Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

aus ZAP Heft 24/2021, F. 22 R, S. 1217

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (II/2021)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise

    1. Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.

    2. Änderungen im Recht der Wiederaufnahme (§ 362 StPO)

II. Ermittlungsverfahren.

    1. Pflichtverteidigung.

        a) Umfang der Bestellung des Pflichtverteidigers.

        b) Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung.

    2. Vorratshaltung von (freien) Terminen.

III. Hauptverhandlung.

    1. Beweisantrag.

        a) Beweisantrag „ins Blaue“/Ernsthaftigkeit

        b) Erfordernis der Konnexität beim Beweisantrag.

    2. Fristsetzung für den Beweisantrag.

    3. Urteilsgründe nach gutachterlichen Vergleichsuntersuchungen von DNA-Spuren.

IV. Entschädigung bei verzögerter Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren.

I. Hinweise

1. Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.

Der Verf. in ZAP F. 22 R, S. 1193 über das (geplante) „Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.“ berichtet. Dieses Gesetz und die darin enthaltenen Änderungen in der StPO sind inzwischen am 25.6.2021 in Kraft getreten (BGBl I, S. 2099). Wegen der Einzelheiten zu den Neuregelungen wird auf Burhoff ZAP F. 22, S. 997 ff. und StraFo 2021, 398 ff. verwiesen.

2. Änderungen im Recht der Wiederaufnahme (§ 362 StPO)

Noch am 11.6.2021 hatten die (damaligen) Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD einen Gesetzentwurf zu einer weiteren Änderung der StPO im Bundestag eingebracht, und zwar den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gem. § 362 der Strafprozessordnung“ (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit, BT-Drucks 19/30399). Dieser ist dann bereits am 24.6.2021 im Bundestag beschlossen worden. Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 17.9.2021 den Vermittlungsausschuss nicht angerufen. Die Änderungen sind bisher (Stand: 29.11.2021) noch nicht in Kraft getreten.

§ 362 StPO, der die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten regelt, ist durch dieses Gesetz um eine neue Nr. 5 erweitert worden. Eine Wiederaufnahme ist danach nun auch dann möglich, wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt. Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen in Art. 103 Abs. 3 GG, wo der Grundsatz „ne bis in idem“ (Verbot der Doppelbestrafung: Niemand darf zweimal für dieselbe Tat angeklagt werden) verankert ist, ist die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten allerdings nur für die Fälle vorgesehen, in denen der Vorwurf auf Mord gem. § 211 StGB oder auf ein ausschließlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohtes Tötungsverbrechen nach dem VStGB lautet. Ziel dieser Neuregelung ist es, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten eines freigesprochenen Angeklagten bei schwersten Straftaten auch dann zu ermöglichen, wenn erst nach Abschluss des Gerichtsverfahrens neue, belastende Beweismittel aufgefunden werden, aus denen sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines zuvor Freigesprochenen ergibt, so dass ein Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils zu – gemessen an der materiellen Gerechtigkeit – schlechterdings unerträglichen Ergebnissen führen würde (BT-Drucks 19/30399, S. 1). Gedacht ist hier an die Fälle, in denen sich neuen belastenden Informationen nach Abschluss eines Verfahrens durch neue (technische) Untersuchungsmethoden – wie dies z.B. seit den späten 1980er Jahren mit der Analyse von DNA-Material der Fall ist oder wie dies künftig auch durch die digitale Forensik zu erwarten sein wird, auftun. Es bleibt abzuwarten, ob die Neuregelung einer sicherlich in nicht allzu ferner Zeit erfolgenden verfassungsrechtlichen Prüfung durch das BVerfG standhalten wird.

II. Ermittlungsverfahren

1. Pflichtverteidigung

a) Umfang der Bestellung des Pflichtverteidigers

In Rechtsprechung und Literatur wird seit langem darum gestritten, ob die Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger auch die Vertretung im Adhäsionsverfahren umfasst oder ob dazu eine besondere Beiordnung nach PKH-Grundsätzen erforderlich ist (vgl. die Nachweise bei Burhoff in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4143 VV Rn 18 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Volpert/Bearbeiter, RVG]). Die Frage ist 2019 auch nicht durch die Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung durch das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) geklärt worden. Nun hat sich der BGH, der mit der Problematik bislang noch nicht befasst war, dazu geäußert (BGH, Beschl. v. 27.7.2021 – 6 StR 307/21, NJW 2021, 2901 = AGS 2021, 431).

Das LG hatte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Der das Urteil mit der Sachrüge angreifende Angeklagte hatte Revision eingelegt und beantragt, ihm für die Revisionsinstanz zur Verteidigung gegen den Adhäsionsantrag Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verteidigerin zu bewilligen. Der BGH hat den Antrag abgelehnt.

Dem Angeklagten stehe – so der BGH (a.a.O.) – keine Prozesskostenhilfe zu. Denn ihm sei bereits eine Pflichtverteidigerin beigeordnet. Diese Beiordnung erstrecke sich auf das Adhäsionsverfahren. Nach Darstellung des Streitstands in Rechtsprechung und Literatur (vgl. u.a. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, a.a.O. und auch Burhoff in: Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl., VV 4143, 4144 Rn 5, jeweils m.w.N.) schließt sich der BGH der Auffassung an, die davon ausgeht, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auch die Vertretung im Adhäsionsverfahren umfasst. Sei die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig i.S.v. § 140 StPO, so erstrecke sich diese Notwendigkeit auf das gesamte Verfahren (§ 143 Abs. 1 StPO), mithin auch auf die Verteidigung gegen Adhäsionsanträge (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 140 Rn 4). Dies ergebe sich bereits aus der engen tatsächlichen und rechtlichen – i.d.R. untrennbaren – Verbindung zwischen der Verteidigung gegen den Tatvorwurf und der Abwehr des aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruchs des Verletzten i.S.v. § 403 StPO (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2001 – 3 StR 25/01, NJW 2001, 2486 = StraFo 2001, 306). Die sich aus der strafprozessualen Verknüpfung von Tat und Anspruch resultierende Effizienz sei gerade Zweck des Adhäsionsverfahrens (vgl. OLG Hamm StraFo 2001, 361 = AGS 2002, 110). Auch der Gesetzgeber sei mit der Regelung der Nr. 4143 VV RVG davon ausgegangen, dass die das Adhäsionsverfahren betreffende Gebühr ohne Weiteres dem „Pflichtverteidiger“ zusteht (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 228; s. außerdem Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 4143 VV Rn 21).

Die in zeitlicher und sachlicher Hinsicht umfassende Wirkung der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nach Auffassung des BGH überdies auch der 2019 neugefassten Vorschrift des § 143 Abs. 1 StPO zu entnehmen. Denn der Gesetzgeber habe die Richtlinie 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren (ABl L 297 vom 4.11.2016, S. 1, „PKH-Richtlinie“) unter Beibehaltung des Systems der notwendigen Verteidigung in nationales Recht umgesetzt (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 2). Er habe eine Entscheidung gegen die „antragsbasierte Prozesskostenhilfe für Beschuldigte anstelle oder neben der notwendigen Verteidigung“ getroffen (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 4, 27), weil es „keine Vorteile mit sich bringen würde“. Daraus wird nach Ansicht des BGH deutlich, dass es nach dem Willen des Gesetzgebers im Strafverfahren kein Nebeneinander von Prozesskostenhilfe und notwendiger Verteidigung geben soll.

Hinweis:

Mit dieser Entscheidung hat der BGH nun endlich einen der gebührenrechtlichen Dauerbrenner der letzten Jahre geklärt. Der Argumentation des BGH ist nichts hinzuzufügen, außer: Argumentation und Entscheidung sind zutreffend.

Die Vorschrift des § 404 Abs. 5 StPO, die die Beiordnung eines Rechtsanwalts für den Angeschuldigten im Adhäsionsverfahren zulässt, gebiete keine andere Wertung, denn sie bleibe zumindest für die Fälle, in denen die Voraussetzungen des § 140 StPO nicht vorliegen, von Bedeutung.

b) Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung

Über die Ende 2019 erfolgten Änderungen im Recht der Pflichtverteidigung (vgl. BGBl I, S. 2128) wurde schon berichtet (vgl. Hillenbrand ZAP F 22, S. 998). Seitdem haben sich viele Gerichte mit den Neuregelungen befasst (vgl. dazu die Rechtsprechungsübersicht von Burhoff ZAP F. 22R, S. 1181 ff. und Hillenbrand ZAP F. 22 S. 1047 sowie zuletzt Burhoff StraFo 2021, 486 ff.). Hier soll noch einmal auf einen Hauptstreitpunkt, den auch die Neuregelung nicht beseitigt hat, hingewiesen werden, nämlich die Frage der Zulässigkeit der (nachträglichen/rückwirkenden) Pflichtverteidigerbestellung. Dabei geht es i.d.R. darum, dass der Rechtsanwalt rechtzeitig einen Beiordnungsantrag gestellt hat, der nicht beschieden worden ist. Wenn der Rechtsanwalt dann nach Einstellung des Verfahrens, meist nach § 154 StPO, an seinen Antrag erinnert, wird ihm häufig entgegengehalten, dass nach Beendigung des Verfahrens eine Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht mehr in Betracht komme.

Dazu ist von der h.M. in der Rechtsprechung der LG schon zum früheren Recht vertreten worden, dass diese Sicht unzutreffend ist. Diese Rechtsprechung hat sich zum neuen Recht fortgesetzt und verstärkt. Inzwischen wird die Auffassung auch von einigen OLG vertreten (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19 m. Anm. Hillenbrand = NStZ-RR 2021, 315 [Ls.]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20, StraFo 2021, 71 = StV 2021, 153 = StRR 1/2021, 21; wegen weiterer Nachweise aus der Rechtsprechung der AG und LG Burhoff StraFo 2021, 492 [s. dortige Fn 103-105]).

Die bislang zu der Problematik vorliegende Rechtsprechung lässt sich dahin zusammenfassen, dass danach die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen hat, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu dem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (so z.B. LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21, StRR 11/2021, 17). Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die nachträgliche Verteidigerbestellung grds. unzulässig ist. Das könne aber dann nicht gelten, wenn die in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung über den Antrag aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden und von ihm nicht beeinflussbaren Gründen wesentlich verzögert wurde oder unterblieben (OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Nürnberg, a.a.O.). Ein genereller Ausschluss der nachträglichen Beiordnung sei spätestens seit der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 ausgeschlossen; dies wäre – so das LG – mit der der Reform zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU nicht vereinbar. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene nämlich nicht ausschließlich dessen Gebühreninteresse, sondern auch den Interessen eines Angeklagten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung und damit einhergehend der Sicherung eines fairen Verfahrens. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber mit der Einführung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 StPO klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine Absicht war, bei Vorliegen der in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen. Der Beiordnungszeitpunkt sollte, was sich überdies auch aus den Änderungen in § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 7 StPO ergebe, vorverlagert werden. Dieser gesetzgeberischen Absicht liefe es zuwider, ließe man ein Zuwarten mit der Verbescheidung von Beiordnungsanträgen bzw. Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheidungen zu.

Hinweis:

Die h.M. in der Rechtsprechung der LG/AG, die die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers als zulässig ansieht, ist zutreffend. Von den OLG haben sich dieser zutreffenden Ansicht bisher leider nur OLG Bamberg und OLG Nürnberg (jeweils a.a.O.) angeschlossen. Die anderen OLG, die nach dem Inkrafttreten der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung zu der Frage bisher Stellung genommen haben (KG, Beschl. v. 4.9.2020 – Ws 217/19; OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20 u. 1 Ws 20/20, NJW 2020, 625 = StRR 12/2020, 25; OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21; OLG Bremen, Beschl. v. 23.9.2020 – 1 Ws 120/20, NStZ 2021, 253 = StRR 12/2020, 25; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20, StraFo 2020, 486), haben an der alten Rechtsprechung festgehalten, was aus den u.a. vom LG Stuttgart (a.a.O.) zutreffend dargelegten Gründen nicht nachvollziehbar ist. Zumal die OLG sich zum Teil auch auf Rechtsprechung zum früheren Recht bezogen haben, die auf das neue Recht aber nicht mehr anwendbar ist.

Der Verteidiger muss sich ggf. auf die Rechtsprechung der beiden OLG und der LG/AG beziehen. Er darf bei ablehnenden Entscheidungen nicht übersehen, dass nach der Neuregelung nun gem. § 142 Abs. 7 StPO ggf. sofortige Beschwerde einzulegen ist, muss also die Wochenfrist des§ 311 Abs. 2 StPO beachten (zu allem auch Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3304 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, EV]).

2. Vorratshaltung von (freien) Terminen

Welcher Verteidiger kennt die Problematik nicht? Ein Richter ruft an und fragt zur Vorbereitung der Terminierung der Hauptverhandlung nach freien Terminen des Verteidigers. Dieser gibt auf diese Terminsnachfrage dann seine freien Termine an, ohne dass aber ein Termin abgesprochen oder der Verteidiger gebeten wird, diese oder einen dieser Termine „frei zu halten“. Nach diesem Gespräch hört der Verteidiger dann längere Zeit nichts mehr, bis dann eine Ladung zur Hauptverhandlung an einem der (ehemals) freien Termine eingeht. Inzwischen ist der Termin aber nicht mehr frei, da der Verteidiger ihn anderweitig belegt hat bzw. wegen anderer Ladungen belegen musste. Er stellt daher einen Terminsverlegungsantrag wegen dieser anderweitigen Verhinderung. Das wird dann vom Gericht abgelehnt, da der ausgewählte Termin ja ausdrücklich als freier Termine benannt worden sei. So ähnlich ist es vor kurzem einem Verteidiger im LG-Bezirk Magdeburg ergangen. Da hatten zwischen der „Terminsnachfrage“ und der Zustellung der Ladung drei Wochen und zwei Tage gelegen. Das AG hat das als nicht zu lang angesehen und die Terminsverlegung abgelehnt. Auf die Beschwerde des Verteidigers hat das LG Magdeburg die Entscheidung aufgehoben (LG Magdeburg, Beschl. v. 9.9.2021 – 25 Qs 74/21, VRR 11/2021, 21).

Nach Auffassung des LG (a.a.O.) hätte das AG im Rahmen seiner Entscheidung über den Terminsaufhebungsantrag des Verteidigers nämlich berücksichtigen müssen, dass das AG zwar „nur“ acht Tage gebraucht habe, um einen der beiden vom Verteidiger vorgeschlagenen Termine auszuwählen und einen entsprechenden Hauptverhandlungstermin anzuberaumen. Jedoch hätte es auch erkennen müssen, dass seit der Terminsladung und der Ausführung dieser Verfügung wiederum 13 Tage vergangen seien, bis die Ladung bei dem Verteidiger eingegangen sei. Wenn aber ein Verteidiger freie Termine anbiete und es dann mehr als drei Wochen dauere, bis eine Ladung bei dem Verteidiger eingehe, müsse dieser nicht mehr damit rechnen, dass einer der angebotenen Termine auch tatsächlich seitens des Gerichts (noch) berücksichtigt wird. Es hätte vielmehr in dem Fall dem AG oblegen, bevor eine Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin verfügt wurde, telefonisch dem Büro des Verteidigers mitzuteilen, dass dieser Termin als künftiger Hauptverhandlungstermin berücksichtigt wurde oder aber eine entsprechende Ladung per Fax zu übersenden. Es könne dem Verteidiger angesichts dieser Ungewissheit nicht zugemutet werden, über einen Zeitraum von über drei Wochen hinweg Termine – ohne Rückmeldung des Gerichts – vorzuhalten. Vor der Annahme des Termins beim AG rückzufragen. ob einer der angebotenen Termine ausgewählt worden sei, übersteige das einem Verteidiger Zumutbare, zumal es dem Gericht ein Leichtes gewesen wäre, zeitnah für eine „Blockierung“ des Termins zu sorgen.

Hinweis:

Nach Ansicht des Verf. eine zutreffende Entscheidung, die die „Risikenrichtig verteilt. Denn es liegt in der Tat nicht mehr in der Sphäre des Verteidigers, wenn dieser nach Mitteilung von freien Terminen – ohne gebeten worden zu sein, sie frei zu halten – diese Termine anderweitig „vergibt“. Wollte man das verlangen, würde über kurz oder lang jedes Verteidigerbüro blockiert sein. Vielmehr wird man von einem Gericht – wie hier das LG vom AG – wenn es schon acht Tage benötigt, um einen freien Termin auszuwählen, verlangen können, dass es dann den Verteidiger informiert oder für eine schnelle Zustellung der Ladung sorgt. Das kann entweder der Richter selbst oder die Geschäftsstelle durch einen Telefonanruf einfach erledigen. Noch einfacher wäre es, sofort bei der Frage nach freien Terminen einen auszuwählen oder zu bitten, die angegebenen Termine zu blockieren und dann – zeitnah! – zu terminieren. Was jedenfalls nicht geht, ist, den Verteidiger zu verpflichten, sich zu erkundigen (!), ob bzw. welchen der angebotenen Termine das anfragende Gericht besetzt. Etwas anderes gilt sicherlich, wenn ein Termin abgesprochen war und oder der Verteidiger gebeten worden ist, den oder die Termine frei zu halten (zu den Terminsfragen s.a. Burhoff/Burhoff, EV, Rn 4401 oder Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn 3070 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/ Bearbeiter, HV]).

III. Hauptverhandlung

1. Beweisantrag

Das Recht des Beweisantrags ist durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) und durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121) teilweise neu geregelt worden (zu den Einzelheiten u.a. Burhoff ZAP F. 22, S. 1009, 1017; ders., StRR 10/2020, 5 ff.). Einige Berichtszeitraum ergangene Entscheidung des BGH befassen sich mit der neu gefassten Vorschrift des § 244 StPO.

< a) Beweisantrag „ins Blaue“/Ernsthaftigkeit

Durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121) ist in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO der Begriff des Beweisantrages erstmals formuliert worden. Erforderlich ist u.a. ein sog. ernsthaftes Verlangen (vgl. wegen der Einzelheiten Burhoff/Burhoff, Rn 1054 ff.; 1158 ff). Der BGH hat nun entschieden, dass die in seiner Rechtsprechung zur früheren Rechtslage im Hinblick auf die Ablehnung eines „ins Blaue“ gestellten Beweisantrags aufgestellten strengen Anforderungen auch für die Neuregelung des Rechts des Beweisantrags gelten (BGH, Beschl. v. 16.3.2021 – 5 StR 35/21, StraFo 2021, 239 = StRR 5/2021, 15; vgl. auch noch BGH, Urt. v. 25.2.2021 – 3 StR 204/20, NStZ 2021, 626, wo der BGH offen gelassen hat, unter welchen Umständen einem Antrag, mit dem zum Nachweis einer bestimmten Beweistatsache ein konkretes Beweismittel bezeichnet wird, dennoch die Eigenschaft eines Beweisantrags fehlen kann, wenn es sich bei der Beweistatsache um eine ohne jede tatsächliche und argumentative Grundlage aufs Geratewohl, ins Blaue hinein aufgestellte Behauptung handelt).

Folgender Sachverhalt: Die Hauptverhandlung beim LG lief in dem Verfahren mit verschiedenen Raubvorwürfen seit Dezember 2019. Vom LG war ein vom Verteidiger des Angeklagten am 19. von 22 Hauptverhandlungstagen gestellter Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen G zurückgewiesen worden. Es war beantragt worden, den Zeugen G. zum Beweis der Tatsache zu hören, dass der Angeklagte diesen am 23.10.2018 gegen 22 Uhr in H. getroffen, sich kurz mit ihm unterhalten und ihm von einer Tankstelle eine Schachtel Zigaretten und Kekse bzw. Zwieback nebst Kassenbon mitgebracht habe. Ziel des Antrags war es, den Angeklagten wegen dieses Alibis als Mittäter zweier Überfälle am 23. 10. 2018 gegen 22 Uhr in M. und gegen 23 Uhr in N. auszuschließen. Nach Auffassung des LG hatte es sich bei dem Antrag lediglich um einen nach Amtsermittlungsgrundsätzen zu behandelnden Beweisermittlungsantrag gehandelt, weil die Beweistatsache „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ behauptet werde. Der Einkauf an einer Tankstelle sei belanglos und kaum markant. Eine Zuordnung zu einem konkreten Datum aus der Erinnerung sei nach fast zwei Jahren weder dem Angeklagten noch dem Zeugen möglich. Gegen eine – im Beweisantrag behauptete – reale Erinnerung des Angeklagten an das unter Beweis gestellte Geschehen sprächen das späte Vorbringen und der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme zu konkreten Alibibehauptungen bezüglich zweier anderer Tatzeitpunkte; die von ihm jeweils dazu benannten drei Zeugen hätten die Alibibehauptungen nicht bestätigen oder sich nicht erinnern können.

Das hat der BGH (Beschl. v. 16.3.2021 – 5 StR 35/21, StraFo 2021, 239 = StRR 5/2021, 15) gehalten. Die Begründung, mit der das LG den auf Beweiserhebung gerichteten Antrag als Beweisermittlungsantrag und nicht als Beweisantrag behandelt habe, stelle sich – so der BGH (a.a.O.) – im Ergebnis als zutreffend dar. Nach ständiger/früherer Rechtsprechung des BGH stelle ein auf Beweiserhebung gerichteter Antrag keinen Beweisantrag im Rechtssinne dar, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung lediglich „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird, sodass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. u.a. aus der umfangreichen Rechtsprechung des BGH zuletzt NStZ 2009, 226; 2013, 536, 537; vgl. auch KG, StV 2015, 103; NStZ 2015, 419; OLG Köln NStZ 2008, 584; OLG Bamberg NStZ 2018, 235). Trotz der von weiten Teilen der Literatur (vgl. nur Löwe/Rosenberg/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn 109 ff.; KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 244 Rn 73; Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl., S. 84 f.; Schneider NStZ 2012, 169, 170) und auch Teilen der Rechtsprechung (vgl. BGH StV 2008, 9; StraFo 2010, 466; NStZ 2011, 169, 170) an dieser Rechtsfigur bereits zuvor geübten gewichtigen Kritik und ungeachtet der während des Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Schneider ZRP 2019, 126, 128 f.) und im Rahmen der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestages insoweit geäußerten Bedenken (vgl. Mosbacher, Stellungnahme S. 8) habe der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Beweisantragsrechts durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ v. 10.12.2019 (BGBl I S. 2121) ausdrücklich an der bisherigen Rechtsauffassung festhalten wollen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747 S. 34). Seinen objektiven Ausdruck habe dieser gesetzgeberische Wille in dem Definitionsmerkmal „ernsthaft“ in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO gefunden (vgl. BGH NStZ-RR 2021, 57; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn 21d). Diese ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung (vgl. aber auch Claus NStZ 2020, 57, 60; Schäuble NStZ 2020, 377, 381) sei ungeachtet des Umstandes hinzunehmen, dass sich dadurch ein systematisch schwer auflösbarer Widerspruch zur Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2 StPO ergebe (näher Güntge StraFo 2021, 92, 98; Schäuble NStZ 2020, 377, 381 f.; zur Problematik auch Börner NStZ 2020, 460; Claus, a.a.O., S. 60; vgl. bereits BGH StV 2008, 9).

Weil sich weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung ergebe, dass der Gesetzgeber die bisher von der Rechtsprechung gestellten strengen Anforderungen in diesen Fällen ändern wollte, gelten diese – so der BGH (Beschl. v. 16.3.2021 – 5 StR 35/21, StraFo 2021, 239 = StRR 5/2021, 15) – wie zuvor. Die Frage, ob ein „aufs Geratewohl“ gestellter Antrag vorliegt, beurteile sich danach aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen (BGH NStZ 2013, 476 m.w.N.). Es komme dagegen nicht darauf an, ob das Tatgericht eine beantragte Beweiserhebung für erforderlich halte (vgl. BGH NStZ 2013, 536, 537 m.w.N.). Es sei dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren Richtigkeit er lediglich vermute oder für möglich halte (vgl. BGH, jeweils a.a.O., m.w.N.). Nicht ausreichend für die Einordnung als Beweisermittlungsantrag sei zudem, dass die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben habe oder dass die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheinet oder eine andere Möglichkeit nähergelegen hätte (BGH, Beschl. v. 4.12.2012 – 4 StR 372/12 m.w.N.). Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag (vgl. BGH NStZ 1993, 143, 144 m.w.N.) regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den notwendig starken Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerate (näher Schäuble, NStZ 2020, 377, 381), sei bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit – wie die bisherige Rechtsprechung zeigt – äußerste Zurückhaltung geboten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 244 Rn 21e). Die Ablehnung eines Beweisantrags als „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ gestellt werde demnach nur ausnahmsweise in Betracht kommen und erfordert einen hohen argumentativen Aufwand des Tatrichters, der nicht durch die bloße Behauptung, er sei davon überzeugt, dass die Beweisbehauptung aus der Luft gegriffen worden sei, ersetzt werden kann (BGH NStZ 2004, 51). Auf der Grundlage hat der BGH den gestellten Beweisantrag als „ins Blaue“ hingestellt angesehen.“

Hinweis:

Der Verteidiger muss Folgendes im Blick haben: Ob es dem Antrag an der notwendigen Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens mangelt, lässt sich regelmäßig nur aus einer Gesamtschau aller insoweit relevanten Faktoren ableiten. Darauf weist der BGH (Beschl. v. 16.3.2021 – 5 StR 35/21, StraFo 2021, 239 = StRR 5/2021, 15) in seiner Entscheidung ausdrücklich hin. Dabei können der Inhalt des Beweisbegehrens, die bisherige Beweissituation und das bisherige Prozessverhalten des Antragstellers berücksichtigt werden. Ein tragfähiges Indiz für den Mangel an Ernsthaftigkeit kann etwa sein, dass eine Mehrzahl neutraler Zeugen eine Tatsache übereinstimmend bekundet hat und ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte das Gegenteil in das Wissen eines weiteren, völlig neu benannten Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit offensichtlichen Zweifeln begegnet (vgl. BGH NJW 1997, 2762, 2764; NStZ 2002, 383). Erforderlich ist, dass sich die Bestätigung der Beweisbehauptung nach dem Verlauf der bereits durchgeführten Beweisaufnahme als offensichtlich unwahrscheinlich darstellt (BGH NStZ 2013, 476, 478).

Die Ablehnung mangels Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens bedarf einer begründeten Entscheidung durch den Vorsitzenden oder das Gericht, aus der sich die hierfür wesentlichen Gründe in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Form ergeben (vgl. dazu BGH, Urt. v. 25.2.2021 – 3 StR 204/20, NStZ 2021, 626). Zudem kann es erforderlich sein, den Antragsteller zuvor zu seinen Wissensquellen oder den Gründen seiner Vermutung zu befragen (vgl. BGH StV 1985, 311; KG NStZ 2015, 419, 421; OLG Köln NStZ 2008, 584; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 244 Rn 21g). Letzteres muss der Verteidiger ebenfalls im Blick haben und ggf. seine Verfahrensrüge auch darauf stützen, dass ggf. nicht nach der Wissensquelle gefragt worden ist.

b) Erfordernis der Konnexität beim Beweisantrag

Durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2121) ist in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO als Merkmal eines Beweisantrags weiterhin aufgenommen worden, dass ein Beweisantrag (nur) dann vorliegt, wenn dem Beweisverlangen entnommen werden kann, „weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll“. Zu diesem Zusammenhang zwischen Beweistatsache und Beweismittel, der sog. Konnexität, hat jetzt der BGH in dem zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen BGH, Beschl. v. 1.9.2021 (5 StR 188/21, NJW 2021, 3404) ausgeführt.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes verurteilt. Dagegen hat sich der Angeklagte mit der Verfahrensrüge gewendet, mit der er geltend macht, dass das LG einen Beweisantrag abgelehnt hat. Der Angeklagte wollte nämlich durch Vernehmung eines Zeugen beweisen, dass das Opfer und der Schütze vor der Tat unabhängig von ihm Kontakt gehabt hatten: In einem Telefonat mit dem Zeugen habe der Geschädigte von einer Bedrohung durch den Täter berichtet. Das LG ist dem Beweisantrag nicht nachgegangen. Es hat ohne Vernehmung des Zeugen festgestellt, dass eine Verbindung zwischen Schütze und Opfer nur über den – u.a. deswegen – wegen Beihilfe verurteilten Mann bestanden habe. Ein zulässiger Beweisantrag habe nicht vorgelegen: Der Zeuge habe gegenüber einem bereits vernommenen Polizeibeamten schon erklärt, dass er nicht mit dem Verletzten, sondern einer anderen Person über eine möglicherweise vom Täter stammende Drohung gesprochen habe. Der Antrag des Angeklagten lege nicht plausibel dar, warum seine Vernehmung nun zu einem anderen Ergebnis führen solle.

Die Revision des Angeklagten hatte in diesem Fall Erfolg. Der BGH (BGH, Beschl. v. 1.9.2021 – 5 StR 188/21, NJW 2021, 3404) nimmt in seinem Beschluss zunächst zur sog. einfachen Konnexität Stellung, die jetzt als Beweisantragsmerkmal in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO aufgeführt ist. Zur sog. (einfachen) Konnexität hatte der 5. Strafsenat des BGH in BGHSt 52, 284 ausgeführt, dass der Antragsteller über die Darlegung der Konnexität im sog. einfachen Sinne ggf. darüber hinaus weitergehende Umstände vortragen müsse, die seinen Antrag – etwa bei fortgeschrittener Beweisaufnahme mit bislang gegenteiligen Beweisergebnissen – plausibel erscheinen lassen. Diese Rechtsprechung hat der BGH jetzt aufgegeben. Denn solche weitergehenden Anforderungen an die Konnexität, die die vom LG vorgenommene Einstufung als bloßen Beweisermittlungsantrag rechtfertigen könnten, seien von Gesetzes wegen nach der umfassenden Neuregelung des Beweisantragsrechts nicht gestellt.

Der Gesetzestext des § 244 Abs. 3 S. 1 StPO („weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll“) lege – so der BGH (a.a.O.) nach seinem Wortlaut nicht nahe, dass der Antragsteller über die Darlegung der Konnexität im bezeichneten Sinne hinaus weitergehende Umstände vortragen müsse, die seinen Antrag – etwa bei fortgeschrittener Beweisaufnahme mit bislang gegenteiligen Beweisergebnissen – „plausibel“ erscheinen lassen (vgl. demgegenüber aber u.a. – sog. qualifizierte Konnexität – BGHSt 52, 284; kritisch gegenüber dieser Erweiterung des Konnexitätserfordernisses BGH NStZ 2009, 171; 2013, 476; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 244 Rn 21c). Diese Auslegung des Konnexitätsmerkmals entspricht nach Ansicht des BGH auch dem Willen des Gesetzgebers. Ausweislich der Gesetzgebungsgeschichte und der Gesetzesmaterialen habe er bei der Normierung des Merkmals „weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll“ lediglich die „Konnexität“ im zuerst genannten, nicht aber diejenige im „qualifizierten“ Sinne im Blick gehabt (ausführlich Schäuble NStZ 2020, 377, 379; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; Güntge StraFo 2021, 92, 97 f.). Dies werde durch seine lediglich auf solche Konstellationen abstellenden Formulierungen in den Gesetzesmaterialien deutlich (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747 S. 33 f.). Eine derartige Auslegung werde schließlich auch der Systematik und den Prinzipien des Beweisantragsrechts gerecht. Das Beweisantragsrecht garantiere den Verfahrensbeteiligten als Ausgleich für die dominierende Stellung des die Beweisaufnahme bestimmenden Gerichts ein starkes Teilhaberecht am Prozess der Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung. Es sichere die Subjektstellung des Angeklagten in der Hauptverhandlung sowie seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 65, 305, 307 m.w.N.) und sei eines der zentralen Rechte des Angeklagten und der Verteidigung. Den Verfahrensbeteiligten müsse es auch möglich sein, solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, deren Bestätigung durch das Beweismittel lediglich vermutet oder für möglich gehalten wird (vgl. BGH, Beschl. v. 16.3.2021 – 5 StR 35/21, StraFo 2021, 239 = StRR 5/2021, 15; s. oben III. 1. a). Zudem sei das Beweisantragsrecht vom Verbot der Beweisantizipation geprägt. Der Antragsteller müsse auch eine Tatsache unter Beweis stellen können, für deren Richtigkeit die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte ergeben hat und die ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint (vgl. BGH NStZ 2013, 476 m.w.N.). Für das Vorliegen eines Beweisantrages könne es mithin nicht konstituierend sein, dass der Antragsteller plausibel mache, weshalb das von ihm benannte Beweismittel trotz ggf. entgegenstehender bisheriger Beweisergebnisse die unter Beweis gestellte Tatsache belegen können soll.

Hinweis:

Dass die Entscheidung zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen ist, unterstreicht ihre Bedeutung. Der Verteidiger sollte aber trotz der nun gelockerten Rechtsprechung des BGH zur Konnexität dennoch in möglichst allen Fällen zur „Konnexität“ ausführen, um so auf jeden Fall ein „Einfallstor“ zur Ablehnung seines Beweisantrags zu schließen (vgl. auch Burhoff/Burhoff, HV, Rn 1177 ff. mit weiteren Nachweisen; auch noch zum neuen Recht Burhoff StRR 10/2020, 5 ff.).

Die Entscheidung ist aus einem weiteren Grund lesenswert. Der BGH (a.a.O.) hat nämlich auch noch zum (Tatbestands-)Merkmal der Ernsthaftigkeit des gestellten Beweisantrags ausgeführt. Danach kommt die Ablehnung eines Beweisantrags als nicht ernsthaft gemeint nur ausnahmsweise in Betracht und erfordert einen hohen argumentativen Aufwand des Tatgerichts. Erforderlich sei eine ausführlich begründete Gesamtwürdigung von Beweisbegehren, Prozessverhalten und Beweislage. Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerate, sei bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit äußerste Zurückhaltung geboten.

2. Fristsetzung für den Beweisantrag

Bereits durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202)“ ist in § 244 Abs. 6 S. 3 StPO die Möglichkeit für das Gericht eingeführt worden, zur Stellung von Beweisanträgen den Verfahrensbeteiligten eine Frist zu setzen (vgl. dazu Burhoff/Burhoff, HV, Rn 1136 ff). Zu dieser Regelung verhält sich inzwischen der BGH, Beschl. v. 21.4.2021 (3 StR 300/20, NJW 2021, 2129 = StRR 10./2021, 17 m. Anm. Hillenbrand).

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: In der gegen den Angeklagten wegen mehrerer Straftaten geführten Hauptverhandlung hatte die Vorsitzende der Strafkammer eine Frist zum Stellen weiterer Beweisanträge gesetzt. Zudem hatte sie darauf hingewiesen, dass nach Fristablauf gestellte Beweisanträge im Urteil beschieden werden könnten, es sei denn, die Einhaltung der Frist sei nicht möglich gewesen; Letzteres sei mit den weiteren Beweisanträgen glaubhaft zu machen. Nach Ablauf der Frist stellte der Angeklagte weitere Beweisanträge. In der Folge trat die Strafkammer erneut in die Beweisaufnahme ein und vernahm Zeugen, ehe der Angeklagte im weiteren Verlauf des Verfahrens bis zum erneuten Schluss der Beweisaufnahme abermals weitere Beweiserhebungen beantrage. All diese Anträge nach Fristablauf gestellten Anträge wurden nicht durch Beschluss in der Hauptverhandlung, sondern erst im Urteil, mit dem gegen den Angeklagten eine mehrjährige Gesamtfreiheitsstrafe verhängt wurde, verbeschieden. Die u.a. hierauf gestützte Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg.

Der BGH (Beschl. v. 21.4.2021 (3 StR 300/20, NJW 2021, 2129 = StRR 10./2021, 17 m. Anm. Hillenbrand) hat die Vorgehensweise der Strafkammer als rechtmäßig angesehen. Die Zulässigkeit, über Beweisanträge nach Fristsetzung erst im Urteil zu befinden, entfalle nicht insgesamt dadurch, dass nach Ende der Frist noch weitere Beweise erhoben werden. Die Voraussetzungen des § 244 Abs. 6 S. 4 StPO, nämlich eine Antragstellung nach Fristablauf, lägen hiervon unabhängig vor. Auch folge aus einer anschließenden Beweisaufnahme nicht ohne Weiteres, dass die Stellung von Anträgen vor Fristablauf nicht möglich war. Diese Sichtweise entspreche der Intention des Gesetzgebers. Dieser habe hervorgehoben, dass Sinn und Zweck des § 244 Abs. 6 S. 4 StPO eine erneute Fristsetzung nur für solche Beweisanträge erfordere, die sich aus der Beweisaufnahme nach Wiedereintritt ergeben (BT-Drucks 19/14747, S. 33). Für andere Beweisanträge solle die bereits gesetzte Frist ersichtlich ihre Bedeutung behalten. Entfiele mit dem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme von vornherein die Möglichkeit, nach einer zuvor gesetzten Frist gestellte Beweisanträge im Urteil zu verbescheiden, hätte dies zur Folge, dass über sämtliche nach Fristablauf angebrachten Anträge in der Hauptverhandlung zu befinden wäre. Dies wirke der vom Gesetzgeber bezweckten Verfahrensbeschleunigung entgegen und könne sich sogar letztlich verfahrensverzögernd auswirken. Zudem eröffnete sich die Möglichkeit, zunächst wieder Beweisanträge jeglichen Inhalts stellen zu können, selbst wenn diese in keinem Zusammenhang zu der neuen Beweiserhebung stünden und bereits vor Fristablauf hätten vorgebracht werden können.

Für erst nach Fristablauf und Wiedereintritt in die Beweisaufnahme gestellte Beweisanträge stellt der BGH (a.a.O.) Begründungsaufforderungen auf: Wenn der Antragsteller eine Bescheidung seines Antrags noch vor dem erneuten Schluss der Beweisaufnahme begehre, müsse er im Antrag darlegen, inwieweit dieser sich aus der weiteren Beweisaufnahme ergeben habe. Dies ermögliche dem Tatgericht die Klärung, ob es über den Antrag erst im Urteil entscheiden kann oder nicht und biete zudem die Basis für eine revisionsgerichtliche Prüfung. Es sei in erster Linie der Antragsteller, der dartun könne, ob sich sein weiterer Beweisantrag erst aus den neuen Beweiserkenntnissen ergeben hat, das Tatgericht verfüge nicht über etwaiges ergänzendes, in den Antrag gegebenenfalls einfließendes Wissen. Eine derartige Begründungspflicht sei dem Gesetz auch nicht fremd. Vielmehr sehe § 244 Abs. 6 S. 5 StPO bereits jetzt vor, dass die Tatsachen, welche die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen sind. Insoweit bestehe eine gewisse Vergleichbarkeit mit der vorliegenden Fallgestaltung.

Hinweis:

Die Möglichkeit, für die Stellung weiterer Beweisanträge eine Frist zu setzen (§ 244 Abs. 6 S. 3 StPO), stellt ein durchaus scharfes Schwert dar, mit dem das Gericht Verfahrensverzögerungen durch Stellung immer neuer Beweisanträge entgegnen kann. Denn mit der zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen Entscheidung hat der BGH (Beschl. v. 21.4.2021 – 3 StR 300/20, NJW 2021, 2129 = StRR 10./2021, 17 m. Anm. Hillenbrand) die Anforderungen nochmals erhöht und die bislang strittige Frage, ob im Falle des Wiedereintritts in die Beweisaufnahme nach Fristablauf gestellte Beweisanträge erst im Urteil verbeschieden werden dürfen oder nicht, geklärt. Die Verteidigung stellt dies vor zusätzliche Herausforderungen: Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, kann eine Verbescheidung in der Hauptverhandlung nur noch dann erzwungen werden, wenn sich der Beweisantrag erst aus der Beweisaufnahme nach Wiedereintritt ergibt, es sich also um eine Art „Folgeantrag“ handelt. Die Gründe hierfür hat der Antragsteller darzulegen. Dies bedeutet, dass die Verteidigung bei der Abfassung des Antrags insb. darauf achten muss, dass hinreichend deutlich herausgearbeitet wird, dass die Antragstellung eine unmittelbare Folge der nach Wiedereintritt durchgeführten weiteren Beweisaufnahme ist. Unterbleibt dies, wird der Angeklagte erst im Urteil erfahren, was das Gericht von seinem Antrag hält.

3. Urteilsgründe nach gutachterlichen Vergleichsuntersuchungen von DNA-Spuren

Im BGH, Beschl. v. 12.8.2021 (2 StR 325/20) hat der BGH (noch einmal) zu den Anforderungen an die Urteilsgründe Stellung genommen, wenn das Tatgericht die Beweiswürdigung auf die Ergebnisse von gutachterlichen Vergleichsuntersuchungen von DNA-Spuren stützt. Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung in 16 Fällen verurteilt. Die Strafkammer hatte ihre Überzeugung entscheidend auf die Ereignisse gutachterlicher Vergleichsuntersuchungen von DNA-Spuren gestützt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg.

Dem BGH (Beschl. v. 12.8.2021 – 2 StR 325/20) hat die Darstellung der molekulargenetischen Vergleichsuntersuchungen in den Urteilsgründen nicht genügt (dazu u.a. BGHSt 63, 187, 188 m.w.N.; BGH NJW 2015, 2594 m.w.N.). Er fasst die von ihm aufgestellten Anforderungen noch einmal zusammen:

Reduzierte Darlegungsanforderungen bestünden – so der BGH (Beschl. v. 12.8.2021 – 2 StR 325/20) – bei DNA-Analysen, die sich auf eindeutige Einzelspuren beziehen und keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen; in diesen Fällen genüge die Mitteilung, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten wäre (vgl. BGHSt 63, 187, 189; Beschl. v. 3.11.2020 ‒ 4 StR 408/20; v. 28.8.2018 ‒ 5 StR 50/17). Erforderlich sei aber auch dann die Angabe des Wahrscheinlichkeitsergebnisses in numerischer Form; eine Mitteilung in verbalisierter Form ‒ etwa „es bestünden keine begründeten Zweifel“ an der Spurenurheberschaft des Angeklagten ‒ reiche mangels dahingehend vereinheitlichter Skala bislang jedenfalls nicht (vgl. BGHSt 63, 187, 191).

Bei Mischspuren, also Spuren, die mehr als zwei Allele in einem System aufweisen und demnach von mehr als einer einzelnen Person stammen (vgl. zur Definition Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann NStZ 2007, 447), werde vom BGH von den Tatgerichten grundsätzlich weiterhin verlangt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist (vgl. BGH StV 2019, 331; Beschl. v. 3.11.2020 ‒ 4 StR 408/20). Lediglich in Fällen, in denen Mischspuren eine eindeutige Hauptkomponente aufweisen (sog. Typ B, vgl. Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann, a.a.O.), gelte für die Darstellung der DNA-Vergleichsuntersuchung die für Einzelspuren entwickelten Grundsätze (vgl. BGH, Urt. v. 2.6.2021 ‒ 6 StR 60/21; Beschl. v. 3.11.2020 ‒ 4 StR 408/20; v. 29.7.2020 ‒ 6 StR 183/20 und 6 StR 211/20).

Hinweis:

Zu den Anforderungen an die Urteilsgründe, wenn die Verurteilung des Angeklagten auf eine DNA-Untersuchung gestützt wird, hat es, wie die Zitate des BGH zeigen, in der letzten Zeit einige gegeben. Diese Entscheidung bringt nichts wesentlich Neues, sie fasst aber die Rechtsprechung des BGH hinsichtlich der Anforderungen an die Urteilsgründe schön zusammen und zeigt, worauf der Verteidiger bei der Begründung der Sachrüge, mit der Lücken in der Beweiswürdigung geltend zu machen sind, achten muss (wegen der Einzelheiten der DNA-Untersuchung Burhoff/Burhoff, EV, Rn 1651 ff. bzw. Burhoff/Burhoff, HV, Rn 1558 ff., jeweils m.w.N.).

IV. Entschädigung bei verzögerter Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren

Das OLG Hamm hat im OLG Hamm-Urt. v. 8.9.2021 (11 EK 11/20) in einem Verfahren, in dem eine Entschädigung nach §§ 198 f. GVG geltend gemacht worden war, sehr deutlich zu einer verzögerten Festsetzung der Pflichtverteidigervergütung Stellung genommen. Mit dieser Entscheidung gibt es nun endlich eine Entscheidung, die die vielfach anzutreffende Praxis von Kostenbeamten, einen Festsetzungsantrag zunächst mal damit zu bescheiden, dass über den Antrag erst nach Rückkehr der Akten aus der Rechtsmittelinstanz entschieden werden kann, als das bezeichnet, was sie ist: Nämlich eine „rechtswidrige Praxis“.

Dem Urteil des OLG Hamm (Urt. v. 8.9.2021 – 11 EK 11/20) lag etwa folgender Sachverhalt zugrunde: Die klagende Rechtsanwältin, verlangte wegen einer überlangen Verfahrensdauer für die Festsetzung von erstinstanzlich angefallenen Pflichtverteidigergebühren die Zahlung einer Geldentschädigung. Das AG hatte am 18.6.2018 das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet und die Klägerin zur Pflichtverteidigerin bestellt. Der Angeklagte wurde am 30.4.2019 verurteilt. Am gleichen Tage beantragte die Klägerin die Festsetzung ihrer Pflichtverteidigergebühren. Am 7.5.2019 legte sie für den Angeklagten Rechtsmittel ein. Nachdem zunächst am 4.6.2019 der zuständige Richter die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft verfügt hatte, lag die Akte am 5.6.2019 der für die Festsetzung zuständigen Rechtspflegerin vor. Mit Verfügung von diesem Tage bat sie die Klägerin um Überprüfung ihrer Kostenrechnung und um Einreichung einer berichtigten Rechnung. Soweit in der Rechnung Kopierkosten geltend gemacht waren, bat sie um Einreichung der gefertigten Kopien. Ferner bat sie um Erläuterung von Abwesenheitszeiten und der für Fahrten angesetzten Kilometerzahl. Abschließend erteilte sie den Hinweis: „Ich weise Sie allerdings bereits jetzt darauf hin, dass die Bearbeitung des Antrags erst nach Aktenrückkehr aus der Berufungsinstanz erfolgen kann.“

Mit Schriftsatz vom 5.7.2019 erklärte die Klägerin, dass das eingelegte Rechtsmittel als Berufung geführt werden soll. Daraufhin übersandte die Staatsanwaltschaft am 11.7.2019 die Strafakten an das LG. Mit Verfügung vom 26.8.2019 regte die Berufungsrichterin nach bereits erfolgter Zustimmung der Staatsanwaltschaft gegenüber der Klägerin die Einstellung des Verfahrens gegen den Angeklagten an. Mit Schriftsatz vom 20.9.2019 erläuterte die Klägerin gegenüber dem AG ihre Kostenrechnung und kündigte angesichts der voraussehbaren Bearbeitungszeit die Erhebung einer Verzögerungsrüge an. Am 23.9.2019 teilte die Rechtspflegerin der Klägerin mit, dass die Bearbeitung des Vergütungsantrags erst nach Aktenrückkehr erfolgen könne. Mit Schriftsatz vom 21.10.2019 erklärte die Klägerin für den Angeklagten das Einverständnis mit dem Vorgehen gem. § 153a StPO. Das LG beschloss daraufhin die vorläufige Einstellung des Verfahrens und legte gegenüber dem Angeklagten die Auflagen fest. Mit Schriftsatz vom 19.11.2019 erhob die Klägerin gegenüber dem AG bezüglich der Gebührenfestsetzung Verzögerungsrüge. Mit Verfügung vom 29.11.2019, ausgeführt am 13.1.2020, teilte die Rechtspflegerin ihr daraufhin mit, sie müsse noch die von ihr berechneten Kopien im Original vorlegen, zudem bleibe es dabei, dass die weitere Bearbeitung des Kostenantrags erst nach Rückkehr der Akten erfolgen könne. Am 29.4.2020 stellte das LG das Strafverfahren nach Erfüllung der Auflagen durch den Angeklagten ein. Unter dem 20.5.2020 erhob die Klägerin beim AG erneut Verzögerungsrüge. Am 3.6.2020 wurden der Klägerin die Verteidigergebühren für ihre Tätigkeit in II. Instanz aufgrund ihres Antrages vom 11.5.2020 angewiesen. Mit Schreiben vom 8.6.2020 mahnte die Klägerin die Bescheidung ihres Kostenantrages für die I. Instanz an. Am 17.6.2020 setzte das AG die Vergütung der Klägerin entsprechend ihrem Antrag vom 30.4.2019 auf 1.135,14 € fest.

Die Klägerin hat die Zahlung einer angemessenen Entschädigung, deren Höhe sie in das Ermessen des Gerichts gestellt hat, jedoch mindestens 850 € betragen soll, verlangt. Das beklagte Land beantragte, die Klage abzuweisen. Das OLG hat 200 € zugesprochen.

Ich stelle den Sachverhalt bewusst so umfangreich vor, damit wird deutlich wird, dass es sich um eine Vorgehensweise handelte, die jeder Verteidiger so oder ähnlich kennen wird. Ich kann nur empfehlen, für zukünftige verzögerte Festsetzungen von Pflichtverteidigergebühren die Urteilsgründe der Entscheidung zu lesen. Die stelle ich hier wegen ihres Umfangs nicht ein, sondern beschränke mich auf den Leitsatz der Entscheidung, der lautet:

Ein beim Amtsgericht zu führende Verfahren zur Festsetzung erstinstanzlicher Pflichtverteidigerkosten kann eine im Sinne von § 198 GVG unangemessen lange Verfahrensdauer haben, wenn es vom zuständigen Rechtspfleger grundsätzlich so betrieben wird, dass die Vergütungsfestsetzung bis zur Rücksendung der Akten aus der Rechtsmittelinstanz nicht abschließend bearbeitet wird, und während der Dauer der Aktenversendung auch eine Anfrage beim Rechtsmittelgericht unterbleibt, um die Akten für den kurzen Bearbeitungszeitraum einer Vergütungsfestsetzung zurück zu erlangen.

Anzumerken ist: Die Entscheidung gilt natürlich nicht nur für Festsetzungsverfahren beim AG, sondern auch für solche bei einem LG. Die Entscheidung ist „gute Munition“ für den (Pflicht)Verteidiger, die Festsetzungsverfahren dann vielleicht endlich beschleunigen zu können. Denn das OLG Hamm (a.a.O.) hat der immer wieder anzutreffenden Praxis von Kostenbeamten, bis zur Rückkehr der Akten aus der Rechtsmittelinstanz die Hände in den Schoß zu legen, einen Riegel vorgeschoben und verlangt – nach Ansicht des Verf. zu Recht – ein Tätigwerden in Form des Zurückforderns der Akte, um das Festsetzungsverfahren weiter zu betreiben. In der Pflicht sind an der Stelle dann aber auch die Rechtsmittelgerichte und ggf. die Staatsanwaltschaften, die sich um die möglichst schnelle Rücksendung der Akten kümmern müssen, wenn sie bei ihnen nicht mehr benötigt werden. Und das ist nach einer Terminierung der Fall. Dann gehören die Akten nicht in einen Aktenschrank, wo sie bis zum Termin vor sich hinschlummern, sondern müssen zurückgeschickt werden. Ebenso ist ggf. nach Zustellung des Urteils zu verfahren, wenn der Eingang der Revisionsbegründung abgewartet wird. Eine davon abweichende Praxis sieht das OLG Hamm ausdrücklich als „rechtswidrige Praxis“ an.

Und man darf nicht übersehen: Das OLG Hamm verlangt nicht nur die einmalige Aufforderung zur Rücksendung der Akten, sondern auch die Erinnerung bzw. die Wiederholung der Rücksendungsaufforderung. Damit korrespondiert nach Ansicht des Verf. die Verpflichtung des Rechtsmittelgerichts dem Ausgangsgericht mitzuteilen, warum nicht und wann mit der Rücksendung der Akten gerechnet werden kann.

Man kann nach Ansicht des Verf. im Übrigen trefflich darum streiten, ob nicht sogar die Anlegung eines Aktendoppels verlangt werden muss, was das OLG wegen des „damit verbundenen Zeit- und Materialaufwandes“ verneint. Dem mag man in einem Verfahren, wie es hier offenbar vorgelegen hat, noch folgen. Das kann man das aber nicht in umfangreichen Verfahren mit mehreren Verteidigern tun. Dann wird man, wenn nicht so oder so schon ein Kostenband existiert, dessen Anlegung fordern müssen, damit die eingehenden Festsetzungsanträge zeitnah beschieden werden können.

Hinweis:

So groß die Freude über die Entscheidung ggf. sein wird – zumindest teilweise: Verteidiger sind natürlich auch selbst in der Pflicht. Nicht nur, dass der Festsetzungsantrag so gestellt werden sollte, dass verzögernde Rückfragen des Kostenbeamten nicht erforderlich sind, sondern es muss dann auch alles getan werden, um ggf. einen Entschädigungsbetrag geltend machen zu können. Also Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG unter Beachtung der Frist des § 198 Abs. 3 S. 3 und der Klagefristen des § 198 Abs. 5 GVG (wegen der Einzelheiten Burhoff/Burhoff, HV, Rn 3323 ff. m.w.N.).


Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".