aus ZAP 2023, S. 1235
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
1. Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz
a) Rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers
b) Rückwirkende Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers
c) Zulässigkeit einer konsensualen Umbeiordnung
2. Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO)
1. Mitteilung verständigungsbezogener Gespräche
1. Überlassung der beA-Karte und der PIN an Dritte
2. Revisionsbegründung des Selbstverteidigers
3. Vorübergehende technische Unmöglichkeit
Der Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens aus 2015 hatte eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung vorgeschlagen. Das ist dann aber nicht umgesetzt worden (vgl. zu diesen Fragen/Plänen Bockemühl, Österreichisches Anwaltsblatt 2016, 343; Mosbacher, StV 2018, 182; Norouzi, StV 2015, 773; Serbest, StraFo 2018, 94; Bartel, StV 2018, 678, Schmitt, NStZ 2019, 1; von Galen, StraFo 2019, 309). Die Ampelkoalition hatte sodann in ihrem Koalitionsvertrag eine gesetzliche (Neu-)Regelung der Problematik vereinbart. Im Mai 2023 hat die Bundesregierung dazu den Entwurf für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (im Folgenden kurz: DokHVG-E) vorgelegt. Dieser befindet sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren (vgl. BT-Drucks 20/8096 und BR-Drucks 22/239; dazu teils krit. Basar/Heinelt, KriPoZ 2023, 23; Beukelmann, StV 2023, 719; Effer-Uhe, GVRZ 2023, 18; Killmer, DRiZ 2023, 222; Mathes, NJW-Spezial 2023, 120; Traut/Nickolaus, StraFo 2022, 55; Valerius, GA 2023, 319; van Hattem/Bafteh, MMR 2023, 100). Der Bundesrat hat das Gesetzesvorhaben erheblich kritisiert (vgl. BR-Drucks. 227/1/23) und mit einer Blockade gedroht. Das Ergebnis der abschließenden Beratung im Bundesrat am 15.12.2023 stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
Inhaltlich sind/waren in etwa folgende Änderungen/Erweiterungen geplant:
· § 352 Abs. 3 DokHVG-E enthält ein revisionsrechtliches Rekonstruktionsverbot. Es wird klargestellt, dass das bloße objektive Vorhandensein eines Beweismittels für den Erweis der behaupteten Tatsachen nicht genügt. Vielmehr muss der Verfahrensmangel ohne Weiteres, also auf einen Blick, erkennbar sein, ohne dass in tatrichterliche Auslegungs- und Beurteilungsspielräume eingegriffen wird. Umfangreiche Beweismittel, die einer wertenden Zusammenfassung und Auslegung bedürfen, eben etwa stundenlange Mitschnitte von Aussageinhalten, scheiden damit zum Nachweis des Verfahrensfehlers aus. Klargestellt wird außerdem, dass ein ohne Weiteres erkennbarer Verfahrensmangel auch dann nicht vorliegt, wenn der Beweiswert des benannten Beweismittels durch den weiteren Verlauf der HV, also andere in die Gesamtwürdigung des Tatgerichts einzustellende Beweisumstände, seine Beweisbedeutung verloren haben kann. Nur wenn ein nachträglicher Bedeutungsverlust des Beweismittels offensichtlich auszuschließen ist, kann von einem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) ausgegangen werden.
Der (Referenten-)Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts aus dem Sommer 2023 enthält als einen zentralen Punkt die Erweiterung des Katalogs der nebenklagefähigen Delikte in § 395 StPO (dazu Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3172 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]) um Straftatbestände des VStGB, und zwar die §§ 68 und 1012 VStGB. Den Nebenklägern soll nach einer Ergänzung in § 397a Abs. 2 StPO-E ein Beistand bestellt werden können. Um die HV mit vielen Nebenklägern dennoch effektiv durchführen zu können, soll u.a. in § 397b Abs. 1 StPO-E die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Nebenklägervertretung um ein weiteres Regelbeispiel ergänzt werden (zum gemeinschaftlichen Nebenklägerbeistand Burhoff, EV, Rn 3205 ff.). Außerdem sollen die als Nebenkläger zugelassenen Opfer von Völkerstraftaten ohne weitere Voraussetzungen einen Opferanwalt und auch eine psychosoziale Prozessbegleitung beigeordnet bekommen können.
Die Bundesländer Hessen und Nordrhein-Westfalen hatten in der 19. Legislaturperiode ein Gesetz zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens eingebracht (BR-Drucks 107/20 = BT-Drucks 19/21611). Die Bundesregierung hatte zu diesem Gesetzesvorschlag ablehnend Stellung genommen (vgl. BT-Drucks 19/21611, S. 55 ff.). Sie hat zwar das Anliegen der Länder, das gerichtliche Bußgeldverfahren effektiver zu gestalten, für nachvollziehbar gehalten. Die vorgeschlagenen, teils erheblichen Änderungen der Verfahrensvorschriften des OWiG seien jedoch aus Sicht der Bundesregierung nicht der richtige Weg (zu allem Fromm, zfs 2020, 484). Dieser Entwurf hatte sich dann durch den Ablauf der 19. Legislaturperiode erledigt.
Inzwischen haben jedoch in der 20. Legislaturperiode die Bundesländer Hessen und Nordrhein-Westfalen erneut ein Gesetz zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens eingebracht (BR-Drucks 91/22 = BT-Drucks 20/1545). Der vorgelegte Entwurf ist nahezu identisch mit dem Entwurf aus der 19. Legislaturperiode (sehr krit. auch zum neuen Entwurf Krenberger, NZV 2022, 305, der von altem Wein in altem Schlauch spricht). Der Entwurf sieht weitreichende Änderungen im gerichtlichen Verfahren nach einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vor. Vorgeschlagen worden sind u.a. eine Frist für einen sog. Entbindungsantrag nach § 73 OWiG, der nur noch in den ersten drei Wochen nach Erhalt der Ladung möglich sein soll, die Ausweitung des in § 72 OWiG geregelten Beschlussverfahrens, die Zurückweisungsbefugnis von Beweisanträgen, wenn es dadurch zu einer Unterbrechung von nicht unerheblicher Dauer kommt (§ 77 OWiG) und die Anhebung der Wertgrenzen und sonstigen Zulassungsvoraussetzungen der Rechtsbeschwerde (§§ 79, 80 OWiG). Die Bundesregierung hat zu dem neuen Entwurf erneut ablehnend Stellung genommen (s. BT-Drucks 20/1545, S. 32 ff.).
Nach dem Inkrafttreten der Neuregelungen im Recht der Pflichtverteidigung in den §§ 140 ff. StPO Ende 2019 ist die Rechtsprechung derzeit damit befasst, die Probleme, die sich durch das neue Recht ergeben haben, zu klären (zur Rechtsprechung aus der ersten Zeit ZAP 2023, 340 ff.). Auf folgende drei (Streit-)Fragen ist hinzuweisen:
Eines der Hauptprobleme, wenn nicht das Hauptproblem, ist die Frage, ob eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers nach Beendigung des Verfahrens zulässig ist. Diese ergibt sich meist, wenn über den Beiordnungsantrag des Pflichtverteidigers noch nicht entschieden ist, das Verfahren aber schon eingestellt wird. Dabei handelt es sich meist um Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 154 StPO einstellt oder eingestellt hat, bevor das Gericht entschieden hat. Zu der Frage stehen sich zwei Ansicht gegenüber.
Die m.E. zumindest bei den LG und AG h.M. geht nach wie vor davon aus, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch noch nach Beendigung des Verfahrens (zumindest dann) zu erfolgen hat, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (aus neuerer Zeit u.a. OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 4 Ws 529/22, StraFo 2023, 234 = AGS 20232, 140 = StRR 3/2023, 19; LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 517 Qs 33/23; LG Gießen, Beschl. v. 26.6.2023 1 Qs 12/23; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.3.2023 5 Qs 9/23; LG Kiel, Beschl. v. 27.7.2022 5 Qs 67/22, StV-S 2023, 35 [Ls.]; LG Köln, Beschl. v. 23.3.2023 105 Qs 89/22; LG Köln, Beschl. v. 16.6.2023 111 Qs 26/23, StraFo 2023, 318; LG Lüneburg, Beschl. v. 2.3.2023 45 Qs 2/23 bis 45 Qs 33/23; LG Magdeburg, Beschl. v. 11.1.2023 25 Qs 91/22; LG Mainz, Beschl. v. 11.10.2022 1 Qs 39/22; LG Saarbrücken, Beschl. v. 14.4.2023 4 Qs 14/23, StraFo 2023, 231; LG Verden, Beschl. v. 10.10.2022 3 Qs 64/22, StV 2023, 158 [JGG-Verfahren]; AG Amberg, Beschl. v. 19.9.2023 6b GS 2051/23; AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 4 Gs 2469/23 jug; AG Halle, Beschl. v. 8.9.2023 397 Gs 193 Js 32985/21 (635/22); AG Koblenz, Beschl. v. 20.3.2023 30 Gs 2593/23; AG Koblenz, Beschl. v. 10.7.2023 30 Gs 5496/23; AG Zweibrücken, Beschl. v. 29.3.2023 1 Gs 295/23; LG Weiden i.d. OPf., Beschl. v. 31.3.2023 2 Qs 3/23; weitere Rechtsprechung in ZAP 2023, 345). Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung liegen im Übrigen auch dann vor, wenn das Verfahren unverzüglich nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft nach § 154f StPO eingestellt worden ist (LG Leipzig, Beschl. v. 12.9.2023 13 Qs 242/23; LG Stade, Beschl. v. 25.4.2023 302 Qs 15/23).
In dem Zusammenhang spielt dann ggf. auch der unbestimmte Rechtsbegriff der Unverzüglichkeit aus § 141 Abs. 1 StPO eine Rolle. Der ist nicht nach Maßgabe eines bestimmten Zeitablaufs zu bemessen. Das LG Leipzig geht davon aus, dass ein Verstoß gegen die Unverzüglichkeit, ein schuldhaftes Zögern, nur dann gegeben sein soll, wenn die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insb. weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen (LG Leipzig, Beschl. v. 2.8.2023 5 Qs 41/23). Das dürfte kaum dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, wonach über Beiordnungsanträge auch im Ermittlungsverfahren zeitnah entschieden werden soll, ersichtlich zuwider.
Hinweis:
Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 11.5.2023 6 Qs 69/23; s. auch ZAP 2023, 341).
Abweichend von der o.a. Auffassung geht eine Teil der Rechtsprechung allerdings nach wie vor davon aus, dass eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommen soll, was ggf. auch dann gelten soll, wenn das Verfahren insgesamt noch nicht abgeschlossen ist bzw. in den Fällen des § 154 Abs. 2 StPO (u.a. OLG Dresden, Beschl. v. 24.2.2023 2 Ws 33/23; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 21.7.2023 5a Ws 1/21; LG Berlin, Beschl. v. 20.6.2023 534 Qs 97/23; LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 12.6.2023 5/27 Qs 22/23; LG Leipzig, Beschl. v. 11.9.2023 17 Qs 48/23; LG Münster, Beschl. v. 19.1.2023 11 Qs 48/22; LG Münster, Beschl. v. 4.4.2023 9 Qs 62/22; LG Stade, Beschl. v. 30.9.2021 102 Qs 41/21, StV 2023, 162 [Ls.]; LG Zweibrücken, Beschl. v. 5.9.2023 1 Qs 28/23; AG Amberg, Beschl. v. 21.7.2023 6b Gs 1771/23; AG Aurich, Beschl. v. 5.7.2023 9 Gs 1305/23; weitere Rechtsprechung ZAP 2023, 345). Abgesehen davon, dass von den Gerichten häufig mit Rechtsprechung zum alten Recht argumentiert wird, die aber durch die Neuregelung überholt ist, ist das m.E. allein schon deshalb unzutreffend, weil der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Neuregelung darauf hingewiesen hat, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falls der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, d.h. nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 37). Dem von dieser Ansicht auch immer wieder vorgebrachten Kostenargument ist entgegenzuhalten, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu dient, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die andernfalls bestehende Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 517 Qs 33/23).
Eine weitere Frage, die in der Praxis v.a. auch gebührenrechtlich eine erhebliche Rolle spielen kann, ist die, welche (gebührenrechtlichen) Auswirkungen die rückwirkende Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung hat. Dazu hat jetzt erstmals ein OLG Stellung genommen (OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.7.2023 Ws 133/23, NJW 2023, 2738 = JurBüro 2023, 415).
Nach dem Sachverhalt hatte das AG Amberg den Pflichtverteidiger rückwirkend bestellt. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§ 142 Abs. 7 StPO) hat das LG den Beschluss aufgehoben und die rückwirkende Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger abgelehnt. Der Rechtsanwalt hat dann gegenüber der Staatskasse seine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des AG hat den Vergütungsfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Erinnerung hat das AG Amberg zurückgewiesen (vgl. AGS 2022, 506). Die dagegen eingelegte Beschwerde des Rechtsanwalts hatte beim LG Amberg keinen Erfolg (vgl. AGS 2023, 116). Die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts führte dann aber beim OLG Nürnberg, a.a.O., zur Festsetzung der Gebühren des Pflichtverteidigers.
Der Rechtsanwalt sei, so führt das OLG aus, mit Beschluss des AG wirksam als Pflichtverteidiger gem. § 142 Abs. 2 StPO bestellt worden. Für die Wirksamkeit der Bestellung komme es nicht darauf an, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen. Werde die Bestellung angeordnet, sei diese, jedenfalls zunächst, wirksam. Mit der Bestellung werde eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers zur sachgerechten Mitwirkung am Strafverfahren begründet (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, § 142 Rn 18), und zwar unabhängig davon, ob die Bestellungsentscheidung rechtskräftig werde. § 307 Abs. 1 StPO ordne an, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde. Es liege auch kein Fall vor, in dem gesetzlich ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung angeordnet werde. Dies entspreche im Übrigen auch den Praxisanforderungen bei der Pflichtverteidigerbestellung: Nach §§ 141, 141a StPO sei in den Fällen der notwendigen Verteidigung bei verschiedenen Maßnahmen die oftmals kurzfristige Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, deren Rechtskraft nicht abgewartet werden könne. Entsprechend dürfe der Pflichtverteidiger darauf vertrauen, für solche Tätigkeiten auch vergütet zu werden.
Die spätere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat nach Auffassung des OLG Nürnberg (a.a.O.) nicht dazu geführt, dass die Bestellung von Anfang an entfallen ist. Vielmehr trete diese Wirkung erst zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein. Grundsätzlich habe die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zur Folge, dass diese seit dem Zeitpunkt ihres Erlasses, also rückwirkend, keine Wirkung entfaltet. Zwar habe der Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 StPO keine davon abweichende Regelung für den Fall getroffen, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aufgehoben werde. Nach dem Sinn und Zweck der in § 141 Abs. 1 und 2 StPO angeordneten unverzüglichen oder kurzfristigen Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Regelung in § 307 Abs. 1 StPO, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde, sei § 142 Abs. 7 StPO aber ergänzend dahingehend auszulegen, dass der wirksam, aber nicht rechtskräftig bestellte Pflichtverteidiger erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung durch das Beschwerdegericht entpflichtet werde. So bestehe zum einen kein Zweifel an der Wirksamkeit der bis dahin vorgenommenen Handlungen des Pflichtverteidigers und zum anderen werde so das Vertrauen des Pflichtverteidigers in seine Bestellung und damit die Begründung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse geschützt (vgl. Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2400). Damit habe der Rechtsanwalt gem. § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gem. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten seien. Dies sei Folge der wirksamen Pflichtverteidigerbestellung durch das AG, ohne dass es darauf ankomme, ob diese geboten gewesen sei.
Hinweis:
Mit dieser OLG-Entscheidung liegt dann (endlich) die erste obergerichtliche Entscheidung zu der Problematik vor. Bisher hatten nur das LG Kaiserslautern (RVGreport 2019, 135 = JurBüro 2019, 245) und das AG Osnabrück (Beschl. v. 11.10.2021 202 Ds [211 Js 11318/21] 235/21, AGS 2021, 548) in dem richtigen Sinn, also wie das OLG, entschieden. Man fragt sich allerdings, warum in der Frage überhaupt der Weg zum OLG erforderlich war und ob nicht AG, LG und die beteiligten Vertreter der Staatskasse auch ohne Nachhilfe aus Nürnberg auf die richtige Lösung hätten kommen können. Die folgt im Übrigen nicht nur aus der erweiternden Auslegung des § 142 Abs. 7 StPO, die das OLG vornimmt, sondern auch aus dem Gebührenrecht, nämlich aus § 15 Abs. 4 RVG und dem daraus abzuleitenden Grundsatz, dass einmal entstandene Gebühren durch nachträgliche Änderungen/Ereignisse im Verfahren nicht wieder wegfallen. Und Gebühren waren hier beim Pflichtverteidiger schon durch die Akteneinsicht entstanden, nämlich die Nrn. 4100, 4104 VV RVG.
Die dritte Problematik, die derzeit immer wieder eine Rolle spielt, ist die der Zulässigkeit einer sog. konsensualen Umbeiordnung bzw. eines einvernehmlichen Verteidigerwechsels. Dazu hat dann jetzt das LG Mühlhausen im Beschl. v. 19.6.2023 3 Qs 92/23, AGS 2023, 379) noch einmal Stellung genommen. Zugrunde lag der in diesen Fällen typische Sachverhalt. Dem Beschuldigten wird mit Beschluss des AG gem. § 140 Abs. 2 StPO ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellt. Der teilt dann einige Zeit später mit, dass ein Kollege ihn gebeten habe, einer Umbeiordnung als Pflichtverteidiger zuzustimmen. Zugleich erklärte der beigeordnete Rechtsanwalt sein Einverständnis mit einer solchen Umbeiordnung. Eine solche Umbeiordnung wird häufig mit der Begründung abgelehnt, dass eine Umbeiordnung gem. § 143a Abs. 1 S. 2 StPO unzulässig sei. Gegen diese Ablehnung ist die sofortige Beschwerde des Beschuldigten zulässig.
Nach Auffassung des LG Mühlhausen ist eine solche Umbeiordnung vorzunehmen. Zutreffend führe das AG im entschiedenen Fall zwar § 143a Abs. 1 S. 2 StPO an, wonach die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht aufzuheben sei, wenn zu besorgen sei, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen werde. Eine derartige Übernahme der Pflichtverteidigung sei damit von Gesetzes wegen ausdrücklich unerwünscht. Mithin soll ein Herausdrängen des bisherigen Pflichtverteidigers über den Weg einer Wahlverteidigung verhindert werden. Dies sei jedoch in den Fällen des sog. konsensualen Verteidigerwechsels, der gerade nicht durch die Vorschrift des § 143a StPO ausgeschlossen werden sollte, nicht der Fall (so etwa BGH, Beschl. v. 13.7.2021 2 StR 81/21 u. BGH, Beschl. v. 10.8.2023 StB 49/23, StraFo 2023, 400).
Das LG Mühlhausen führt dann auch noch einmal die Voraussetzungen für einen konsensualen Verteidigerwechsel auf. Ein solcher Wechsel setzt voraus, dass der Beschuldigte und beide Verteidiger mit einem Verteidigerwechsel einverstanden sind, dadurch keine Verfahrensverzögerung eintrete und auch keine Mehrkosten für die Staatskasse entstehen (vgl. etwa BGH, jeweils a.a.O.; vgl. aber auch KG, Beschl. v. 28.10.2021 3 Ws 276/21).
Hinweis:
Die (kostenneutrale) Umbeiordnung eines Pflichtverteidigers ist also möglich, allerdings muss der neue Pflichtverteidiger auf Mehrkosten verzichten. Vor Inkrafttreten der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung war teilweise umstritten, ob eine kostenneutrale Umbeiordnung und ein Verzicht auf Pflichtverteidigergebühren zulässig ist oder nicht (vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise bei Burhoff, EV, Rn 3540). Dieser Streit hat sich aber nach Inkrafttreten der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung nicht fortgesetzt. Soweit ersichtlich haben alle Gerichte, die sich seitdem mit der Frage befasst haben, die Zulässigkeit bejaht (BGH, a.a.O.; OLG Celle, Beschl. 6.2.2019 2 Ws 37/19, AGS 2019, 333 = StraFo 2019, 263; LG Braunschweig, Beschl. v. 3.9.2020 4 Qs 180/20, AGS 2021, 112 = StraFo 2020, 514; grds. auch LG Braunschweig, Beschl. v. 22.12.2022 4 Qs 371/22, AGS 2023, 188). Das ist im Hinblick auf die zutreffende h.M. zum früheren Recht zutreffend.
Allerdings gilt auch nach neuem Recht das, was das LG Mühlhausen hier noch einmal betont und was auch die vorstehend zitierte Rechtsprechung betont hat: Auch nach neuem Recht kommt eine Umbeiordnung unter der Voraussetzung, dass für die Staatskasse keine Mehrkosten entstehen, nur in Betracht, wenn der neue Pflichtverteidiger ggf. einen Verzicht auf beim alten Pflichtverteidiger bereits entstandene Gebühren erklärt hat. Der Verzicht muss ausdrücklich erklärt werden, eine konkludente Erklärung ist im Hinblick auf die erforderliche Klarheit für das Vergütungsfestsetzungsverfahren nicht möglich.
Ein Beschluss des OLG Hamm befasst sich mit der Frage, ob § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. analog angewendet werden kann (OLG Hamm, Beschl. v. 20.6.2023 4 Ws 88/23). Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeschuldigten vor, seine Stieftochter in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen hat sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gem. § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vorgeworfen. Deswegen hat die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gem. § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, sodass diese Norm keine Anwendung finde. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte.
Zur Anwendung des § 112 Abs. 3 führt das OLG aus: Entgegen der Ansicht des LG finde § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. analoge Anwendung. Zutreffend sei zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grds. nur auf die Normen Anwendung findet, die enumerativ in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 112 Rn 88; KK-StPO/Graf, a.a.O., § 112 Rn 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zähle. Insoweit ist die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.
Die Gesetzesbegründung steht dem nach Auffassung des OLG Hamm (a.a.O.) nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1.7.2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, sei nicht ersichtlich. Ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung v. 21.10.2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden. Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrunds der Schwerkriminalität in § 112 Abs. 3 StPO habe man die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsguts zum Ausdruck bringen wollen. Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle habe anders bewerten wollen, sei nicht ersichtlich und erscheine abwegig. Es sei daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen habe. Es liege damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie sei aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen könne der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung finde (vgl. BGH, Beschl. v. 25.11.2006 1 BGs 184/2006).
Hinweis:
Ich habe Bedenken, ob die Entscheidung zutreffend ist. Der § 112 Abs. 3 StPO ist eine Art Ausnahmevorschrift, die nur in enumerativ aufgeführten Fällen den Erlass eines Haftbefehls zulässt. Das schließt m.E. eine analoge Anwendung der Vorschrift im Hinblick auf einen weiteren Haftgrund (!!) aus. Zutreffend ist daher die Rechtsprechung des LG Kiel (vgl. Beschl. v. 8.9.2023 7 KLs 593 Js 43392/23). Das hat für § 30a BtMG die Anwendung des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO sowie auch eine analoge Anwendung der Regelung unter Hinweis auf die enumerative Aufzählung in der Vorschrift verneint (s. auch OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 1 Ws 233/23).
Im Übrigen erschließt sich nicht, warum das OLG die Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO überhaupt entschieden hat. Die Frage hätte man auch offenlassen können, da es darauf letztlich nicht ankam, weil das OLG das Vorliegen der Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO verneint. Das ist handwerklich schlecht gemacht.
Hinzuweisen ist zunächst auf eine der vielen Entscheidungen des BGH zur verständigungsbezogenen Mitteilungspflicht des Vorsitzenden (§ 243 Abs. 4 StPO). Es ist deutlich zu erkennen, dass der Schwerpunkt der Rechtsprechung derzeit in diesem Bereich liegt. Entscheidungen zum Inhalt und zu sonstigen Fragen der Verständigung (§ 257c StPO) sind längst nicht so häufig wie solche zur Mitteilungspflicht (zur Mitteilung s. auch Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 228 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]).
In dem vom BGH mit Beschl. v. 10.8.2023 (3 StR 93/23, StRR 11/2023, 17) entschiedenen Fall, hatte das LG den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Der Angeklagte hatte dagegen Revision eingelegt und gerügt, der Vorsitzende habe gegen seine Pflicht nach § 243 Abs. 4 S. 2 i.V.m. S. 1 StPO verstoßen, den wesentlichen Inhalt von außerhalb der Hauptverhandlung geführten verständigungsbezogenen Erörterungen mitzuteilen. Die Revision hatte mit dieser Verfahrensrüge Erfolg.
Der BGH (a.a.O.) ist von folgendem Verfahrensgeschehen ausgegangen: Die Hauptverhandlung wurde auf Anregung der Verteidigung am ersten Sitzungstag unterbrochen, um Verständigungsmöglichkeiten zu erörtern. Bei dem Gespräch sagte der Vorsitzende in Anwesenheit der Beisitzerin, der Schöffen, des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, der beiden Verteidiger und des Angeklagten sinngemäß, für den Fall eines Geständnisses könne die Strafkammer einen Strafrahmen von fünf Jahren und sechs Monaten bis sechs Jahre und sechs Monate zusagen. Daraufhin erklärte der Vertreter der Staatsanwaltschaft, er wolle dem genannten Strafrahmen nicht entgegentreten, während die Verteidigung nicht Stellung nahm. Nach Fortsetzung der Hauptverhandlung machte der Vorsitzende Angaben zu dem Gespräch. Die Mitteilung verhielt sich aber nicht zu der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft sowie dem Hinweis des Vorsitzenden auf eine etwaige Beihilfestrafbarkeit bei entsprechender geständiger Einlassung. Im nächsten Hauptverhandlungstermin äußerte die Verteidigung, der Angeklagte nehme das Angebot des Gerichts nicht an.
Nach zehn weiteren Sitzungstagen fand auf Anregung der Verteidigung in Unterbrechung der Hauptverhandlung ein weiteres Gespräch statt, das auf die Herbeiführung einer Verständigung gerichtet war. Am darauffolgenden Sitzungstag gab der Vorsitzende bekannt, dass nach dem vorausgegangenen Hauptverhandlungstermin auf Anregung der Verteidigung ein weiteres Gespräch zur Herbeiführung einer verfahrensabkürzenden Absprache zwischen der Strafkammer, den Verteidigern sowie der Staatsanwaltschaft stattgefunden habe und welcher (erhöhte) Strafrahmen dem Angeklagten nunmehr für ein Geständnis als Ergebnis zugesagt worden sei. Die Mitteilung verhielt sich wiederum nicht zu der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft sowie zu den Äußerungen der Beteiligten mit Bezug zu einer etwaigen Beihilfestrafbarkeit. Anschließend wurde der Angeklagte über die Voraussetzungen und Folgen einer möglichen späteren Abweichung des Gerichts von der in den Blick genommenen Verständigung belehrt (§ 257c Abs. 5 StPO). Im nächsten Hauptverhandlungstermin äußerte der Angeklagte, einer solchen verfahrensabkürzenden Absprache nicht zuzustimmen, und ließ sich weiter bestreitend zur Sache ein. Zu einer Verständigung kam es auch in der Folgezeit nicht mehr.
Der BGH (a.a.O.) verweist in seinem das landgerichtliche Urteil aufhebenden Beschluss zunächst darauf, dass der revisionsgerichtlichen Prüfung das vom Angeklagten vorgetragene Verfahrensgeschehen zugrunde zu legen sei. Die behaupteten Vorgänge in der Hauptverhandlung seien insb. durch die Sitzungsniederschrift (§ 274 Abs. 1 StPO) und daneben durch die Urteilsurkunde bewiesen. Dem Revisionsvorbringen zu den außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gesprächen stünden weder die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO) noch die vom BGH im Wege des Freibeweises eingeholten dienstlichen Stellungnahmen des Vorsitzenden und der Beisitzerin entgegen. Die dienstlichen Erklärungen seien, was der BGH im Einzelnen ausführt, zumindest als nicht hinreichend substantiiert zu bewerten, um das Revisionsvorbringen zu den außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gesprächen in Zweifel ziehen zu können.
Sodann äußert sich der BGH (a.a.O.) (noch einmal) zu Umfang und Reichweite der sich aus § 243 Abs. 4 StPO ergebenden Mitteilungspflicht. Der Vorsitzende habe so der BGH bereits deshalb prozessordnungswidrig gehandelt, weil er nach den beiden verständigungsbezogenen Erörterungen jeweils nicht mitgeteilt habe, wie sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft dabei erklärt hatte. Nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO sei, um dem Transparenzgebot, dem die Vorschrift diene, gerecht zu werden, nicht nur der Umstand mitzuteilen, dass es Erörterungen mit verständigungsbezogenem Inhalt gegeben habe, sondern auch deren wesentlicher Inhalt. Hierzu gehöre i.d.R., wer an dem Gespräch teilgenommen habe, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen worden sei, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen seien. Das gelte auch dann, wenn eine Verständigung i.S.d. § 257c Abs. 3 StPO letztlich nicht zustande gekommen ist (st. Rspr. wie etwa BGH, Urt. v. 3.11.2022 3 StR 127/22, NStZ 2023, 306 Rn 19 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 8.3.2023 3 StR 15/23, StraFo 2023, 236, 237).
Gemessen daran habe der Vorsitzende nach beiden Gesprächen die Pflicht zur Bekanntgabe gehabt, welchen Standpunkt die Staatsanwaltschaft zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag vertreten hatte. Denn sie habe jeweils eine mitteilungspflichtige Position hierzu eingenommen. Entgegen der Ansicht, die offenbar der Revisionsgegenerklärung und den dienstlichen Stellungnahmen der Richter zugrunde gelegen hat, habe die Staatsanwaltschaft auch dann einen Standpunkt, wenn sie eine vorläufige zustimmende Einschätzung abgebe. Jede befürwortende oder ablehnende Äußerung unterfalle der Mitteilungspflicht. Verbindliche Erklärungen, also solche, welche die Bindungswirkung auslösen, seien ohnehin dem Verfahren nach § 257c StPO vorbehalten. Nur wenn sich die Staatsanwaltschaft anders als hier nicht zu einem Vorschlag positioniere, müsse dies der Vorsitzende nicht in der Hauptverhandlung mitteilen (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn 60 [Fn 246]; entsprechend für den Verteidiger BGH, Beschl. v. 22.7.2014 1 StR 210/14, NStZ 2015, 48; a.A. KK-StPO/Schneider, a.a.O., § 243 Rn 61). Ohne dass es für die Prozessordnungswidrigkeit der Mitteilungen i.S.v. § 243 Abs. 4 S. 2 i.V.m. S. 1 StPO noch entscheidungserheblich darauf ankomme, trete so der BGH hinzu, dass der Vorsitzende die Äußerungen zu einer etwaigen Beihilfestrafbarkeit ebenso wenig bekannt.
Hinweis:
Für die Verteidigung sind die Fragen deshalb von Bedeutung, weil das Urteil auf an der Stelle gemachte Verfahrensfehler i.d.R. beruht (§ 337 Abs. 1 stopp; vgl. dazu BVerfG, NStZ 2015, 172, 173 und StraFo 2020, 147, 150). So nach den Ausführungen des BGH auch hier. Dabei wird davon ausgegangen, dass das gesamte Urteil auf dem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht gem. § 243 Abs. 4 StPO beruht. Dies wird nicht bereits dann verneint, wenn sich der Mitteilungsmangel nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann. Mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht ist der normative Zusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Verurteilung nach der Rechtsprechung des BGH vielmehr erst durchbrochen, wenn der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und sicher auszuschließen ist, dass sie auf die Herbeiführung einer gesetzwidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.2022 3 StR 127/22, NStZ 2023, 306; BGH, Beschl. v. 8.3.2023 3 StR 15/23, StraFo 2023, 236, 237).
Im BGH, Beschl. v. 26.9.2023 (5 StR 164/22 StraFo 2023, 437) hat der BGH zur Befangenheit eines Schöffen nach einer sog. Selbstanzeige (§ 30 StPO) und zu sich ggf. aus § 29 StPO ergebenden Wartepflicht für die Fortführung der Hauptverhandlung Stellung genommen.
In dem Verfahren war Mitgliedern der Strafkammer beim LG aufgefallen, dass einer der bis dahin mitwirkenden Schöffen teils mit geschlossenen Augen auf der Richterbank saß. Darauf angesprochen und um Aufklärung etwaiger Einschränkungen gebeten, stritt der Schöffe Müdigkeitserscheinungen zunächst bewusst wahrheitswidrig ab. Vor Beginn des 8. Hauptverhandlungstags räumte der Schöffe dann jedoch ein, dass er im Hinblick auf seine Müdigkeitserscheinungen gelogen habe. Er leide an einer manischen Depression und nehme als Einschlafhilfe ein Antidepressivum. Die Wirkung dieses Medikaments lasse erst am Vormittag nach, weshalb er an den bislang durchgeführten Hauptverhandlungsterminen nur zu 80 % anwesend gewesen sei.
Ungeachtet dieser Erklärung führte die Strafkammer den 8. Hauptverhandlungstermin wie geplant durch und setzte die Vernehmung eines Zeugen fort, ohne die Verfahrensbeteiligten über die Vorkommnisse zu informieren. Zwei Tage später erklärte der Schöffe auf Frage des Vorsitzenden, dass seine Erklärung als Selbstanzeige eines möglichen Befangenheitsgrunds anzusehen sei. Nunmehr wurden die Verfahrensbeteiligten informiert, Ablehnungsgesuche gegen den Schöffen gingen nicht ein. Stattdessen stellte die Strafkammer durch Beschluss fest, dass die in der Selbstanzeige des Schöffen mitgeteilten Umstände die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigten. Grund hierfür sei aber nicht dessen Erkrankung, sondern der Umstand, dass der Schöffe gegenüber der Strafkammer das Bestehen eines Müdigkeitsproblems zunächst wahrheitswidrig bestritten hatte. Sodann trat eine Ergänzungsschöffin in das Verfahren ein.
Mit seiner Revision gegen das Urteil des LG hat der Angeklagte u.a. eine Verletzung des § 29 Abs. 1 StPO gerügt. Die Strafkammer habe die dort normierte Wartepflicht verletzt, indem sie nach der Erklärung des Schöffen zunächst weiterverhandelt habe. Zudem seien Befangenheitsanträge gegen die Berufsrichter, die der Angeklagte wegen der verzögerten Information über die Erklärung des Schöffen gestellt hatte, fehlerhaft abgelehnt worden. Die Rügen hatten keinen Erfolg.
In seiner Entscheidung hat der BGH (a.a.O.) die Frage, ob die in § 29 Abs. 1 StPO bestimmte Wartepflicht, wonach ein abgelehnter Richter sich aller Amtshandlungen zu enthalten habe, die nicht unaufschiebbar sind, auch auf den Richter entsprechend anzuwenden sei, der eine Selbstanzeige nach § 30 StPO erstattet hat, offengelassen. Denn eine etwaige Wartepflicht erstrecke sich jedenfalls nicht auf die Hauptverhandlung (§ 29 Abs. 2 S. 1 StPO). Gleichwohl hat der BGH (a.a.O.) ausführlich zu dieser Frage Stellung genommen und dargelegt, dass an einer Anwendbarkeit der Wartepflicht Zweifel bestünden. Es fehle bereits an einem schützenswerten Interesse an einer Wartepflicht des selbstanzeigenden Richters. Denn der Gesetzgeber habe durch § 30 StPO sichergestellt, dass das Recht der Verfahrensbeteiligten auf einen unbefangenen Richter auch dann effektiv durchgesetzt werden könne, wenn die eine Befangenheit begründenden Umstände nicht offen zutage treten, denn nach dieser Vorschrift sei der Richter verpflichtet, über mögliche Befangenheitsgründe Mitteilung zu machen. Sodann sei den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; diese hätten im Anschluss die Möglichkeit, den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen und mithin auch die direkte Anwendbarkeit des § 29 StPO herbeizuführen. Erachteten sie den Richter aufgrund der ihnen mitgeteilten Selbstanzeige hingegen nicht für befangen, so brächten sie hiermit zum Ausdruck, keine Bedenken gegen seine weitere Mitwirkung zu haben. Zudem sei zu berücksichtigen, dass sich der Gesetzgeber für ein gestuftes Nebeneinander von Ausschlussgründen und Befangenheit entschieden habe. Während Ausschlussgründe nach den §§ 22, 23, 148a Abs. 2 StPO absolut und unabhängig von einem Antrag der Prozessbeteiligten wirkten und auf sie auch nicht verzichtet werden könne, sei der i.S.d. § 24 Abs. 2 StPO befangene Richter nicht bereits mit dem Entstehen des Ablehnungsgrunds von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen, sondern erst nach einem Gerichtsbeschluss, der seine Befangenheit feststellt. Auch finde eine Überprüfung der Befangenheit von Amts wegen nicht statt. Dieses vom Gesetzgeber so vorgegebene Stufenverhältnis wäre unhaltbar, würde der abgelehnte Richter schon vor der Entscheidung des Gerichts über seine Befangenheit nicht mehr gesetzlicher Richter sein.
Schließlich verweist der BGH (a.a.O.) auch auf die unterschiedliche Behandlung von Ablehnung und Selbstanzeige im Revisionsrecht. Der Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO sei nur nach Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit eröffnet, wohingegen in Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige für begründet oder nicht begründet erklärt wird, für das Revisionsgericht für sich gesehen grds. nicht überprüfbar sei. Erst dann, wenn ein Ablehnungsberechtigter aufgrund des Vorbringens des Selbstanzeigenden diesen abgelehnt habe, sei das Ablehnungsverfahren und mithin der Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO im Revisionsverfahren eröffnet. Insoweit sei dessen hohes Rechtsschutzniveau an den Ablehnungsantrag gebunden. Der BGH neigt in dem Zusammenhang dazu, auch die Sicherung des § 29 StPO, der nach der gesetzlichen Überschrift und nach dem Normtext allein das Verfahren nach Ablehnung betrifft, nur diesem Verfahren vorzubehalten.
Hinweis:
Wenngleich der BGH (a.a.O.) die Frage nach einer Auslösung der Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO durch eine Selbstanzeige mangels Entscheidungsrelevanz nicht abschließend entschieden hat, ist seine Botschaft doch recht eindeutig: Es besteht in solchen Fällen keine Wartepflicht, und die Hauptverhandlung kann über § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ohnehin immer fortgesetzt werden (zum Verfahren auch Burhoff, HV, Rn 126 ff.). Für den Verteidiger bedeutet dies, dass er die in einer Selbstanzeige mitgeteilten möglichen Befangenheitsgründe sorgfältig prüfen und dann umgehend entscheiden muss, ob ein Ablehnungsgesuch gestellt wird oder nicht. Erst dann wird die Wartepflicht ausgelöst. Andernfalls hat die Verteidigung, will sie einen Verstoß gegen die Wartepflicht rügen, in der Revision schlechte Karten, zumal dort auch die Gefahr besteht, dass das Vorbringen wegen Widersprüchlichkeit als unzulässig angesehen wird. Auch hier hatte der BGH (a.a.O.) die Zulässigkeit der Verfahrensrüge nämlich für fraglich erachtet, nachdem die Verteidigung einerseits einen Verstoß gegen die Wartepflicht monierte, andererseits aber auch vorgetragen hat, der Schöffe sei willkürlich aus dem Spruchkörper herausgedrängt worden.
Die Überlassung der beA-Karte und der PIN des Rechtsanwalts an Dritte, wie z.B. an Kanzleimitarbeiter, ist nicht zulässig. Das ist das Fazit aus dem BGH, Beschl. v. 20.6.2023 2 StR 39/23 (vgl. a. noch BGH, Beschl. v. 4.10.2023 3 StR 292/23). In dem Verfahren ging es um die Zulässigkeit der Revision einer Nebenklägerin. Das LG hatte den Angeklagten am 24.8.2022 freigesprochen. Dagegen hat die Nebenklägerin mit einem am 25.8.2022 per Telefax eingegangenen Schriftsatz ihres anwaltlichen Vertreters Revision eingelegt. Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig verworfen, weil die Form des § 32d S. 2 StPO in der Frist zur Einlegung der Revision gem. § 341 StPO nicht gewahrt worden sei.
Nach Zustellung des Verwerfungsbeschlusses an den anwaltlichen Vertreter der Nebenklägerin hat dieser am gleichen Tag durch Übermittlung im besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Revisionseinlegung auf diesem Wege nachgeholt. Den Wiedereinsetzungsantrag hat er damit begründet, er habe am 24.8.2022 mit der Nebenklägerin die Einlegung der Rechtsmitteleinlegung besprochen, am Folgetag den Rechtsmittelschriftsatz einer Kanzleiangestellten diktiert und ihr die Anweisung erteilt, den Schriftsatz durch Übermittlung im beA und durch Telefax an das LG zu übersenden. Sendeberichte habe diese am nächsten Tag einem ebenfalls in der Kanzlei tätigen Rechtsanwalt zur Kontrolle vorlegen sollen. Er selbst sei am 25.8.2022 zu einer Reise aufgebrochen. Erst nach Zugang des Revisionsverwerfungsbeschlusses der Strafkammer sei erkannt worden, dass die Rechtsmittelschrift nicht im beA übermittelt wurde. Da er im Homeoffice arbeite und die Kanzlei nur zur Wahrnehmung von Besprechungsterminen aufsuche, habe er seine Angestellte gebeten, seine beA-Karte und den PIN in ihrem Schreibtisch zu verwahren; diese wäre daher in der Lage gewesen, den Übermittlungsauftrag auszuführen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hatte keinen Erfolg. Der BGH (Beschl. v. 20.6.2023 2 StR 39/23) hat das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrunds verneint. Wenn jemand ohne Verschulden verhindert gewesen sei, eine Frist einzuhalten, sei ihm auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 44 S. 1 StPO). Das sei hier nicht der Fall. Der Nebenklägerin sei, anders als einem Angeklagten bei der Verteidigung gegen einen Schuld- und Rechtsfolgenausspruch, auch das Verschulden ihres anwaltlichen Vertreters zuzurechnen (vgl. BGHSt 30, 309, 310). Dieser habe hier eine fristwahrende Übersendung der Rechtsmittelschrift in der Form des § 32d S. 2 StPO versäumt, ohne für ausreichende Abhilfemöglichkeiten zu sorgen. Die Übergabe seiner beA-Karte und der zugehörigen PIN an die Kanzleiangestellte zu deren Verwendung seien dazu nicht geeignet gewesen.
Die einfache Signatur der Rechtsmittelschrift setze die persönliche Versendung durch die den Schriftsatz verantwortende Person voraus (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 7.2.2023 2 StR 162/22). Nach § 24 der Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung (RAVPN) können andere Personen als der bevollmächtigte Rechtsanwalt, insb. Kanzleimitarbeiter, sich nur mit einem ihnen selbst zugeordneten Zertifikat und der zugehörigen Zertifikats-PIN im beA anmelden. Das sei hier nicht geschehen. Die Überlassung des eigenen Zertifikats des Rechtsanwalts an die Kanzleimitarbeiterin sei nicht zulässig. Nach § 26 Abs. 1 RAVPN dürfe der Inhaber eines für ihn erzeugten Zertifikats dieses keiner anderen Person überlassen; er habe auch die zugehörige PIN geheim zu halten. Dadurch solle sichergestellt werden, dass die einfache Signatur von der den Schriftsatz verantwortenden Person stamme. Eine Überlassung des Zertifikats an eine nicht angemeldete Person würde es einem Unbefugten ermöglichen, anwaltliche Schriftsätze eigenmächtig zu erstellen oder abzuändern, um sie dann mit einer einfachen Signatur des Rechtsanwalts zu versenden.
Bei einer Übermittlung über das beA müsse die Übertragung in das Postfach dieses Verteidigers oder Rechtsanwalts erfolgen und dieser also nicht etwa ein Kanzleimitarbeiter der tatsächliche Versender sein (vgl. BGH, Beschl. v. 3.5.2022 3 StR 89/22, StraFo 2022, 276 = StRR 7/2022, 16). Die Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer bestimme, dass das Recht, nicht qualifiziert-elektronisch signierte Dokumente alternativ formwahrend über das besondere elektronische Anwaltspostfach zu versenden, nicht auf Dritte übertragen werden dürfe (§ 23 Abs. 3 S. 5 RAVPV); denn das Vertrauen in die Authentizität der mit einfacher Signatur übermittelten elektronischen Dokumente stütze sich auf die Erwartung, dass dieser sichere elektronische Übermittlungsweg ausschließlich von den Inhabern des Anwaltspostfachs selbst genutzt werde und die das Dokument einfach signierende Person mit der des Versenders übereinstimme. Sei das nicht der Fall, werden die Formerfordernisse nach § 32a Abs. 3 Var. 2, Abs. 4 S. 1 Nr. 2 StPO nicht gewahrt (vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2023 2 StR 162/22).
Hinweis:
Die Entscheidung entspricht sowohl dem Wortlaut von der verantwortenden Person signiert und ( ) eingereicht in § 32a Abs. 3 StPO (vgl. zum wortgleichen § 130a Abs. 3 StPO OLG Braunschweig, Beschl. v. 8.4.2019 11 U 146/18) als auch der systematischen Gleichstellung der sicheren Übermittlungswege mit der qualifizierten elektronischen Signatur (dazu auch BAG, Beschl. v. 5.6.2020 10 AZN 53/20 [zu § 130a ZPO]) sowie dem Sinn und Zweck der Regelung des § 32a Abs. 3 Alt. 2 StPO, die Funktion der Schriftform, die Identität des Urhebers und der Authentizität des Dokuments zu gewährleisten, durch funktionssichere Übermittlungswege zu ersetzen (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 3 StR 89/22, StraFo 2022, 276 = StRR 7/2022, 16 m.w.N.). Fazit aus der Entscheidung kann daher nur sein, dass beA-Karte und/oder PIN des Rechtsanwalts eben nicht weitergegeben werden. Und wenn man es dennoch tut, sollte man es zumindest nicht offenlegen.
Die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revisionsschrift und der Revisionsbegründungsschrift (§ 32d S. 2 StPO) gilt auch in dem Fall, in dem der übermittelnde Rechtsanwalt selbst Angeklagter des Strafverfahrens ist. Das haben jetzt das OLG Hamm (Beschl. v. 20.7.2023 4 ORs 62/23, VRR 9/2023, 17 für die Revisionsbegründung) und das BayObLG (Beschl. v. 14.7.2023 201 ObOWi 707/23 für die Rechtsbeschwerdebegründung) entschieden.
In dem vom OLG Hamm (a.a.O.) entschiedenen Fall hatte das AG den Angeklagten, der von Beruf Rechtsanwalt ist und sich selbst verteidigt hat, am 9.3.2023 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) zu einer Geldstrafe verurteilt. Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete und dem Angeklagten am 25.3.2023 zugestellte Urteil hat der Angeklagte mit am 15.3.2023 bei dem AG eingegangenem Fax-Schreiben vom 15.3.2023 Rechtsmittel eingelegt und dieses mit weiterem, am 25.4.2023 eingegangenem, Schreiben als Revision bezeichnet und mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. Das OLG hat die Revision als unzulässig verworfen.
Nach Auffassung des OLG Hamm (a.a.O.) war die Revision bereits nicht wirksam eingelegt (BGH, Beschl. v. 8.9.2022 3 StR 251/22, StraFo 2023, 16). Nach den seit dem 1.1.2022 geltenden § 32d S. 2 stopp müssen Verteidiger und Rechtsanwälte u.a. die Revision und ihre Begründung als elektronisches Dokument übermitteln. Insoweit handele es sich um eine Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Prozesshandlung. Ihre Nichteinhaltung bewirke die Unwirksamkeit der Erklärung (vgl. BGH, Beschl. v. 24.5.2022 2 StR 110/22, NStZ-RR 2022, 253 [Ls.]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 32d Rn 2 m.w.N.).
Diesen Anforderungen genügten die Revisionseinlegung und die Revisionsbegründung nach Auffassung des OLG nicht. Denn der Angeklagte habe seine Revision lediglich per Fax übermittelt bzw. im Briefkasten des AG hinterlegt. Anhaltspunkte dafür, dass eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich gewesen sei (§ 32d S. 3 StPO), seien nicht dargetan. Die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revisionsschrift und Revisionsbegründungsschrift gelte so das OLG auch in dem hier vorliegenden Fall, in dem der übermittelnde Rechtsanwalt selbst Angeklagter des Strafverfahrens ist. Der Begriff Rechtsanwälte in § 32d StPO sei insoweit statusrechtlich zu verstehen und erfasse Personen, die als Rechtsanwalt zugelassen sind und für die als solche durch die Bundesrechtsanwaltskammer ein beA eingerichtet worden sei (§ 31a Abs. 1 BRAO). Die Verpflichtung zur elektronischen Einreichung schließe nicht die Möglichkeit des Rechtsanwalts aus, die in Rede stehenden Erklärungen mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle abzugeben (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 32d Rn 1 m.w.N.). Von dieser Möglichkeit habe der Angeklagte keinen Gebrauch gemacht.
Hinweis:
Das OLG Hamm (a.a.O.) schließt sich, ohne das allerdings ausdrücklich auszuführen, der h.M. in der obergerichtlichen Rechtsprechung zu der Frage an (ebenso das BayObLG, a.a.O., und OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.6.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 149/22 für die Rechtsbeschwerde und ihre Begründung). In der Rechtsprechung des BGH ist darüber hinaus mittlerweile geklärt, dass für Rechtsanwälte die Pflicht zur elektronischen Übermittlung gem. § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG, der in etwa § 32d StPO entspricht, auch dann besteht, wenn sie als anwaltlicher Berufsbetreuer berufsmäßig im eigenen Namen auftreten (vgl. BGH Beschl. v. 31.1.2023 XIII ZB 90/22, FamRZ 2023, 719 [Verfahrenspfleger]; s. noch BGH, Beschl. v. 31.5.2023 XII ZB 428/22; vgl. zu § 130d ZPO BGH, Beschl. v. 24.11.2022 IX ZB 11/22, WM 2023, 89 [Insolvenzverwalter]). Dem hat sich das OLG Hamm ohne Einschränkung angeschlossen. Als sich selbst verteidigender Rechtsanwalt muss/sollte man das auf dem Schirm haben.
Hinzuweisen ist auf Folgendes: Die Übermittlung eines Rechtsmittels durch den Verteidiger in Papierform ist nur (noch) zulässig, wenn eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist (§ 32d S. 3 StPO; dazu Biallaß, NJW 2023, 25). Dabei stellt die StPO nicht darauf ab, in wessen Sphäre die technische Unmöglichkeit liegt, da auch bei einem Ausfall der technischen Einrichtungen des Rechtsanwalts oder Verteidigers dies nicht zum Nachteil für einen Verfahrensbeteiligten führen darf (BVerfG NJW 1996, 2857). Die Einschränkung muss aber vorübergehend und aus technischen Gründen (dazu BGH, Beschl. v. 25.1.2023 IV ZB 7/22, NJW 2023, 1062) erfolgen, weshalb die Ausnahme ausscheidet, wenn der Verteidiger überhaupt kein geeignetes System vorhält oder bei technischen Problemen nicht umgehend für deren Behebung sorgt (BGH, Beschl. v. 7.12.2022 2 StR 140/22, StraFo 2023, 139; BGH, Beschl. v. 27.9.2022 5 StR 328/22, StRR 12/2022, 12; BGH, Beschl. v. 7.12.2022 2 StR 140/22, StraFo 2023, 139). Auch ist die Unkenntnis der beA-Verbindung an Gericht, also der sog. SAFE-ID des Gerichts, ebenso wenig ein Fall der technischen Unmöglichkeit wie die Unfähigkeit zur Bedienung eines Programms, das die Auswahl des Empfängers einer über das beA zu versendende Nachricht anhand des Namens ermöglicht (BGH, Beschl. v. 1.3.2023 5 StR 440/22).
Soll/muss von der Möglichkeit der Ersatzeinreichung Gebrauch gemacht werden, muss das entweder in Papierform oder auch als Faxdokument erfolgen, mangels Schriftform aber nicht per normaler E-Mail (OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.2.2022 1 Ss 28/22, NStZ 2022, 767; s. auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.6.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 149/22). Das Bestehen einer vorübergehenden Unmöglichkeit muss sogleich bei der Ersatzeinreichung (BGH, Beschl. v. 27.9.2022 5 StR 328/22, StRR 12/2022, 12; BGH, Beschl. v. 17.11.2022 IX ZB 17/22, NJW 2023, 456 f.; OLG Hamm, Beschl. v. 3.7.2023 31 U 71/23, ZAP EN-Nr. 625/2023 [nicht sieben Tage später]) oder jedenfalls unverzüglich danach glaubhaft gemacht werden (dazu BGH, a.a.O.; Beschl. v. 21.6.2023 V ZB 15/22, NJW 2023, 2883; BGH, Urt. v. 25.7.2023 X ZR 51/23, ZAP EN-Nr. 579/2023 [ggf. auch in einem zweiten Schriftsatz am selben Tag]; LG Berlin, Beschl. v. 6.7.2023 67 O 36/23 [nicht 48 Stunden später]; s. auch OLG Braunschweig, Beschl. v. 28.10.2022 4 U 76/22, JurBüro 2022, 663). War der Verteidiger aus technischen Gründen gehindert, seinen fristwahrenden Schriftsatz elektronisch einzureichen, ist er, nachdem er die zulässige Ersatzeinreichung veranlasst hat, nicht mehr gehalten, sich vor Fristablauf weiter um eine elektronische Übermittlung zu bemühen (BGH, Urt. v. 25.5.2023 V ZR 134/22v, NJW 2023, 2484).
Zur Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung ist eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände erforderlich (BGH, Beschl. v. 30.8.2022 4 StR 104/22, StraFo 2022, 434; BGH, Beschl. v. 27.9.2022 5 StR 328/22, StRR 12/2022, 12; BGH, Beschl. v. 8.9.2023 3 StR 256/23; BGH, Beschl. v. 21.9.2021 XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; BGH, Beschl. v. 26.1.2023 V ZB 11/22, MDR 2023, 862). Eine ggf. nur stichwortartige Zustandsbeschreibung, aus der sich nicht ergibt, dass im Zeitpunkt der Übermittlung eine grds. einsatzbereite technische Infrastruktur existierte und eine nur vorübergehende technische Störung gegeben war, reicht nicht aus (zu den Anforderungen BGH, Beschl. v. 30.8.2022 4 StR 104/22, StraFo 2022, 434; BayObLG, Beschl. v. 14.7.2023 201 ObOWi 707/23; KG, Beschl. v. 17.10.2022 (3) 121 Ss 105/22 (42/22), StV 2023, 580; LG Arnsberg, Beschl. v. 6.7.2022 3 Ns-360 Js 24/21-73/22, NStZ 2022, 639). Dass die technische Störung dem Gericht bekannt ist, entbindet den Absender nicht davon, die Ursächlichkeit der Störung für die Übermittlung in Papierform glaubhaft zu machen (OLG Hamm, Beschl. v. 3.7.2023 31 U 71/23).
Hinweis:
Es bedarf einer Versicherung der Richtigkeit der Angaben. Ein einfacher Schriftsatz genügt hierfür nicht. Erforderlich ist eine anwaltliche Versicherung über das Scheitern der elektronischen Übermittlung (BGH, Beschl. v. 26.1.2023 V ZB 11/22, MDR 2023, 862; OLG Brandenburg, Urt. v. 28.4.2023 11 U 244/22; OLG Braunschweig, Beschl. v. 28.10.2022 4 U 76/22, JurBüro 2022, 633). Ausreichend ist zur Glaubhaftmachung bei der Ersatzeinreichung aber ein Screenshot als Beweis für das beA-Versagen (BGH, Beschl. v. 10.10.2023 XI ZB 1/23).
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