesen Personen grundsätzlich von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit künftiger gleich gelagerter Straftaten auszugehen sei (LG Hannover StraFo 2013, 335; LG Darmstadt, Beschl. v. 28.3.2011 3 Qs 152/11). Es genüge auch nicht allein die Tatsache, dass der Betroffene ggf. (auch) wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften verurteilt worden ist, um eine Negativprognose zu begründen (LG Hannover a.a.O.).
Hinweise:
Eine m.E. wohltuende Entscheidung, die dem vielfach zu beobachtenden Automatismus Verurteilung in einer KiPo-Sache = DNA-Identitätsfeststellung einen Riegel vorschiebt. Auch bei diesen Delikten ist vielmehr für die Anordnung der Maßnahme das Hinzutreten weiterer besonderer Umstände erforderlich. Welche das sein können, lässt sich der Entscheidung des LG entnehmen (vgl. a. Burhoff, EV, Rn 1328 ff. m.w.N.), und zwar:
Grundsätzlich hat ein Angeklagter (immer) das Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Auf diesen zu begrüßenden allgemeinen Satz hat der 1. Strafsenat des BGH in seinem Beschluss vom 21.3.2018 (1 StR 415/17, NJW 2018, 1698 f. = StRR 5/2018, 2) noch einmal hingewiesen. Der Angeklagte hatte sich mit der Verfahrensrüge gegen seine Verurteilung gewehrt. Der Rüge lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Die Hauptverhandlung fand am 27.42016, 29.4.2016 sowie ab dem 13.5.2016 an vier weiteren Tagen statt. Am ersten und zweiten Hauptverhandlungstag waren lediglich der Angeklagte und sein Pflichtverteidiger Rechtsanwalt B., nicht jedoch der Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. anwesend. Rechtsanwalt B. war dem Angeklagten, der mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht einverstanden war, mit Beschluss des Vorsitzenden vom 21.3.2016 zur Verfahrenssicherung als Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. beigeordnet worden. Der Festlegung der Hauptverhandlungstermine vorausgegangen war eine Anfrage des Vorsitzenden an die Verteidiger der insgesamt drei Angeklagten für eine Terminierung der Hauptverhandlung auf den 27.4.2016 und 29.4.2016 sowie im Zeitraum vom 11.25.5.2016. Auf diese Terminanfrage hatte der Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. mitgeteilt, dass er am 27.4.2016 und 29.4.2016 wegen anderweitiger konkret bezeichneter Termine verhindert sei, im Zeitraum vom 11.25.5.2016 aber Termine wahrnehmen könne. Der Vorsitzende teilte sodann mit Schreiben an die Verfahrensbeteiligten vom 11.4.2016 mit, dass die Hauptverhandlung für den Fall der Anklagezulassung am 27.4.2016, 29.4.2016 sowie ab dem 13.25.5.2016 an fünf weiteren, im einzelnen bezeichneten Terminen stattfinden werde, und bat um verbindliche Terminreservierungen. Gegen die Terminierung wandte sich der Wahlverteidiger sodann mit einem Schreiben vom 12.4.2016 und einem Verlegungsantrag vom 13.4.2016. Auf beide Schreiben reagierte die Strafkammer nicht. Am ersten Hauptverhandlungstag übergab der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt B. ein Schreiben von Rechtsanwalt P. vom 27.4.2016, in dem dieser unter Hinweis auf den zuvor geschilderten Sachverhalt eine Verletzung der Verteidigungsrechte seines Mandanten geltend machte und zudem mitteilte, der Angeklagte werde in seiner Abwesenheit nur Pflichtangaben machen. Das Gericht wies am dritten Hauptverhandlungstag im Zusammenhang mit einem Antrag von Rechtsanwalt P., den dieser unter Bezugnahme auf das zuvor genannte Schreiben begründet hatte, u.a. darauf hin, dass sich in der Akte ein Terminverlegungsantrag vom 12.4.2016 befinde. Dieser sei von der Geschäftsstelle nicht eigens vorgelegt und deshalb nicht formal verbeschieden worden; i.Ü. hätte eine Verlegung des Termins aufgrund der Terminlage der anderen Verfahrensbeteiligten und der Kammer nicht erfolgen können.
Der BGH (a.a.O.) hat die Verfahrensweise der Kammer als eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf Verteidigung durch den gewählten Verteidiger aus Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK, § 137 Abs. 1 S. 1 StPO und als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens angesehen. Grundsätzlich habe ein Angeklagter das Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Daraus folge allerdings nicht, dass bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könne (BGH NStZ 1998, 311, 312; 2007, 163, 164). Die Terminierung sei grundsätzlich Sache des Vorsitzenden und stehe in dessen pflichtgemäßem Ermessen (§ 213 StPO). Der Vorsitzende müsse sich jedoch ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen (vgl. BGH NStZ 1987, 34 f.; NStZ-RR 2010, 312, 313; StV 1992, 52, 53). Ein derartiges Bemühen des Vorsitzenden sei vorliegend weder bei der Bestimmung der Hauptverhandlungstermine nach vorheriger Terminanfrage bei den Verfahrensbeteiligten noch hinsichtlich des nachfolgenden Schreibens und des Verlegungsantrags des Wahlverteidigers, der erkennbar das Vertrauen des Angeklagten genoss, ersichtlich. Eine andere Terminierung sei vorliegend auch nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen, da die Strafkammer mit der Hauptverhandlung am 13.5.2016 hätte beginnen können, die Verzögerung mithin zeitlich nicht erheblich ins Gewicht gefallen wäre.
Hinweise:
Die zutreffende und zu begrüßende Entscheidung ist zwar zum Strafverfahren ergangen, es ist aber ein Beschluss, den sich sicherlich auch mancher Bußgeldrichter für das Bußgeldverfahren hinter die Ohren schreiben sollte. Denn wenn man die Diskussionen zu Terminsverlegungen an der Stelle manchmal verfolgt, hat man den Eindruck, dass es sie dort i.d.R. nicht gibt.
Zur Zulässigkeit der Verfahrensrüge folgender Hinweis: Der BGH hat die Rüge als zulässig erhoben angesehen. Bei der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation habe es angesichts der Nichtbescheidung des Schreibens vom 12.4.2016 und des Übergehens des Terminverlegungsantrags vom 13.4.2016, zu dessen Vorlage und Verbleib die Strafkammer keine Erklärung abgegeben hat, keines (Aussetzungs-)Antrags in der Hauptverhandlung (vgl. BayObLGSt 1996, 94, 95; OLG Frankfurt StV 1998, 13, 14; MüKo-StPO/Arnoldi, § 213 Rn 18) bedurft. Der BGH hat es deshalb dahinstehen lassen, ob in dem Schreiben des Wahlverteidigers vom 27.4.2016, in dem auf die Nichtbescheidung der zuvor genannten Schreiben hingewiesen wurde, nicht ein entsprechender Aussetzungsantrag gesehen werden müsste. Dieser Hinweis und die Ausführungen des BGH sollten den vorsichtigen Verteidiger allerdings veranlassen, einen Aussetzungsantrag zu stellen.
In dem dem Beschluss des BGH vom 16.11.2017 (3 StR 460/17, NStZ 2018, 362 f.) zugrunde liegenden Verfahren ging es in der Revision u.a. um einen vom LG abgelehnten Beweisantrag auf Ladung von zwei Ärzten. Der Angeklagte, dem sexuelle Handlungen an der Tochter seiner Lebenspartnerin vorgeworfen wurden, hatte in der Hauptverhandlung u.a. die Anträge gestellt, zwei die Tochter/Nebenklägerin behandelnde Ärzte, darunter eine Frauenärztin, als Zeugen zu den Behauptungen zu vernehmen. Die Mitangeklagte F., seine Lebenspartnerin, habe auf sein Drängen bzw. seine Veranlassung jeweils einen Untersuchungstermin für ihre Tochter vereinbart, während des Termins bei der Frauenärztin habe er vor der Praxis gewartet, während des anderen Arzttermins sei er zugegen gewesen. Diese Beweistatsachen seien für die tatrichterliche Überzeugungsbildung hinsichtlich der ihm angelasteten sexuellen Übergriffe von Bedeutung, denn, würden die Vorwürfe zutreffen, hätte er mit Sicherheit nicht entsprechende ärztliche Untersuchungen veranlasst, die dazu hätten führen können, dass sein angebliches Tun aufgedeckt worden wäre. Das LG hat diese Anträge nach § 244 Abs. 3 S. 1 StPO abgelehnt, weil ein Beweismittelverbot bestünde. Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO unterlägen die zwei Zeugen hinsichtlich ihrer ärztlichen Tätigkeiten gegenüber der Nebenklägerin einer Pflicht zur Verschwiegenheit. Die Nebenklägerin habe durch die Nebenklagevertreterin erklären lassen, sie entbinde die beiden behandelnden Ärzte nicht von dieser Verpflichtung.
Die Revision des Angeklagten hatte beim BGH (a.a.O.) Erfolg. Der BGH hat nämlich die Ablehnung der Beweisanträge wegen Unzulässigkeit der begehrten Beweiserhebungen gem. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO als rechtsfehlerhaft angesehen. Die begehrten Beweiserhebungen seien nicht ohne Weiteres unzulässig gewesen. Stehe einem Arzt nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, so obliege es ausschließlich seiner freien Entscheidung, ob er sich nach Abwägung der widerstreitenden Interessen zu einer Zeugenaussage entschließt. Lehne der Patient es ab, den Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, oder widerrufe er eine frühere Entbindungserklärung, so habe er keinen strafprozessualen Anspruch darauf, dass der Arzt die Aussage verweigere (vgl. BGHSt 18, 146, 147; 42, 73, 76). Das gelte auch dann, wenn sich dieser durch seine Angaben nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar mache (vgl. BGHSt 15, 200, 202; 18, 146, 147 f.). Auch dann bleibe die Aussage grundsätzlich verwertbar (vgl. BGHSt 50, 64, 79 m.w.N.; KK-Senge, StPO, 7. Aufl., § 53 Rn 9). Für das Tatgericht komme es somit nicht darauf an, ob der Berufsgeheimnisträger befugt oder unbefugt handelt, sondern nur darauf, ob er sein Zeugnis verweigert oder nicht (vgl. BGHSt 15, 200; Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 Rn 45; KK-Senge, a.a.O. Rn 7).
Hinweis:
In vergleichbaren Fällen darf also das Gericht nicht allein wegen einer ggf. verweigerten Schweigepflichtsentbindung von einem Beweismittelverbot und damit von der Unzulässigkeit der begehrten Zeugenvernehmungen eines Arztes ausgehen. Vielmehr muss in solchen Fällen falls der Beweisantrag nicht aus anderen Gründen abgelehnt wird der Arzt geladen werden, um seine Entscheidung über das Zeugnisverweigerungsrecht herbeizuführen. Dessen Aussagebereitschaft kann allerdings ggf. auch freibeweislich geklärt werden.
In der Praxis machen den Gerichten Beweisanträge, mit denen die Vernehmung eines im Ausland wohnenden Zeugen beantragt wird, immer wieder Schwierigkeiten. Sie liegen häufig darin begründet, dass der Zeuge nicht oder nur mit erheblichen Problemen zur Hauptverhandlung geladen werden kann. Dazu hat vor einiger Zeit der BGH noch einmal Stellung genommen (vgl. Beschl. v. 28.11.2017 3 StR 272/17). Nach dem Sachverhalt hatte der Verteidiger die Vernehmung eines in Litauen wohnhaften Zeugen beantragt. Daraufhin wandte sich der Vorsitzende per einfachem Brief in litauischer Sprache an den Zeugen und bat unter Nennung der Erreichbarkeit des Gerichts per Telefon, Fax und E-Mail um Rückmeldung, ob der Zeuge bereit sei, einer Ladung Folge zu leisten, entweder zum LG oder für eine audiovisuelle Vernehmung zum litauischen Rechtshilfegericht, das in dieser Sache bereits seit 2011 wiederholt mit diversen Rechtshilfeersuchen der Strafkammer befasst gewesen war. Zugleich wandte sich der Vorsitzende mit einfachem Brief an einen Richter des litauischen Rechtshilfegerichts und bat ihn vorsorglich um Unterstützung bei der erneuten, im Wege der Videosimultanübertragung durchzuführenden Anhörung. Zugleich erbat er eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem Zeugen, um dessen Bereitschaft zu einer Aussage in Oldenburg oder Vilnius zu klären. Als dann in der Folgezeit weder der Zeuge noch das Rechtshilfegericht auf die Schreiben reagierten, lud der Vorsitzende den Zeugen per einfachem Brief in litauischer Sprache zu einem der nächsten Hauptverhandlungstermine. In der Hauptverhandlung war der Zeuge nicht erschienen. Die Strafkammer verkündete noch am selben Hauptverhandlungstag einen Beschluss, mit dem sie die Verlesung eines Dokuments anordnete, das Angaben des Zeugen bei einer früheren Vernehmung in Litauen enthielt. Das Dokument wurde anschließend verlesen.
Der BGH (a.a.O.) hat die auf diese Verfahrensweise gestützte Verfahrensrüge des Angeklagten für unbegründet angesehen. Die Verlesung der Aussage nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO a.F. sei, so der BGH, nicht zu beanstanden. Mit dem die Verlesung anordnenden Beschluss habe die Strafkammer zudem zugleich die beantragte Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung abgelehnt. Zwar sei eine Ladung mit einfachem Brief im Allgemeinen nicht ausreichend, um die Unmöglichkeit der Vernehmung des Zeugen auf absehbare Zeit feststellen zu können, weil der Zugang des Ladungsschreibens ungewiss sei. Hier habe aber der Vorsitzende zusätzliche Tätigkeiten für eine Kontaktaufnahme entfaltet, sowohl mittelbar als auch unmittelbar über das bereits zuvor, seit mehreren Jahren, in dieser Sache tätig gewesene Rechtshilfegericht. Unter diesen Umständen habe die Strafkammer ausnahmsweise die Vernehmungsniederschrift auch ohne vorherige förmliche Zustellung des Ladungsschreibens verlesen dürfen. In Anbetracht der Bemühungen des Vorsitzenden habe es ausgeschlossen erschienen so der BGH , dass der Zeuge von seiner beabsichtigten Vernehmung keine Kenntnis hatte. Wäre er verzogen gewesen, wäre er für die Strafkammer unbekannten Aufenthalts und eine Aufenthaltsermittlung im Ausland nicht veranlasst gewesen.
Hinweis:
Der Beschluss des BGH läutet keine neue Rechtsprechung hinsichtlich der Verlesung von früheren Zeugenaussagen wegen Unerreichbarkeit des Zeugen ein. Denn dem Beschluss liegt eine eher ungewöhnliche Konstellation zugrunde, da Fälle, in denen über Jahre hinweg regelmäßiger und intensiver Kontakt zu einem Rechtshilfegericht im Ausland besteht, in der Praxis selten sein dürften. Dementsprechend hat der BGH (a.a.O.) auch ausdrücklich hervorgehoben, dass von einer förmlichen Zustellung der Ladung nur ausnahmsweise abgesehen werden durfte.
Die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung nach § 247 Abs. 1 StPO ist für das Gericht fehleranfällig. Das zeigt noch einmal der Beschl. des BGH v. 25.1.2018 (5 StR 543/17, NStZ-RR 2018, 117 = ZAP EN-Nr. 268/2018). Nach dem Sachverhalt hatte das LG für die Dauer der Vernehmung einer 16-jährigen Nebenklägerin gem. § 247 S. 2 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal angeordnet. Die Nebenklägerin sagte zur Sache aus; ihre Vernehmung und die Hauptverhandlung wurden für eine Mittagspause unterbrochen. Nach der Mittagspause wurde die Verhandlung fortgesetzt; die Vernehmung der Nebenklägerin blieb unterbrochen. Der Angeklagte wurde wieder vorgeführt. In seiner Anwesenheit erfolgte die Vernehmung eines Zeugen K. Nach Entlassung des Zeugen wurde der Angeklagte erneut von der Verhandlung ausgeschlossen und die Vernehmung der Nebenklägerin fortgesetzt. Eine Unterrichtung des Angeklagten über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Nebenklägerin erfolgte erst im Anschluss. Der BGH hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben.
Nach Auffassung des BGH (a.a.O.) hat das LG mit seiner Verfahrensweise gegen § 247 S. 4 StPO verstoßen. Sobald der Angeklagte wieder anwesend sei, habe der Vorsitzende ihn vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die durch § 247 StPO ermöglichte Verhandlung ohne den Angeklagten und seine hierdurch behinderte Verteidigung seien nur hinzunehmen bei Unterrichtung über das in seiner Abwesenheit Geschehene, bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Das gelte auch, wenn die in seiner Abwesenheit durchgeführte Vernehmung nur unterbrochen war (BGHSt 38, 260; BGH NStZ 1992, 346). Maßgebend für die Unterrichtung sei nicht der Abschluss der Zeugenvernehmung, sondern die Wiederzulassung des Angeklagten. Er müsse vor weiterer Beweiserhebung in seiner Anwesenheit durch Unterrichtung so gestellt werden, dass sein Informationsstand im Wesentlichen dem der anderen Prozessbeteiligten entspreche (vgl. BGHSt 3, 384). Denn ohne Kenntnis der bereits teilweise in die Hauptverhandlung eingeführten Aussage kann er insbesondere sein Fragerecht gegenüber weiteren Zeugen grundsätzlich nicht sachgerecht ausüben (vgl. BGH NStZ 1992, 346; StV 1990, 52 f.).
Hinweise:
Dass bei dem nicht unkomplizierten Verfahren der Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung nicht selten Fehler gemacht werden, die dann in der Revision zur Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führen, ist bekannt. Dass die Revision des Angeklagten hier Erfolg haben würde, lag m.E. dann (auch) auf der Hand. Denn hier ist der Angeklagte nicht etwa zu spät, sondern überhaupt nicht über die in seiner Abwesenheit gemachten Angaben der Zeugin informiert worden.
Der BGH nimmt die Entscheidung i.Ü. zum Anlass, noch einmal den Grundsatz der nach § 247 S. 4 StPO erforderlichen Unterrichtung klarzustellen: Der Angeklagte muss so früh und so umfassend wie möglich informiert werden, damit er die Möglichkeit hat, aktiv an der weiteren Beweisaufnahme teilzunehmen.
Auch die mit der Unterbrechung bzw. rechtzeitigen (also innerhalb der Fristen des § 229 StPO) Fortsetzung der Hauptverhandlung nach einer Unterbrechung zusammenhängenden Fragen spielen in der Rechtsprechung immer wieder eine Rolle. Dabei geht es um den Begriff der Förderung des Verfahrens. Nur wenn eine solche Förderung zu bejahen ist, handelt es sich um eine Sachverhandlung und die jeweilige Frist des § 229 StPO ist gewahrt. Der BGH hat im Beschluss vom 16.11.2017 (3 StR 262/17, NStZ 2018, 297 = StRR 3/2018, 17) die Auffassung vertreten, dass auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrens in der Sache liegen kann, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann.
Zu entscheiden hatte der BGH über folgenden Verfahrensablauf: Der fünfte Tag der Hauptverhandlung am LG fand am 19.12.2016 statt. Nach der Vernehmung u.a. von Zeugen wurde sie unterbrochen und bestimmt, dass sie am 4.1.2017 fortgesetzt werden solle. An diesem Tag erhielten zunächst die Verteidiger Abschriften des Prozesskostenhilfeantrags einer Zeugin Ka. Außerdem wurde festgestellt, dass die nicht erschienene Zeugin A. ordnungsgemäß zu dem Termin geladen worden war. Sodann wurde die Hauptverhandlung für 40 Minuten unterbrochen. Anschließend wurden der Vertreterin der Staatsanwaltschaft ebenfalls eine Abschrift des Prozesskostenhilfeantrags der Zeugin Ka. übergeben sowie ein Vermerk der Geschäftsstelle vom gleichen Tag bezüglich der Zeugin A. verlesen. Danach hatte die Polizeistation L. in der Zwischenzeit telefonisch mitgeteilt, dass die Zeugin zu Hause angetroffen werden konnte. Sie habe sich dahingehend geäußert, ihre fünf Kinder seien alle in der Kinderkrippe und müssten um 12 Uhr abgeholt werden. Dies habe sie in einem Anruf beim LG kundgetan. Ein solcher Anruf sei allerdings auf der Geschäftsstelle der Strafkammer nicht entgegengenommen worden. Nachdem die Verteidiger erklärt hatten, zu dem Prozesskostenhilfeantrag keine Stellung zu nehmen, und für den Fall der Bewilligung ebenfalls die Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung für das Adhäsionsverfahren beantragt hatten, wurde die Hauptverhandlung erneut unterbrochen und bestimmt, dass sie am 17.1.2017 fortgesetzt werden solle. Zu diesem Termin solle die Zeugin A. polizeilich vorgeführt werden. Am 17.1.2017 wurde die Hauptverhandlung fortgesetzt und dabei u.a. die Zeugin A. vernommen, die Beweisaufnahme geschlossen sowie das angefochtene Urteil verkündet.
Mit seiner Revision hat der Angeklagte die Verfahrensrüge erhoben und geltend gemacht, am 4.1.2017 sei nicht zur Sache verhandelt worden, weil das Verfahren nicht ausreichend gefördert worden sei. Deshalb sei dieser Termin bei der Berechnung der Unterbrechungsfristen des § 229 StPO nicht zu berücksichtigen. Folglich sei die Hauptverhandlung länger als drei Wochen unterbrochen gewesen und habe von neuem begonnen werden müssen.
Der BGH (a.a.O.) hat das anders gesehen: Er geht von einer Sachverhandlung i.S.d. § 229 StPO aus, da auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrens in der Sache liegen könne, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann (vgl. BGH StRR 6/2016, 14 m.w.N.). Dies gelte insbesondere dann, wenn die für den Fortsetzungstermin in Aussicht genommene sonstige Förderung des Verfahrens infolge unvorhersehbarer Ereignisse nicht stattfinden könne. Denn es seien regelmäßig Situationen vorstellbar, in denen eine Hauptverhandlung aufgrund solcher Geschehnisse nur in wesentlich geringerem Umfang als geplant, möglicherweise sogar nur durch eine Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens nach § 228 StPO gefördert werden kann. Dies sei z.B. dann der Fall, wenn der Angeklagte ohne vorherige Ankündigung nicht zum Termin erscheine oder unmittelbar nach Terminsbeginn plötzlich feststelle, dass er aufgrund einer Erkrankung der weiteren Verhandlung nicht weiter folgen könne, wenn für einen Hauptverhandlungstermin nur ein Zeuge geladen wurde und dieser überraschend ausbleibt oder wenn die Verfahrensbeteiligten aufgrund etwa von der Staatsanwaltschaft kurzfristig überlassener Unterlagen, wie etwa Sachverständigengutachten oder Ermittlungsberichte, nicht in der Lage sind, sich auf die weitere Beweisaufnahme vorzubereiten. Würde in diesen für das Gericht jeweils unvorhersehbaren Fallgestaltungen die Entscheidung über die Unterbrechung einer Hauptverhandlung nicht zur Fristwahrung ausreichen, hätte dies zur Folge, dass mit der Verhandlung neu begonnen werden müsste (§ 229 Abs. 4 S. 1 StPO). Dies stünde aber weder mit der Verfahrensökonomie noch mit dem Anspruch des Angeklagten auf einen zügigen Abschluss des Verfahrens in Einklang (noch offen gelassen in BGH a.a.O.). Nach diesen Maßstäben sei so der BGH im Zusammenhang mit den Geschehnissen betreffend die Zeugin A. in genügender Weise zur Sache verhandelt worden.
Hinweis:
Im Beschluss des BGH vom 30.6.2015 (3 StR 202/15, BGH StRR 6/2016, 14) hatte der 3. Strafsenat noch offen gelassen, ob er der vom 1. Strafsenat vertretenen Auffassung, dass die Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO auch dann gewahrt ist, wenn die für den Fortsetzungstermin in Aussicht genommene weitere Förderung des Verfahrens in der Sache infolge unvorhersehbarer Ereignisse nicht stattfinden kann (so der 1. Strafsenat des BGH, Beschl. v. 5.11.2008 1 StR 583/08, StRR 2009, 223), folgen will. Nun hat er sich dieser Auffassung angeschlossen, obwohl sich nicht auf den ersten Blick erschließt, wo die Unterschiede in den Sachverhalten liegen. In der Entscheidung des 1. Strafsenats v. 5.11.2008 hatte das Gericht zunächst einem mit veränderter Sachlage begründeten Unterbrechungsantrag des Verteidigers entsprechen müssen. Im Beschluss des 3. Strafsenats vom 3.6.2015 war das LG auch ausschließlich infolge der Erkrankung der geladenen Zeugin daran gehindert gewesen, die Beweisaufnahme wie vorgesehen fortzusetzen. Davon unterscheidet sich der jetzt entschiedene Sachverhalt kaum. Im Beschluss vom 3.6.2015 war auch noch eine restriktive Auslegung des § 229 StPO propagiert worden. Die scheint den BGH nun im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz weniger zu interessieren. Jedenfalls wird sich die Praxis, auch die der Verteidigung, auf die geänderte Rechtsprechung einstellen müssen.
Seit Jahren wird im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren um das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgeräts und/oder auf Einsicht und Herausgabe von Messdaten der Messung gestritten, die dem Verfahren gegen den Betroffenen zugrunde liegt. In diesem Streit gibt es eine strenge Rechtsprechung der wohl überwiegenden Meinung der OLG, die einen Herausgabeanspruch des Betroffenen verneinen und in der Verweigerung der Herausgabe der Messdaten auch keine Verletzung von Rechten des Betroffenen sehen (vgl. dazu eingehend mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung Burhoff, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 2220 ff.). Zu der Problematik liegt jetzt (endlich) eine verfassungsgerichtliche Entscheidung vor. Der VerfGH des Saarlands hat in seinem Beschluss vom 27.4.2018 (Lv 1/18, ZAP-EN-Nr. 364/2018 = VRR 6/2018, 15), die Verfahrensweise der Verwaltungsbehörde, die dem Betroffenen vorhandene Messdaten auf Antrag hin nicht in lesbarer Form herausgeben und die Absegnung dieser Verfahrensweise durch die OLG als Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs und eines fairen gerichtlichen Verfahrens angesehen.
Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren wegen eines Rotlichtverstoßes, der mit dem Messgerät PoliScan F1 HP festgestellt worden war. Die Verteidigerin hatte in der Hauptverhandlung beantragt, ihr die digitalen Falldaten inklusive der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamtem Messserie, die Token-Datei, das zugehörige Passwort sowie die Statistikdatei zur Verfügung zu stellen, die Hauptverhandlung auszusetzen und ein Sachverständigengutachten einzuholen. Das AG hatte das abgelehnt und den Betroffenen verurteilt. Den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat das OLG Saarbrücken verworfen (vgl. u.a. zfs 2017, 172).
Der VerfGH Saarland (a.a.O.) sieht das gänzlich anders und geht von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes des fairen Verfahrens aus. Denn nach den Grundsätzen zum sog. standardisierten Verfahren könne der Betroffene die davon ausgehende Richtigkeitsvermutung nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vorträgt. Dies werde ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn die Messdaten als die Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden (OLG Celle StRR 8/2016, 18 = VRR 8/2016, 16 m. Anm. Burhoff; Deutscher DAR 2017, 723; Cierniak zfs 2012, 664, 669). Ebenso wie dem Ankläger Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, einen Tatvorwurf nachzuweisen, was in Fällen der hier diskutierten Art leicht möglich ist, da der vom Gerät angezeigte Wert dafür genügt, muss sich aus dem dem Gebot eines fairen Verfahrens folgenden Gebot der Waffengleichheit ergeben, dass einem im Bußgeldverfahren Betroffenen Zugang zu den Informationen gewährt werden muss, die er benötigt, um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen oder durch einen Verteidiger verteidigen zu lassen (Parität des Wissens, LG Trier DAR 2017, 721, 722 m. Anm. Deutscher = NZV 2017, 589 m. Anm. Krenberger; OLG Jena NJW 2016, 1457 m. Anm. Leitmeier = StRR 4/2016, 20 = VRR 8/2016, 16 jeweils m. Anm. Burhoff; OLG Celle a.a.O.; Cierniak zfs 2012, 664 ff.; Krenberger a.a.O.; Deutscher VRR 10/2015, 16; ders. DAR 2017, 723; Burhoff VRR 2013, 78; ders. StRR 4/2016, 20). Ablehnende Stimmen überzeugten den VerfGH Saarland nicht. So sehe etwa das OLG Bamberg den Grundsatz des fairen Verfahrens durch die Nichtbeiziehung der Lebensakte eines Abstands- und Geschwindigkeitsmessgeräts oder von sonstigen außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen nicht als verletzt an (NZV 2018, 80 m. Anm. Krenberger; OLG Bamberg DAR 2016, 337 = VRR 7/2016, 19 m. Anm. Deutscher).
Hinweise:
Der mehr als 28 Seiten lange Beschluss ist lesenswert und sollte für den Verteidiger in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldsachen zur Pflichtlektüre gehören. Denn er weist nicht nur auf den weiten Umfang des Einsichtsrechts des Betroffenen hin, sondern auch darauf, dass dies grundsätzlich auch noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden kann, um ein faires Verfahren und den Anspruch auf rechtliches Gehör zu gewährleisten. Nichts anderes gilt für einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, wenn die vom Einsichtsrecht umfassten Objekte nicht zuvor in vollem Umfang zur Verfügung gestellt werden.
Zu beachten sind aber die auch vom VerfGH vorgegebenen Einschränkungen. So sollte sich der Verteidiger bereits frühzeitig gegenüber der Verwaltungsbehörde um Einsicht in die relevanten Objekte bemühen. Im gerichtlichen Verfahren ist der entsprechende Antrag (frühzeitig) vor der Hauptverhandlung zu stellen. Bei dort gestelltem Antrag auf Aussetzung wegen noch nicht erfüllten Einsichtsrechts muss der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO auch beim Bußgeldrichter als Einzelrichter eingesetzt werden, um keinen Rügeverlust im Rechtsbeschwerdeverfahren zu riskieren (zu allem Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 220 ff.).
Abschließend: Man wird die Behauptung aufstellen können, dass mit dieser Entscheidung der Kampf noch nicht vorbei ist. Die OLG, die in der Vergangenheit eine andere Auffassung vertreten haben, werden diese nicht so schnell ohne Weiteres aufgeben. Das OLG Bamberg hat im Beschl. v. 13.6.2018 3 Ss OWi 626/18 inzwischen auch schon dem VerfG Saarland mit einer bemerkenswerten Diktion eine Absage erteilt und hält an seiner unzutreffenden Rechtsprechung fest. Wahrscheinlich wird man auch damit argumentieren, dass der Beschluss über das Saarland hinaus keine Bindungswirkung hat und/oder auch die Anforderungen an die Begründung der Rechtsbeschwerde noch weiter erhöhen (vgl. dazu zuletzt OLG Hamm, Beschl. v. 6.3.2018 3 RBs 38/18). Damit würde man aber dem Verdikt aus dem Saarland nicht gerecht. Meines Erachtens kommen die ein Einsichts-/Herausgaberecht bislang ablehnenden OLG nicht umhin, ihre Rechtsprechung in der Frage zu ändern.
Hinzuweisen ist auf den Beschluss des OLG Rostock vom 30.4.2018 (20 Ws 78/18, NJW-Spezial 2018, 381). Es handelt sich um einen zweigeteilten Beschluss. Von den beiden Problembereichen soll hier nur der mit § 43 RVG zusammenhängende dargestellt werden: Dabei geht es um die Frage der Wirksamkeit der Abtretung der Kostenerstattungsansprüche des Angeklagten bereits in der Vollmacht, eine Frage, die in der Rechtsprechung immer noch nicht abschließend entschieden ist (s. OLG Nürnberg, Beschl. v. 25.3.2015 2 Ws 426/14, RVGreport 2015, 256 = StRR 2015, 317). Das OLG Rostock grenzt sich von diesem Beschluss ab und sieht in dem von ihm entschiedenen Fall die Abtretung als wirksam an (vgl. zur Wirksamkeit einer in die Vollmachtsurkunde aufgenommenen Abtretungserklärung Burhoff, in: Gerold/Schmidt, RVG, 23. Aufl., § 43 Rn 12). Die Abtretungserklärung in der Vollmacht scheiterte in dem vom OLG Rostock entschiedenen Fall auch nicht an der Vorschrift des § 305c BGB, denn die betreffende Textpassage war in der Vollmachtsurkunde gegenüber den übrigen darin enthaltenen Regelungen eigens durch Fettdruck besonders hervorgehoben worden, weshalb das OLG davon ausgegangen ist, dass sie für den Mandanten nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags klar erkennbar und deshalb nicht überraschend war.
Hinweis:
Ist die Abtretung (in der Vollmacht) wirksam, treten alle zivilrechtlichen Folgen ein, also z.B., dass eine nachfolgende weitere Abtretung unwirksam ist. Und im Verfahren ist dann eine ggf. erklärte Aufrechnung der Staatskasse unwirksam. Das betrifft alle Ansprüche der Staatskasse, also betreffend bezahlter Pflichtverteidigergebühren, eine Pauschvergütung oder Gerichtskosten. Voraussetzung ist dann aber natürlich, dass die Abtretungsurkunde zur Akte gereicht worden ist.
Zur Neuregelung des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202; s. auch oben II. 2.) liegt nun mit dem Beschluss des LG Magdeburg vom 19.3.2018 (25 Qs 14/18, StRR 5/2018, 24 f.) die erste Entscheidung vor, die die gebührenrechtlichen Auswirkungen behandelt. Entschieden hat das LG allerdings zunächst nur über einen Terminsvertreter im Haftprüfungstermin. Denn der Rechtsanwalt, der dort anwesend war, ist nur für den eigentlich beigeordneten Rechtsanwalt, der verhindert war, tätig geworden.
Das LG hat aber dennoch nicht unter Anwendung der (nicht zutreffenden) Rechtsprechung zum sog. Terminsvertreter (vgl. dazu zuletzt Burhoff RVGreport 2017, 242 m.w.N.) lediglich die Terminsgebühr zuerkannt, sondern auch die Grundgebühr sowie die Verfahrensgebühr sowie eine Postpauschale. Die Rechtslage sei nämlich anders als beim Terminsvertreter für eine Vernehmung z.B. in der Hauptverhandlung. Der für diesen Haftprüfungstermin gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO beigeordnete Verteidiger müsse den gesamten Akteninhalt beherrschen, um Stellung nehmen zu können. In jedem Fall sei im Rahmen des Haftprüfungstermins, der eine richterliche Vernehmung i.S.v. § 141 Abs. 3 S. StPO darstelle, eine nicht nur punktuell vorhandene Aktenkenntnis, sondern vielmehr vollständige Einarbeitung in die Sache vonnöten.
Hinweis:
Im Ergebnis ist die Entscheidung des LG richtig, die Begründung hinkt allerdings. Das LG hätte den Umweg betreffend den besonderen Terminsvertreter in einer Haftprüfung nicht zu machen brauchen. Zwar war der Rechtsanwalt nur für den Haftprüfungstermin beigeordnet (vgl. zum Umfang der Beiordnung Burhoff ZAP F. 22, S. 889, 897), in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO, auf dem die Beiordnung beruht, ist die Formulierung aber ausdrücklich Verteidiger. Damit kann die Abrechnung der Tätigkeit auf jeden Fall nur über Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG laufen und es sind in diesen Fällen auf jeden Fall Grundgebühr, Verfahrensgebühr und Terminsgebühr festzusetzen (vgl. dazu auch Burhoff RVGreport 2017, 402).
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