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aus ZAP 2024, 1199

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "PStR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "PStR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (II/2024)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise zu Gesetzesvorhaben. 2

    1. Änderungen im GVG/im Schöffenrecht 2

    2. Beschränkung der Laienverteidigung. 2

    3. Strafverfolgungsentschädigungsreformgesetz – StrERG.. 3

    4. Tatprovokation/Verdeckter Ermittler/V-Person. 3

II. Ermittlungsverfahren. 4

1. Durchsuchung nach Entbindung des Steuerberaters von der Schweigepflicht 4

    2. Ingewahrsamnahme eines Zeugen und Telefonsperre. 6

        a) Ingewahrsamnahme. 6

        b) Telefonsperre. 8

III. Hauptverhandlung. 9

    1. Befangene Staatsanwältin. 9

    3. Beteiligung der Nebenklage am Selbstleseverfahren. 13

IV. Entschädigung für längere Sicherstellung eines Mobiltelefons. 14

    1. Nutzungsausfall für das sichergestellte Mobiltelefon. 14

    2. Rechtsanwaltskosten im Entschädigungsverfahren. 15

V. Verfahrensrechtliche Auswirkungen der Cannabis-Legalisierung. 17

    1. Strafverfahren. 17

        a) Auswirkungen in der Tatsacheninstanz. 17

            aa) Schuldspruch in der Tatsacheninstanz. 17

            bb) Strafzumessung. 17

            cc) Einziehung. 18

        b) Auswirkungen im Berufungsverfahren. 18

        c) Auswirkungen im Revisionsverfahren. 19

            aa) Milderes Gesetz. 19

            bb) Neufassung des Schuldspruchs. 19

            cc) Strafausspruch. 19

            dd) Wirkungen des Straferlasses. 19

        d) „Amnestieregelung“ 20

            aa) Neufestsetzung von Strafen. 20

            bb) Halbstrafe. 21

        e) Sonstiges/Verfahrensrecht 21

            aa) Strafklageverbrauch/BZRG-Verwertungsverbot 21

            bb) Verwertung „alter“ Encro-Chat-Daten. 21

            bb) Pflichtverteidiger 22

    2. Bußgeldverfahren: Anwendung des neuen Grenzwertes für § 24a StVG in sog. Altfällen. 22

I. Hinweise zu Gesetzesvorhaben

Hinzuweisen ist auf folgende Gesetzesvorhaben, die zumindest als Referentenentwürfe der „Ampel-Koalition“ existiert haben. Ob diese Entwürfe aber noch vor dem (planmäßigen) Ende der Legislaturperiode im September 2025 Gesetz geworden wären, ließ sich angesichts der recht schleppenden Gesetzgebungsverfahren nicht sicher voraussagen. Nach dem Scheitern der Ampel-Koalition ist es nun ziemlich unwahrscheinlich, dass sie vor dem vorzeitigen Ende dieser Legislaturperiode noch Gesetz werden (Stand: Ende November 2024). Wir stellen sie aber dennoch vor, da nicht auszuschließen ist, dass die Änderungen so oder in etwa dieser Form dann demnächst erneut eingebracht werden. Die vorgestellten Entwürfe stehen im Volltext alle auf der Homepage des BMJ.

1. Änderungen im GVG/im Schöffenrecht

Nach dem am 30.8.2024 veröffentlichen Referentenentwurf des BMJ zu einem „Fünften Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes“ (GVG-E) waren im GVG zwei Änderungen vorgesehen, und zwar: In Zukunft sollen Gerichte nach einer Änderung in § 21e Abs. 9 GVG-E verpflichtet sein, ihre Geschäftsverteilungspläne im Internet zu veröffentlichen. Nach § 32 Nr. 1 GVG-E soll zudem der Zugang zum Schöffenamt strenger reguliert werden. Es sollen Personen als Schöffen ausgeschlossen sein, die wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Bisher lag die Schwelle bei sechs Monaten Freiheitsstrafe, Geldstrafen hatten gar keine Bedeutung.

2. Beschränkung der Laienverteidigung

Nach einem aus Bayern stammenden Gesetzesentwurf zur Änderung der StPO (BR-Drucks. 206/24 = BT-Drucks. 20/12278) soll(te) die sog. Laienverteidigung beschränkt werden. Hintergrund ist § 138a Abs. 2a StPO. Danach darf ausnahmsweise vom Gericht im Einzelfall auf Antrag eine andere Person als ein Rechtsanwalt oder Hochschullehrer, der die Befähigung zum Richteramt hat, als Verteidiger zugelassen werden (sog. Laienverteidiger). Diese muss kein Rechtsanwalt oder Volljurist sein. Vorgeschlagen wird, eine Genehmigung u.a. nur noch bestimmten Personen zu erteilen, und zwar volljährigen Angehörigen des Beschuldigten, Personen mit Befähigung zum Richteramt, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit für den Beschuldigten steht sowie verschiedenen Vertretern von u.a. Berufsverbänden, Gewerkschaften oder Vereinigungen von Arbeitgebern.

Dieser Entwurf ist am 14.6.2024 im Bundesrat beraten worden. Der Bundestag hat sich damit noch nicht befasst.

3. Strafverfolgungsentschädigungsreformgesetz – StrERG

Nur als Referentenentwurf des BMJ existierte der Entwurf zu einem "Gesetz zur Reform des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen und zur Änderung weiterer Gesetze (Strafverfolgungsentschädigungsreformgesetz – StrERG)". Der sah - endlich - eine durchgreifende Änderung des StrEG vor, das im Grunde seit seiner Einführung im Jahr 1971 immer wieder nur punktuell geändert worden ist. Insbesondere wurde die als Ersatz für immaterielle Schäden bei Freiheitsentziehung zu leistende Haftentschädigungspauschale mehrfach angehoben, viel mehr ist aber auch nicht passiert.

Vorgesehen waren weitergehende Reformen des StrEG, insbesondere im Hinblick auf Verbesserungen für Personen, die wegen letztlich zu Unrecht erlittener Freiheitsentziehung zu entschädigen sind. Der Entwurf sieht dazu insbesondere folgende Änderungen vor; wegen weiterer Einzelheiten verweise ich auf ein Informationspapier des BMJ auf der Homepage des BMJ:

  • Anhebung der Haftentschädigungspauschale um weitere 25 EUR auf 100 EUR für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung und ab einer Haftdauer von sechs Monaten nochmals auf 200 Euro für jeden weiteren angefangenen Tag der Freiheitsentziehung,
  • die Anrechnung von durch die Freiheitsentziehung ersparten Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung auf den Entschädigungsanspruch soll ausgeschlossen werden und
  • es soll ein Anspruch auf eine kostenlose anwaltliche Erstberatung im Betragsverfahren eingeführt werden.
  • im RVG soll im Hinblick auf die letztgenannte Änderung flankierend ein Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts, der die Erstberatung durchgeführt hat, gegen die Staatskasse vorgesehen werden.
  • Durch weitere Änderungen des StrEG sollen Erleichterungen für das Entschädigungsverfahren und das sich ggf. anschließende Klageverfahren eingeführt werden, namentlich erweiterte Belehrungspflichten, die Verlängerung von Antrags- und Klagefrist sowie die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Antrags- oder Klagefrist.
  • Mit einer Änderung der StPO sollen schließlich zu Unrecht Verurteilte dadurch besser rehabilitiert werden, dass sie bei erfolgreicher Wiederaufnahme auch nach erneuter Hauptverhandlung einen Anspruch auf öffentliche Bekanntmachung der Aufhebung des früheren Urteils erhalten.

4. Tatprovokation/Verdeckter Ermittler/V-Person

Nach der Absichtserklärung im GroKo 2018-Vertrag sollte der gesetzgeberische Handlungsbedarf einer Rechtsgrundlage für die Tatprovokation geprüft werden. Gesetzgeberische Aktivitäten hatten sich in der 19. Legislaturperiode nicht ergeben (dazu BT-Drucks. 19/16593 u. BT-Drucks. 19/17910). Ein Regierungsentwurf zu einem „Gesetz zur Regelung des Einsatzes von Verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen sowie zur Tatprovokation“ (BR-Drucks. 125/24 = BT-Drucks. 20/11312) enthielt dann aber Vorschläge für eine Gesetzesänderung vor allem für zwei Bereiche zum Einsatz von V-Leuten (zu der Problematik aus neuerer Zeit Fischer GA 2023, 263, Soiné Krim 2023, 523; Zimmermann Krim 2023, 607; zum VE/V-Mann Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl., 2025, Rn 4825 ff. m.w.N. und Rn 5431 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]).

Im Einzelnen umfasst der Entwurf folgende wesentliche Änderungsvorschläge:

  • Die Anforderungen an den Einsatz von V-Personen sollen gesetzlich geregelt werden. Es wird geregelt, welche Personen nicht als V-Personen eingesetzt werden dürfen und unter welchen Voraussetzungen Einsätze grundsätzlich zu beenden sind oder beendet werden sollen. Darüber hinaus wird geregelt unter welchen Voraussetzungen, Angaben über V-Personen geheim gehalten werden dürfen.
  • Es soll im Bereich der Zeugenvernehmung eine neue Regelung zum besseren Schutz der Identität von Zeugen eingeführt werden, die insbesondere auch für Verdeckte Ermittler und V-Personen relevant ist.
  • Für Einsätze von V-Personen wird ein Richtervorbehalt eingeführt und die Einsätze werden einer regelmäßigen richterlichen Kontrolle unterstellt.
  • Für Einsätze Verdeckter Ermittler und von V-Personen werden Berichtspflichten eingeführt.
  • Die Regelungen zum Kernbereichsschutz werden unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG (Beschl. v. 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21, BVerfG 165, 1) für Einsätze Verdeckter Ermittler erweitert und auf V-Personen erstreckt.
  • Die Voraussetzungen eines zulässigen Verleitens zu einer Straftat werden geregelt.
  • Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation wird definiert und als Rechtsfolge ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis festgelegt.

Zu dem Gesetzesentwurf hatte der Bundesrat teilweise ablehnend Stellung genommen (s. BT-Drucks. 20/11312, S. 43 ff.).

II. Ermittlungsverfahren

Für den Bereich des Ermittlungsverfahrens ist aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der Entscheidungen, die Durchsuchungsmaßnahmen betreffen, auf zwei Beschlüsse des LG Nürnberg-Fürth hinzuweisen, die in der Praxis immer wieder auftretende Problembereiche behandeln

1. Durchsuchung nach Entbindung des Steuerberaters von der Schweigepflicht

Dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.5.2024 (12 Qs 2/24, StRR 10/2024, 23) lag eine Durchsuchung bei Steuerberater-GmbH nach einer Entbindungserklärung des Angeklagten zugrunde. Das AG hatte gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen versuchter Steuerhinterziehung erlassen. Der Angeklagte hatte hiergegen Einspruch eingelegt. Im Hauptverhandlungstermin entband der Angeklagte dann seinen Steuerberater von der Schweigepflicht. Dieser verweigerte jedoch unter Hinweis auf § 55 StPO die Aussage. Das begründete er damit, dass seine Chefin, die Geschäftsführerin der Steuerberater- und Rechtsanwalts-GmbH, bei der der Steuerberater angestellt war, ihm vorab gesagt habe, er solle nicht aussagen. Daraufhin unterbrach der Richter die Sitzung, erließ einen auf § 103 StPO gestützten Durchsuchungsbeschluss für die Räume der GmbH und beauftragte Beamte der Steuerfahndung mit dessen Vollzug. Gesucht werden sollte nach Handakten sowie schriftlichen oder elektronischen Aufzeichnungen, soweit sie das Mandatsverhältnis zwischen der GmbH und dem Angeklagten zum Gegenstand hatten. Bei der Durchsuchung wurden Unterlagen sichergestellt. Die GmbH legte gegen die Durchsuchung Beschwerde ein. Diese hatte keinen Erfolg.

Nach Auffassung des LG Nürnberg-Fürth (a.a.O.) haben die Voraussetzungen des § 103 StPO vorgelegen. Eine auf § 103 StPO gestützte Durchsuchung bei einem Dritten dürfe allerdings nicht angeordnet werden, wenn sie nur darauf gerichtet sei, einen Gegenstand zu finden, dessen Beschlagnahme ausgeschlossen sei (BGH, Beschl. v. 13.8.1973 - StB 34/73; KG, Beschl. v. 17.3.1983 - ER 9/83, NJW 1984, 1133). Hier habe sich die Durchsuchung indes auf die im Durchsuchungsbeschluss genannten Gegenstände erstrecken dürfen, weil diese nicht beschlagnahmefrei waren.

Die Beschlagnahmefreiheit ergebe sich, so das LG (a.a.O.), nicht aus § 97 Abs. 1 Nr. 1, 2 i.V.m. § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO, weil der Angeklagte den Steuerberater wirksam von seiner Schweigepflicht entbunden habe (§ 53 Abs. 2 S. 1 StPO, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., 2024, § 97 Rn 24), sodass ihm kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr zugestanden habe. Anders als die Beschwerde meine, folge zu ihren Gunsten nichts daraus, dass der Angeklagte nach dem Wortlaut seiner Erklärung allein den Zeugen von der Schweigepflicht entbunden habe. Es sei mangels aktenkundigen Vertrags nicht abschließend klar, ob der Steuerberatungsvertrag zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen oder – was nahe läge und was die GmbH geltend mache – zwischen dem Angeklagten und ihr abgeschlossen worden sei. Das könne aber dahinstehen. Denn in jedem Fall erstrecke sich das Zeugnisverweigerungsrecht auch auf Personen, die mit dem Berufsgeheimnisträger im Rahmen der gemeinschaftlichen Berufsausübung an dessen beruflicher Tätigkeit mitwirken (§ 53a Abs. 1 Nr. 1 StPO). Im Gegenzug bedeute das aber auch, dass die Entbindung des Berufsgeheimnisträgers von der Schweigepflicht auch für diese weiteren Personen wirke (§ 53a Abs. 2 StPO), denn die Entbindung von der Schweigepflicht sei unteilbar, der Hauptberufsträger und seine mitwirkenden Personen können nur gemeinsam entbunden werden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 53a Rn 14; LR-StPO/Bertheau/Ignor, 27. Aufl. 2023, § 53a Rn 14), wovon auch hier auszugehen sei. Dieses Ergebnis entspreche auch der Auslegung der Entbindungserklärung des Angeklagten: Die Steuerberaterseite sollte nach dessen Willen reden und nicht schweigen.

Der GmbH als solcher, die als juristische Person nicht Zeuge sein könne, habe demgegenüber ein Zeugnisverweigerungsrecht von vornherein nicht zugestanden, sodass sich die Frage nach einer Beschlagnahmefreiheit unter diesem Blickwinkel nicht gestellt habe. Sie habe auch kein vom Willen des Mandanten losgelöstes, eigenes geschütztes Interesse daran gehabt, Umstände und Kenntnisse aus dem Mandatsverhältnis verborgen zu halten. Die Schweigepflicht des Steuerberaters bestehe nämlich zugunsten des Mandanten (aus berufsrechtlicher Sicht StBerG/Koslowski, 8. Aufl. 2022, § 57 Rn 56) und nicht zur Verdeckung etwaiger eigener Fehler oder Versäumnisse bei der Mandatsbearbeitung.

Diese Erwägungen gelten nach Auffassung des LG uneingeschränkt für die Handakte des Steuerberaters. Handakten beinhalten nach § 66 StBerG die Vertrauensbeziehung betreffende Unterlagen, die der Berufsträger von seinem Auftraggeber ausgehändigt bekommen hat, Schriftverkehr, den der Berufsträger für seinen Auftraggeber geführt hat, und Notizen des Berufsträgers über Besprechungen mit seinem Mandanten oder Dritten (vgl. Wulf/Peters Stbg 2022, 16, 25). Dies decke sich weitestgehend mit den in § 97 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO bezeichneten Unterlagen, sodass die Beurteilung der Beschlagnahmefähigkeit von Handakten bei gegebener Schweigepflichtentbindung auch demgemäß erfolgt.

Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung hatte die Kammer nicht. Gegen die Verhältnismäßigkeit spreche insbesondere nicht, dass der Beschluss des AG keinen Hinweis auf eine Abwendungsbefugnis enthalten habe. Grundsätzlich sei nichtverdächtigen Betroffenen zumindest vor der Vollstreckung der Zwangsmaßnahme Gelegenheit zur freiwilligen Herausgabe des sicherzustellenden Gegenstandes zu geben. Diese Abwendungsbefugnis sei regelmäßig in die Anordnungsentscheidung aufzunehmen, sodass dem herausgabewilligen Dritten der Eingriff der Durchsuchung erspart werden könne (BGH, Beschl. v. 6.9.2023 - StB 40/23). Umgekehrt könne die Gewährung einer Abwendungsbefugnis ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen sei, dass der Betroffene zur freiwilligen Mitwirkung nicht bereit sei und Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen seien (BGH, a.a.O.). Davon sei hier auszugehen. Nach Aussage des Zeugen H habe ihm die Geschäftsführerin der GmbH, eine Rechtsanwältin, vorgegeben, er solle bei Gericht nicht aussagen, obwohl die Voraussetzungen für die Auskunftsverweigerung – jedenfalls im beanspruchten Umfang – höchstwahrscheinlich nicht vorlagen (vgl. LG Nürnberg, a.a.O.). Daraus könne auf fehlende freiwillige Kooperation und ggf. auf eine Neigung zur Verdunkelung geschlossen werden.

Hinweis:

Die Entscheidung zeigt noch einmal, dass es gefährlich ist, den Berufsgeheimnisträger von seiner bestehenden Schweigepflicht zu entbinden. Denn dann entfällt der sich aus der Schweigepflicht ergebende Schutz und der Träger der Schweigepflicht muss nicht nur aussagen, sondern es kann bei ihm auch durchsucht und ggf. beschlagnahmt werden. Daher muss man sich als Verteidiger die Antwort auf die Frage, ob entbunden werden soll, sorgfältig überlegen. Im Zweifel wird man nicht entbinden (zur Schweigepflichtentbindung Burhoff, EV, Rn 2313 ff., bzw. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2025, Rn 1780 ff. [im Folgenden kurz Burhoff, HV]); s. im Übrigen auch den nachfolgenden LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.5.2024 – 12 Qs 1/24 zur Art und Weise der hier durchgeführten Durchsuchung).

2. Ingewahrsamnahme eines Zeugen und Telefonsperre

a) Ingewahrsamnahme

Der zweite Beschluss des LG Nürnberg-Fürth (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.5.2024 – 12 Qs 1/24) den ich vorstellen möchte, ist in demselben Verfahren ergangen wie der vorstehend vorgestellte Beschluss. Nach der Aussageverweigerung des Steuerberaters unter Hinweis auf § 55 StPO hatte der Amtsrichter die Hauptverhandlung um 14.45 Uhr unterbrochen und den Erlass des Durchsuchungsbeschlusses für die Räume der Steuerberater- und Rechtsanwalts-GmbH angekündigt. Den Steuerberater forderte er auf, sein Mobiltelefon auszuschalten und es vor sich auf den Tisch zu legen. Anschließend wies der Richter den Steuerberater an, keinen Kontakt zur GmbH aufzunehmen und das Gerichtsgebäude nicht zu verlassen. Die Hauptverhandlung werde fortgesetzt, sobald das Gericht Kenntnis vom Beginn der Durchsuchungsmaßnahme erhalten werde. Der anwesende Staatsanwalt wurde beauftragt, die angeordnete Maßnahme zu überwachen. Sodann erließ der Richter den auf § 103 StPO gestützten Durchsuchungsbeschluss für die Räume der GmbH und beauftragte Beamte der Steuerfahndung mit dessen Vollzug. Diese erreichten die Kanzleiräume um 17.20 Uhr und teilten dies dem AG fernmündlich mit. Der Richter setzte daraufhin die Verhandlung fort und teilte den Verfahrensbeteiligten mit, die Steuerfahndung sei am Kanzleisitz eingetroffen. Der Zeuge wurde ohne weitere Befragung entlassen.

Der Zeuge H legte gegen die ihn betreffenden Maßnahmen Beschwerde ein. Das LG Nürnberg-Fürth (a.a.O.) hat die Beschwerde als unstatthaft zurückgewiesen.

Das LG hat die Beschwerde als unstatthaft angesehen, soweit sie sich gegen die Anordnung gewendet hat, das Gerichtsgebäude nicht zu verlassen. Demgemäß ist sie als unzulässig verworfen worden. Im Übrigen – hinsichtlich des Telefonverbots – ist die zulässige Beschwerde als unbegründet verworfen worden.

Die Unstatthaftigkeit der Beschwerde gegen die Anordnung, das Gerichtsgebäude nicht zu verlassen, hat das LG aus § 305 S. 1 StPO abgeleitet. Die richterliche Anordnung an den Zeugen, das Gerichtsgebäude nicht zu verlassen, formuliere lediglich mit anderen Worten die sich aus § 248 S. 1 StPO ohnehin ergebende Zeugenpflicht. Danach dürfe sich ein vernommener Zeuge nur mit Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Gerichtsstelle entfernen. Die Anwesenheitspflicht des bereits vernommenen Zeugen dauere grundsätzlich über die Vernehmung hinaus an. Er sei zum Verbleib an der Gerichtsstelle verpflichtet, weil es sich im Laufe des Verfahrens als notwendig erweisen könne, ihn nochmals zu befragen (LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 248 Rn 1; KMR-StPO/Hiebl, 88. EL, § 248 Rn 1; vgl. auch RG, Urt. v. 24.9.1912 - V 470/12, RGSt 46, 196, 198). Die Anwesenheitspflicht ende erst mit der Entlassung durch das Gericht. Über sie entscheide der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen (LR-StPO/Becker, a.a.O., Rn 7; SSW-StPO/Franke, 5. Aufl. 2023, § 248 Rn 4). Die Entscheidung, einen Zeugen nicht mehr zu benötigen und ihn somit entlassen zu können, sei urteilsbezogen und werde durch den Richter vor dem Urteilsspruch zumindest implizit erneut geprüft, weil er überlegen müsse, ob er alle notwendigen Umstände festgestellt habe oder ob die Notwendigkeit bestehe, die Beweisaufnahme fortzuführen oder erneut in sie einzutreten.

Die mit dem (kürzeren oder längeren) Verbleib an Gerichtsstelle verbundene Lästigkeit stelle für den Zeugen somit keine selbstständig mit Rechtsmitteln angreifbare Beschwer dar, sondern sei inhärenter Bestandteil der Pflichten, die er aufgrund seiner prozessualen Rolle zu tragen habe. Wolle er sich ohne Genehmigung entfernen, könne er zwangsweise festgehalten werden; § 231 Abs. 1 S. 2 StPO gelte entsprechend (LR-StPO/Bertheau/Ignor, 27. Aufl., § 51 Rn 6; KK-StPO/Bader, 9. Aufl., § 51 Rn 4; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 51 Rn 4). Vor diesem Hintergrund sei eine zur Anfechtung berechtigende Beschwer allenfalls angenommen worden, wenn die Ingewahrsamnahme des Zeugen für die Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Sicherung seiner Anwesenheit im Fortsetzungstermin die Frist des § 128 Abs. 1 S. 1 StPO überstiegen habe (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.5.2003 - 3 Ws 498/03, NStZ-RR 2003, 329), was hier nicht der Fall gewesen sei.

Unschädlich sei weiter, dass der Richter neben dem Zweck der erschöpfenden Befragung des Zeugen in einem Termin auch und möglicherweise sogar vorrangig – wofür das zugleich verhängte Telefonverbot spräche – beabsichtigt habe, durch seine Anordnung die angelaufene Durchsuchung zu sichern. Es komme im Prozessalltag auch sonst vor und werde zu Recht nicht als problematisch gewertet, dass das Gericht eine Zeugenvernehmung für die Durchführung anderer prozessualer Schritte – beispielsweise die Befragung des Angeklagten oder eines anderen Zeugen oder für die Führung eines Rechtsgesprächs – unterbreche und den Zeugen so lange vor dem Sitzungssaal warten lasse, d.h. ihm die Entfernung von der Gerichtsstelle verbiete. Dies anzuordnen, entspringe der Einschätzung und der Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden. Die Annahme eines Rechtsmissbrauchs, weil der Richter vollkommen losgelöst von dem Zweck des § 248 S. 1 StPO agiert hätte, sei nach Lage der Dinge unbegründet. Ein Missbrauch könne insbesondere nicht damit begründet werden, dass der Richter den Zeugen ohne weitere Befragung entlassen habe, nachdem er erfahren habe, dass die Durchsuchung begonnen hatte. Denn damit sei eine neue Prozesslage geschaffen, die eine neue Beurteilung der Frage bedingte, ob das Gericht den Zeugen tatsächlich noch benötigt.

Hinweis:

M.E. ist die Entscheidung in diesem Punkt nicht zutreffend. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der etwas „störrische“ Zeuge abgestraft werden soll. Mir erschließt sich zudem nicht, warum aus § 305 StPO, der Maßnahmen erfasst, die der Fällung des gegen den Angeklagten ergehenden Urteils vorausgehen und insoweit die Beschwerdemöglichkeit ausschließt, sich auf den Zeugen erstrecken soll. Der hat doch mit dem Urteil, das gegen den Angeklagten erlassen wird, nichts zu tun, sondern hat im Verfahren eigene Rechte und Pflichten. Diese müssen geschützt werden, indem man dem Zeugen bei ihn betreffenden Maßnahmen eine eigene Rechtsschutzmöglichkeit einräumt. Sie mit dem Hinweis darauf, dass dem Angeklagten gegen die Maßnahme keine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt sein, weil die Maßnahme der Urteilsfällung vorausgeht, ist m.E. verfehlt. Die Maßnahmen gegen einen Zeugen werden doch auf ein Rechtsmittel des Angeklagten gegen das Urteils nicht, bzw. allenfalls in Ausnahmefällen – ggf. bei unzulässigen Vernehmungsmethoden o.Ä. – überprüft. Würde man dem LG folgen, wäre der Zeuge schutzlos, was wohl nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG zu den Rechtsschutzmöglichkeiten zu vereinbaren ist.

b) Telefonsperre

Demgegenüber beinhaltete nach Auffassung des LG (a.a.O.) die Untersagung, während der Unterbrechung der Hauptverhandlung zu telefonieren, eine gesonderte Beschwer, die bei späterem Urteilserlass nicht nochmals geprüft werden würde, sodass § 305 S. 1 StPO der Statthaftigkeit der Beschwerde (§ 304 Abs. 1, 2 StPO) nicht entgegenstand.

Allerdings war die Beschwerde nach Ansicht des LG (a.a.O.) insoweit unbegründet. Zwar sei entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft § 164 StPO als Rechtsgrundlage für die Maßnahme ihrem Wortlaut nach nicht einschlägig. Die Kammer folge aber der Rechtsansicht, wonach während der Durchsuchung eine Telefonsperre auf der Grundlage einer Annexkompetenz zu § 105 StPO verhängt werden kann, jedenfalls solange nicht ein Telefonat mit dem eigenen Rechtsbeistand unterbunden werde und soweit dies zur Erreichung des Durchsuchungszwecks konkret erforderlich sei (OLG Karlsruhe StraFo 1997, 13, 15; LR-StPO/Tsambikakis, 27. Aufl., § 105 Rn 127; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 105 Rn 13; SSW-StPO/Hadamitzky, a.a.O., § 105 Rn 38; MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn 31 Rengier NStZ 1981, 373, 375; a.A. Burhoff; EV, Rn 2053 ff.; Weisser wistra 2014, 212 ff.). Letzteres sei der Fall. Der Zeuge habe die Auskunft aus rechtsfehlerhaften Erwägungen verweigert, die ihm die Geschäftsführerin seiner Steuerberater- und Rechtsanwalts-GmbH mitgegeben hatte. Damit sei offenkundig, dass die GmbH, die der Angeklagte wirksam von der Schweigepflicht entbunden hatte (vgl. LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.5.2024 - 12 Qs 2/24 [s.o.]), hier unberechtigt „mauerte“, was auch eine zumindest abstrakte Gefährdung des Durchsuchungszwecks beinhaltete. Dass das AG dem entgegenwirken musste, liege – so das LG - auf der Hand.

Hinweis:

M.E. ist die Entscheidung auch in diesem Punkt nicht zutreffend. Würde man dem LG folgen, wäre der Zeuge schutzlos, was wohl nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG zu den Rechtsschutzmöglichkeiten zu vereinbaren ist. Insoweit wird verwiesen auf Burhoff , EV, Rn 2053 ff. betreffend den Beschuldigten. Die dortigen Ausführungen gelten m.E. entsprechend auch für den hier betroffenen Zeugen.

III. Hauptverhandlung

1. Befangene Staatsanwältin

Wer kennt ihn oder sie als Verteidiger nicht: Den „befangenen“ Staatsanwalt bzw. die „befangene“ Staatsanwältin. Damit hatte sich jetzt vor einiger Zeit auch der BGH zu beschäftigen

Dem BGH, Beschl. v. 18.1.2024 (5 StR 473/22, NStZ-RR 2024, 252) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das LG hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, ihn aber vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung der Nebenklägerin freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wurde an allen Hauptverhandlungstagen von derselben Staatsanwältin vertreten. Im Rahmen ihres Schlussvortrags erklärte sie: Sie sei „bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen“. Sie „empfinde“ es als „unerträglich“, wenn sich eine Frau „als Opfer sexualisierter Gewalt im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung kritischen Fragen des Gerichts und der Verteidigung stellen und wegen ihres Aussageverhaltens rechtfertigen müsse“. Im Hauptverhandlungsprotokoll wurde vermerkt: „Sie sei in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt als Feministin und persönlich Betroffene befangen. Das sei unproblematisch, denn sie lege es hier offen. Mehrfach habe sie überlegt, ob sie einen Befangenheitsantrag stelle, davon aber letztlich abgesehen. Das Verhalten der Kammer sei zunächst nicht zu beanstanden gewesen. Im weiteren Verlauf habe die Kammer die Geschädigte aber kritischer betrachtet als manchen Zeugen. Daher möge sich die Kammer des Confirmation Bias ebenso bewusst sein, wie sie ihre Befangenheit offengelegt habe“. Darauf hatte der Angeklagte seine Revision mit der Verfahrensrüge gestützt. Die blieb ohne Erfolg.

Der BGH (a.a.O.) führt aus: Die Verfahrensrüge dringe nicht durch. Dies folge allerdings nicht schon von vornherein daraus, dass die §§ 22 ff. StPO auf Staatsanwälte weder unmittelbar noch analog anwendbar sind. Insofern gilt: Staatsanwälte unterlägen nicht den Vorschriften über die Ausschlie­ßung und Ablehnung von Gerichtspersonen (BVerfGE 25, 336, 345). Eine analoge Anwendung der §§ 22 ff. StPO komme - jedenfalls jenseits des Sonderfalls der Vernehmung des Sitzungsvertreters als Zeuge in der Hauptverhandlung (für eine analoge Anwendung des § 22 Nr. 5 StPO insoweit BGH NStZ 2019, 234 = StRR 2/2019, 10 m. Anm. Burhoff) - nicht in Betracht; sie könne insbesondere nicht den in §§ 141 ff. GVG niedergelegten Rechtssätzen entnommen werden (BGH NJW 1980, 845, 846; NStZ 1991, 595; 2008, 353 f.). Es fehle zudem schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Weder dem Gericht noch einem sonstigen Verfahrensbeteiligten stehe danach das Recht zu, einen Sitzungsvertreter der StA in einem förmlichen innerprozessualen Verfahren wegen Befangenheit abzulehnen. Sie könnten lediglich bei dem Vorgesetzten des Beamten der StA darauf hinwirken, dass dieser ihn auf Grundlage des § 145 GVG durch einen anderen ersetze; wird der Staatsanwalt nicht ersetzt, sei die Hauptverhandlung fortzusetzen

Es liegt auch kein Verfahrensfehler vor, der einen relativen Revisionsgrund nach § 337 StPO begründen könnte. Zwar könne die Besorgnis, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sei befangen, im Einzelfall die Revision des Angeklagten begründen. Indes dürfe zur Beurteilung der Frage, ob einem Staatsanwalt die Mitwirkung an der Hauptverhandlung wegen der Besorgnis der Befangenheit untersagt ist, mit Blick da­rauf, dass das Gericht das Urteil spricht und in der Hauptverhandlung die maßgebliche Rolle einnimmt, hierbei nicht der strenge Maßstab wie bei einem der zur Entscheidung berufenen Richter angelegt werden (BGH NStZ-RR 1996, 201; die Gründe müssten vielmehr ähnlich schwerwiegen wie die Ausschlusstatbestände der §§ 22, 23 StPO. Maßstab für die Beurteilung sei die Rolle der Staatsanwaltschaft als „Wächter der Gesetze“ (BVerfGE 133, 168, 219; BGH NJW 2024, 846, 847) und als ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege (BGHSt 24, 170, 171) sowie der hieraus folgenden Pflicht zur Objektivität, die insbesondere in § 160 Abs. 2 StPO ihren Niederschlag im Gesetz gefunden hat. Verletzt ein Staatsanwalt seine Pflicht zur Objektivität und Wahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens derartig schwer und nachhaltig, dass sich sein Verhalten in der Hauptverhandlung aus Sicht eines verständigen Angeklagten als Missbrauch staatlicher Macht darstellt, so sei dessen Recht auf ein faires und justizförmiges Ver­fahren verletzt (BGH NJW 1980, 845, 846). Das Urteil werde in einem solchen Fall regelmäßig auf der Rechtsverletzung beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO), es sei denn, das erkennende Gericht bringt im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine Kompensation hierfür zum Ausdruck. Dies könne letztlich in der Obliegenheit münden, bei dem Vorgesetzten des Sitzungsvertreters der StA auf dessen Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt hinzuwirken und seine Bemühungen in der Hauptverhand­lung öffentlich zu machen. Fehlt es an einer Reaktion des Gerichts, werde es nur ausnahmsweise auszuschließen sein, dass sich das einem rechtsstaatlichen Verfahren zuwiderlaufende Verhalten des Sitzungsvertreters in dem Urteil zulas­ten des Angeklagten ausgewirkt hat (BGHSt 14, 265, 268 f.; zum Maßstab allgemein BGH NStZ-RR 2022, 52).

Gemessen daran war nach Auffassung des BGH (a.a.O.) das Verfahren vor dem erkennenden Gericht durch das Verhalten der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft (noch) nicht derart bemakelt, dass hierdurch ein revisibler Verfahrensverstoß begründet wäre. Zwar seien die Äußerungen der Sitzungsvertreterin unter mehreren Gesichtspunkten rechtlich bedenklich. Dies gelte zum einen für ihr mit außergewöhn­lich scharfen Worten („unerträglich“) zum Ausdruck gebrachtes Befremden über die „kritische“ Befragung der Geschädigten. Denn dies lasse besorgen, dass sie einem grundlegenden Missverständnis von der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und dem Konfrontationsrecht eines Beschuldigten (Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK) unterlegen sei. Im Sinne der Wahrheitsfindung seien geeignete und zur Sache gehörende Fragen (vgl. § 239 Abs. 2, § 241 Abs. 2 StPO) an Zeugen aber selbst dann zulässig, wenn sie zur Unehre gereichen können oder den persönlichen Lebensbereich betreffen, falls sie zur Aufklärung der Wahrheit unerlässlich sind (vgl. § 68a Abs. 1 StPO). Dass sie lediglich auf ihre staatsanwaltliche Pflicht hinweisen wollte, eine rücksichtsvolle Vernehmung von Verletzten zu gewährleisten (vgl. Nr. 4c,130 Abs. 3 RiStBV), liege fern. Denn die hierfür vorgesehenen Mittel seien nicht zur Wahrheitsfindung erforderliche Fragen des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO zu beanstanden und auf Zurückweisung solcher Fragen durch andere Verfahrensbeteiligte nach § 241 Abs. 2 StPO hinzuwirken (vgl. auch Nr. 127 Abs. 2 RiStBV), nicht pauschale Gerichtsschelte. Zum anderen sei es nicht mit der staatsanwaltlichen Pflicht zur Objektivität in Einklang zu bringen, dass die Staatsanwältin die Sitzungsvertretung wahrgenommen hat, obwohl sie sich in Verfahren wegen des Verdachts von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und gegen die körperliche Integrität von Frauen selbst „als Feministin und persönliche Betroffene“ für „befangen“ hielt. Hält sich ein Staatsanwalt für voreingenommen, habe er die Gründe hierfür seinem Dienstvorgesetzten vor- und um Ersetzung anzutragen. Dadurch werde gewährleistet, dass die im Gesetz angelegte Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft effektiv stattfinden kann. Das Fehlverhalten der Sitzungsvertreterin habe aber noch nicht ein Ausmaß angenommen, das - gemessen an den hierfür geltenden strengen Maßstäben - einen Verfahrensfehler begründen würde. Zum einen habe sie trotz der ihren Schlussvortrag einleitenden Vorbemerkung beantragt, den Angeklagten in mehreren Fällen freizusprechen. Zum anderen ergebe sich aus der dienstlichen Erklärung des Strafkammervorsitzenden, dass ihr Verhalten in der Hauptverhandlung im Übrigen nicht zu beanstanden und die Begründung ihrer Schlussvorträge auf der Grundlage der Beweiserhebung vertretbar und nicht offensichtlich von verfahrensfremden Überlegungen bestimmt gewesen sei.

Hinweis:

Der BGH bestätigt zu den mehr als befremdlichen Äußerungen der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft seine Grundsätze zum „befangenen Staatsanwalt“: Einerseits keine direkte oder analoge Anwendung der § 22 ff StPO und damit des § 338 Nrn. 2 und 3 StPO, andererseits ein möglicher relativer Revisionsgrund wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, der sich auch auf ein mögliches Untätigbleiben des Gerichts in solchen Fällen stützt. Trotz des Fehlverhaltens der Sitzungsvertreterin ist das Ergebnis hier noch nachvollziehbar, da sie hier ihrerseits einen Teilfreispruch wie auch ausgeurteilt beantragt hat und ihre Grundhaltung offenbar nicht in der Beweisaufnahme selbst, sondern erst im Schlussvortrag zutage getreten ist. Verteidiger sollten, wenn ein solches Verhalten schon früher in der Verhandlung geschieht, dies protokollieren lassen und auf ein Tätigwerden des Gerichts drängen. Aber dabei ist Vorsicht geboten: Nicht jeder inhaltlich oder rhetorisch „scharfe“ Staatsanwalt ist „befangen“ und gefährdet damit das faire Verfahren. Erfasst werden nur extreme Verstöße gegen die Neutralitätspflicht des § 160 Abs. 2 StPO (zum „befangenen“ Staatsanwalt auch Burhoff, EV, Rn 111 ff., und Burhoff, HV, Rn 43 ff.).

2. Befangene Schöffin

Die Frage der Besorgnis der Befangenheit (§ 24 StGB) einer Schöffin hat in einem beim LG Dortmund anhängigen Berufungsverfahren eine Rolle gespielt.

Der Angeklagte hat dort eine Schöffin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das ist wie folgt begründet worden: Der Angeklagte und sein Verteidiger hätten beobachten können, wie sich die Schöffin ab 14:00 Uhr bei der Verlesung eines Extraktionsberichtes durch den Vorsitzenden in einem schwarzen DIN-A5-Notizbuch Notizen auf den letzten Seiten gemacht habe. Das sei insoweit auffällig gewesen, als sie sich bisher Notizen zum Verfahren auf einem DIN-A4-Papier gemacht habe. Ein solches DIN-A4-Papier habe sich auch am Sitzungstag auf ihrem Tisch befunden. Die Schöffin habe sich Notizen in dem Buch untereinander gemacht, z.B. wie bei einer Einkaufsliste. Sie habe dabei mindestens drei Seiten benutzt, weil sie mindestens einmal umgeblättert habe und dann auf den Folgeseiten links und rechts Notizen von oben bis unten gefertigt habe. All das habe sie gemacht, während der Vorsitzende die Chats vorgelesen habe. Sie habe daher dem Vorlesen und dem im Zusammenhang verlesenen Chat nicht folgen können. Sodann habe beobachtet werden können, dass sie das Zählen beginne. Sie habe auf der linken und rechten Seite die jeweiligen Aufzeichnungen gezählt. Dies habe sie wiederholt und sich weiterhin Notizen gemacht, die jedoch auch nie im Zusammenhang mit dem Vorgelesenen erfolgten, was deutlich aufgefallen sei. Daher sei offenkundig gewesen, dass sich die Schöffin nicht etwa Notizen des soeben vorgelesenen Chats gemacht habe. Um exakt 14.19 Uhr habe sie ihr Notizbuch geschlossen, weil sie offenkundig mit ihrer privaten Tätigkeit, die nicht im Zusammenhang mit dem Verfahren gestanden habe, fertig gewesen sei. Dies, obwohl der Vorsitzende noch lange nicht fertig gewesen sei, mit dem Verlesen. Auf Nachfrage der Verteidigung habe die Schöffin sodann - was zutreffend ist - bestätigt, dass diese Notizen nichts mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten.

Die Schöffin hat in ihrer dienstlichen Stellungnahme hierzu ausgeführt, dass es stimme, dass sie während der Verhandlung Kritzeleien gemacht habe, die nicht unmittelbar mit dem Verfahren in Verbindung gestanden hätten. Diese hätten jedoch nicht der Ablenkung, sondern vielmehr dazu gedient, ihre Konzentration zu bewahren. Das Kritzeln sei für sie eine bewährte Technik, die sie
regelmäßig nutze - auch während ihres Studiums - um bei längeren Vorträgen konzentriert zu bleiben und nicht gedanklich abzuschweifen. Trotz des Kritzelns habe sie die Verlesung des Chats durch den Vorsitzenden Richter aufmerksam verfolgt.

Das LG Dortmund hat in seinem Beschl. v. 8.11.2024 - 45 Ns 131/22 dem Antrag stattgegeben: Das Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Schöffin sei gerechtfertigt. Maßgebend sei dabei der Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten (vgl. zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 24 Rn 8 u. 8a). Der Vorsitzende habe selbst beim Verlesen des Chats nicht mitbekommen, inwieweit die Schöffin pp. sich Notizen oder Ähnliches gemacht hat. Jedoch habe sich die Tätigkeit der Schöffin nach dem letztlich unbestritten gebliebenen Vortrag der Verteidigung über einen Zeitraum von 19 Minuten hingezogen und die Schöffin habe erkennbar dabei zwischendurch auch Punkte ihrer Notizen abgezählt. Das lasse es aus der Sicht eines verständigen Angeklagten in der Tat nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass die Schöffin über einen nicht nur kurzen Zeitraum der Beweisaufnahme mit verfahrensfremden Angelegenheiten beschäftigt war, zumal sie auf anschließende Nachfrage des Verteidigers, ob die Notizen etwas mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten, auch umgehend mit „Nein“ geantwortet habe. In Anbetracht der Länge des Vorgangs lasse das für einen verständigen Betrachter auch durchaus den Eindruck der Befangenheit zu. Hieran ändere in Anbetracht der dezidierten Ablaufschilderung in dem Befangenheitsantrag sodann auch die dienstliche Erklärung der Schöffin, dass diese Kritzeleien letztlich nur ihrer Konzentrationshilfe gedient hätten, nichts mehr.

Hinweis:

Für die Ablehnung von Schöffen gelten grds. dieselben Regeln wie für die Ablehnung von Berufsrichtern (zur Ablehnung von Schöffen Burhoff, HV, Rn 188 ff.). Insbesondere bei Schöffen muss der Verteidiger darauf achten, ob diese dem Verlauf der Hauptverhandlung/Beweisaufnahme aufmerksam folgen oder mit privaten Dingen befasst und deshalb abgelenkt sein könnten.

Auch die Frage von ggf. unsachlichen Bemerkungen eines Schöffen gegenüber dem Angeklagten spielt in der Praxis eine Rolle. Dazu ist u.a. hinzuweisen auf BGH, Urt. v. 30.10.1990 (5 StR 447/90, NStZ 1991, 144), wo der Schöffe gegenüber dem Angeklagten geäußert hatte: „Das sieht man ja, dass Sie mit Drogen zu tun haben“, oder auf den BGH, Beschl. v. 6.3.2018 (3 StR 559/17, NJW 2018, 2578), wo der Schöffe während der Einlassung des Angeklagten erklärt, ob er tatsächlich den „Quatsch“ glaube, den er „hier erzähle“ und schließlich auf OLG Hamm, JMBl NW 1968, 68, wo der Schöffe auf eine Frage des Vorsitzenden an den Angeklagten, ob er nicht damit habe rechnen müssen, dass das Kind auf die Straße laufe, erklärt hat: „Eigentlich müsste er es“.

3. Beteiligung der Nebenklage am Selbstleseverfahren

Das sog. Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) spielt in der Praxis eine große Rolle (zum Selbstleseverfahren Burhoff, HV, Rn 3284). Der BGH hat dazu jetzt im Hinblick auf die ggf. erforderliche Beteiligung der Nebenklage Stellung genommen (BGH, Urt. v. 27.3.2024 – 2 StR 382/23). Diese war in einem Verfahren wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung nicht am vom Vorsitzenden angeordneten Selbstleseverfahren beteiligt worden. Die darauf gestützte Revision des Angeklagten blieb erfolglos.

Nach Auffassung des BGH sei die Nebenklage zwar nach § 249 Abs. 2 S. 1 StPO am Selbstleseverfahren zu beteiligen, da es sich beim Nebenkläger um eine Person handele, die sich mit Anträgen und Erklärungen am Verfahren beteiligen könne. Der Angeklagte könne seine Revision aber nicht darauf stützen, die Nebenklägerin sei entgegen § 249 Abs. 2 S.1 StPO nicht am Selbstleseverfahren beteiligt oder ihr keine Gelegenheit zur Kenntnisnahme der ins Selbstleseverfahren gegebenen Unterlagen gegeben worden. Die Nebenklage sei deswegen am Selbstleseverfahren „Beteiligte“ i.S. des § 249 Abs. 2 S. 1 StPO, damit sie ihre Rechte wahrnehmen könne. Bleibe dies der Nebenklage verwehrt, sei der Rechtskreis des Angeklagten und seiner Verteidigung insoweit in keiner Weise berührt (zur „Rechtskreistheorie“ schon BGHSt 11, 213, 214 ff). Es obliege vielmehr allein der Nebenklage, eine Verletzung ihrer Rechte bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens geltend zu machen.

Es stehe der Einführung einer Urkunde im Wege des Selbstleseverfahrens auch nicht grundsätzlich entgegen, dass die Nebenklage am Selbstleseverfahren nicht beteiligt werde. Dass sie „übrige Beteiligte“ i.S. des § 249 Abs. 2 S. 1 StPO sei und in der Hauptverhandlung ganz oder teilweise anwesend war, bedeute nicht, dass ein Selbstleseverfahren ohne ihre Beteiligung nicht durchgeführt werden könnte. Die Nebenklage rechne schon nicht zu den Verfahrensbeteiligten, denen ein Widerspruchsrecht gegen die Selbstleseanordnung nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO zuerkannt sei. Hieraus folge, dass ihr fehlendes Einverständnis der Durchführung eines Selbstleseverfahrens nicht entgegenstehen könne, damit - erst recht - nicht ihre Abwesenheit oder ihr fehlendes Interesse an der Beweiserhebung im Wege des Selbstleseverfahrens. Selbst wenn die Ne­benklage in der Hauptverhandlung anwesend ist, sich gegen das Selbstleseverfahren ausspricht oder sich hieran nicht beteiligen will, stehe dies der Beweiserhebung in dieser Form grundsätzlich nicht entgegen. Wollte man die Durchführung des Selbstleseverfahrens von der Beteiligung der Nebenklage abhängig machen, setze man sich überdies in Widerspruch dazu, dass die Abwesenheit der Nebenklage - auch die ungewollte Abwesenheit wegen Verhinderung - bei Verlesung der Urkunden und Schriftstücke (§ 249 Abs. 1 StPO) in der Hauptverhandlung unschädlich wäre. Der Gesetzgeber habe das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO aber nicht als Ausnahme vom Grundsatz des Verlesens nach § 249 Abs. 1 StPO konzipiert, sondern als sachlich gleichwertige Alternative (BGHSt 65, 155 = StRR 7/2021, 14 m. Anm. Deutscher).

Hinweis:

Der BGH führt in dem zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen Urteil eingehend aus, dass aus Rechtsstellung der Nebenklage folgt, dass die Nebenklage nicht zwingend am Selbstleseverfahren zu beteiligen ist und deren Verzicht auf diese Beteiligung folgerichtig und offensichtlich nicht protokolliert werden muss. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Ausführungen des BGH im Hinblick auf das Selbstleseverfahren sind aber auch im Übrigen lesenswert.

IV. Entschädigung für längere Sicherstellung eines Mobiltelefons

In der heutigen Zeit gehört die grundsätzlich mögliche jederzeitige Nutzungsmöglichkeit von internetfähigen Geräten zum alltäglichen Leben. Ist die eingeschränkt, z.B. weil ein Gerät sichergestellt ist und daher für den Betroffenen nicht zur Nutzung steht, stellt sich, wenn die Sicherstellung nachträglich als rechtswidrig angesehen wird, u.a. die Frage, ob die entgangene Nutzungsmöglichkeit zu entschädigen ist. Damit befasst sich eine Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden (GStA Dresden, Entscheidung v. 31.7.2024 - 12 StEs 84/23).

In dem zugrunde liegenden Verfahren war gegen den Antragsteller wegen des Verdachts des Missbrauchs von Ausweispapieren durch Beschluss des AG die Durchsuchung der Wohnung mit Nebenräumen des Antragstellers angeordnet worden. Bei der daraufhin am 10.11.2021 erfolgten Durchsuchung wurde u.a. ein IPhone inklusive Ladekabel sichergestellt. Die Rückgabe an den Antragsteller erfolgte am 24.1.2023.

Der Antragsteller machte nun Ansprüche nach dem StrEG geltend. Das Ermittlungsverfahren war mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.12.2022 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Durch Beschluss des AG vom 22.2.2023 wurde festgestellt, dass der Antragsteller für den durch die Strafverfolgungsmaßnahme der am 10.11.2021 erfolgten Durchsuchung seiner Wohnung und die am 10.11.2021 erfolgte und bis zum 20.12.2022 andauernde Beschlagnahme, erlittenen Schaden dem Grunde nach aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Die StrEG-Grundentscheidung ist seit 14.3.2023 rechtskräftig. Die Belehrung gemäß § 10 Abs. 1 StrEG vom 12.5.2023 wurde dem Antragsteller am 22.5.2023 zugestellt. Der Antragsteller hat die Erstattung der Kosten für den Nutzungsausfall aufgrund des beschlagnahmten Mobiltelefons in Höhe von 3.797,31 EUR sowie Rechtsanwaltskosten im Ermittlungsverfahren in Höhe von 453,87 EUR beantragt. Diese Kosten sind (nur) teilweise festgesetzt worden.

1. Nutzungsausfall für das sichergestellte Mobiltelefon

Nach der den Umfang des Entschädigungsanspruchs regelnden Vorschrift des § 7 StrEG sei jeder durch die Strafverfolgungsmaßnahme in zurechenbarer Weise verursachte Vermögensschaden zu ersetzen. Der Begriff und Umfang des Vermögensschadens sei nach den §§ 249 ff. BGB zu bestimmen, soweit sich aus dem Sinn des StrEG nicht ausdrücklich Abweichungen ergeben (Meyer, StrEG-Kommentar, 11. Aufl. 2020, § 7 Rn 5, 11). Demnach sei ein Vermögensschaden jede in Geld bewertbare Einbuße, die der Berechtigte an seinem Vermögen oder an seinen sonstigen rechtlich geschützten Gütern erleidet und ihm hierdurch tatsächliche wirtschaftliche Nachteile entstanden sind (BGHZ 65, 170, 172). Den Eintritt des Schadens sowie sämtliche Tatsachen, die die haftungsausfüllende Kausalität begründen, habe der Berechtigte darzulegen und nachzuweisen. Insoweit gelten die Darlegungs- und Beweispflichten des Zivil- und Zivilverfahrensrechts (Meyer, a.a.O., § 7 Rn 55, 57; BGHZ 103, 113).

Der Antragsteller mache, so die GStA (a.a.O.) eine Entschädigung für die Beschlagnahme des Mobiltelefons IPhone 7 im Umfang von 407 Tagen x 9,33 EUR, mithin in Höhe von 3.797,31 EUR geltend. Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung sei eine Orientierung am marktüblichen Mietpreis vergleichbarer Geräte geboten. Entgangene Nutzungsmöglichkeiten seien nach dem StrEG grundsätzlich erstattungsfähig, wenn der Betroffene auf die Nutzung des Gegenstandes für die eigene Lebensführung in dem Sinne angewiesen sei, dass die ständige Verfügbarkeit des Gegenstandes erforderlich ist. Nach den heutigen Lebensumständen zählen insbesondere Tablets/Computer bzw. internetfähige Mobiltelefone zu den Gegenständen, auf die der Betroffene für die eigenwirtschaftliche Nutzung typischerweise angewiesen ist (Meyer, a.a.O., § 7 Rn. 30). Das sei demnach bei dem im Ermittlungsverfahren beschlagnahmten Mobiltelefon IPhone 7 der Fall. Nach den heutigen Lebensumständen sei die Nutzung eines internet-fähigen Smartphones wesentlicher Bestandteil der eigenwirtschaftlichen Lebenshaltung. Zudem sei der Ermittlungsakte nicht zu entnehmen, dass dem Antragsteller im entschädigungspflichtigen Zeitraum ein internetfähiges Zweitgerät zur Verfügung gestanden habe. Der Entschädigungsanspruch sei daher grundsätzlich gegeben.

Den vom Antragsteller zugrunde gelegten Sicherstellungszeitraum hat die GStA jedoch nicht vollumfänglich anerkannt. Ausweislich der Akten sei die Beschlagnahme des Mobiltelefons am 10.11.2021 und die Rückgabe am 20.12.2022 erfolgt. Der laut der StrEG-Grundentscheidung des AG vom 22.2.2022 festgelegte Beschlagnahmezeitraum umfasse den Zeitraum vom 10.11.2021 bis 20.12.2022, mithin 406 Tage. Hinsichtlich der Höhe der vom Antragsteller angenommenen Entschädigungspauschale von 9,33 EUR/Tag sei nach einem Urteil des LG Stuttgarts vom 26.5.2009 (Landgericht Stuttgart, Beschl. v. 26.5.2009 - 15 0 306/08, NStZ-RR 2010, 128 [Ls.]) ein Abschlag, für den im Mietpreis enthaltenen - nicht erstattungsfähigen - Gewinn der Vermieter in Ansatz zu bringen. Mangels vorliegender Zahlen zu den konkreten Gewinnspannen der Vermieter, erscheine ein Abschlag von fast 20 % auf 7,00 EUR/Tag als angemessen. Der Antragsteller ist demnach nur wie folgt zu entschädigen: 406 Tage x 7,00 EUR/Tag = 2.842,00 EUR. Darüber hinaus ist der Anspruch zurückgewiesen worden.

2. Rechtsanwaltskosten im Entschädigungsverfahren

Die Erstattung von Kosten für die anwaltliche Inanspruchnahme im Entschädigungsverfahren in Höhe von 453,87 EUR hat die GStA abgelehnt. Soweit sich der Antragsteller im Entschädigungsverfahren der Hilfe eines Rechtsanwaltes bediene, seien die Kosten hierfür Teil des angemeldeten Schadens, sofern die anwaltliche Inanspruchnahme notwendig sei (Meyer, a.a.O., § 7 Rn 17). Die Ersatzfähigkeit sei vorliegend nicht gegeben, da es dem Antragsteller objektiv ohne weiteres zumutbar gewesen sei, die beantragte Entschädigung ohne anwaltliche Hilfe selbst einzufordern. Der Antrag betreffe lediglich eine Schadensposition, nämlich den zu behandelten Nutzungsausfall zu einem elektronischen Gerät, hier Mobiltelefon. Der zugrunde zu legende Zeitraum hinsichtlich der Dauer des Nutzungsausfalls könne der StrEG-Grundentscheidung des AG vom 22.2.2023 entnommen werden. Eine Recherche zu den aktuellen Mietpreisen eines IPhone 7 sei ebenfalls zumutbar, bedürfe jedenfalls nicht der Hilfe eines Rechtsanwalts. Zwar sei dem Berechtigten im Zusammenhang mit der Wohnungsdurchsuchung ein Dolmetscher für die arabische Sprache zur Seite gestellt worden, sodass anzunehmen sei, dass der Antragsteller der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht ausreichend mächtig sei. Indes habe unter Hinweis auf die nachfolgenden Ausführungen gleichwohl keine Notwendigkeit, einen Rechtsanwalt mit der Durchsetzung der Ansprüche zu beauftragen, bestanden, wenngleich seinerzeit die StrEG-Grundentscheidung nicht übersetzt worden ist.

Die Notwendigkeit zur Beauftragung des Bevollmächtigten des Antragstellers ergab sich für die GStA auch nicht daraus, dass der Antragsteller der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht ausreichend mächtig war. Den Anforderungen des § 187 Abs. 2 GVG und dem Gebot des fairen Verfahrens werde bei einem verteidigten Angeklagten, der der deutschen Sprache nicht mächtig sei, regelmäßig dadurch genügt, dass ihm die mündliche Urteilsbegründung durch einen Dolmetscher übersetzt werde und er die Möglichkeit habe, das abgesetzte schriftliche Urteil zusammen mit seinem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen und sich in diesem Zusammenhang auch das Urteil zumindest auszugsweise übersetzen zu lassen. Einer schriftlichen Übersetzung des vollständigen Urteils bedürfe es dann nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 11.3.2014 - 2 Ws 40/14). Nichts Anderes kann nach Auffassung der GStA dann gelten, wenn - wie vorliegend - das Ermittlungsverfahren eingestellt worden ist. Denn mit Bekanntgabe des Beschlusses des AG vom 22.2.2023 an den Verteidiger, wäre es dem Antragsteller objektiv möglich gewesen, die StrEG-Grundentscheidung zusammen mit einem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen und sich in diesem Zusammenhang auch zumindest auszugsweise übersetzen zu lassen. Weiterhin hätte der Antragsteller den einfach gelagerten Entschädigungsantrag auch in seiner Muttersprache stellen können. Die Übersetzung des Antrages wäre sodann von der Staatsanwaltschaft oder der entscheidenden Justizverwaltungsbehörde veranlasst worden. Die Hinzuziehung des Rechtsanwalt durch den Antragsteller sei daher nicht notwendig gewesen. Mit der anwaltlichen Beauftragung habe der Antragsteller somit gegen seine auch im StrEG ausnahmslos geltende Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB; Meyer, a.a.O., § 7 Rn 51; BGH VersR 1975, 257, 258) verstoßen, indem er sich für einen einfach gelagerten Antrag der Hilfe eines Rechtsanwalts bedient habe.

Hinweis:

Zu folgen ist der GStA, soweit grundsätzlich Nutzungsausfall für die Beschlagnahme/Sicherstellung des Mobiltelefons gewährt wird. Internetfähige Geräte, wie z.B. ein Smartphone, gehören heute sicherlich zu den Gegenständen des alltäglichen Lebens, bei denen die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeit einen ersatzfähigen Schaden gehören. Allerdings habe ich Bedenken, wenn sich die GStA auf eine LG-Entscheidung aus dem Jahr 2009, die also 15 Jahre alt ist, bezieht und den im Hinblick auf die „Vermieterspanne“ erforderlichen Abschlag mal eben auf 20 % schätzt. Ich habe erhebliche Zweifel, ob die Spanne tatsächlich so hoch ist. M.E. hätte die GStA hier bei „Vermietern“ nachfragen müssen, wenn es denn überhaupt „Vermieter“ von Mobiltelefonen gibt (vgl. zu allem auch OLG München StRR 2010, 425 m. Anm. Burhoff und Burhoff, HV, Rn. 1055).

Ganz erhebliche Bedenken habe ich gegen die Ablehnung der Erstattung der Rechtsanwaltskosten. Dazu muss man festhalten: Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen der deutschen Sprache nicht mächtigen arabisch sprechenden – Ausländer. Von dem verlangt die GStA, dass er seine Entschädigungsansprüche ggf. selbst oder (nur) unter Zuhilfenahme eines Dolmetsches geltend macht. Der nicht der deutschen Sprache mächtigen Ausländer soll sich also allein auf dem Gebiet der strafverfahrensrechtlichen Entschädigung bewegen, einem Gebiet, mit dem sich ggf. selbst Rechtsanwälte schwer tun. Auch greift der Hinweis auf die Entscheidung des OLG Hamm, Beschl. v. 11.3.2014 (2 Ws 40/14) zu kurz. Denn die Frage, ob und welche Aktenbestandteile dem Beschuldigten übersetzt werden müssen, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (wegen der Einzelheiten Burhoff. EV, Rn 4616 m.w.N.). Die GStA hätte sich mit den abweichenden Auffassungen auseinandersetzen müssen. Sie macht es sich zu einfach, wenn sie sie noch nicht einmal erwähnt. Schließlich verfängt der Einwand der GStA, der Antragsteller hätte den Antrag auch in seiner Muttersprache stellen können, m.E. nicht. Gerichtssprache ist nun mal nach § 184 GVG deutsch.

V. Verfahrensrechtliche Auswirkungen der Cannabis-Legalisierung

Ende März sind die neuen gesetzlichen Regelungen im Zuge des Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis im BGBl veröffentlicht worden (BGBl I, Nr 109). Darunter befindet sich auch das Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (Konsumcannabisgesetz – KCanG) v. 27.3.2024, das am 1.4.2024 in Kraft getreten ist. Diese Teillegalisierung des Besitzes und Anbaus von Cannabis hat bei der Strafjustiz, da Übergangsfristen fehlen, zu erheblicher Mehrarbeit geführt. Das zeigt auch die doch schon recht große Anzahl von Entscheidungen, die sich mit den durch die Neuregelung aufgekommenen Fragen befassen. So sind z. B. auch auf der Homepage des BGH derzeit viele Entscheidungen zu finden, die wegen der Neuregelung in der Sache an sich rechtlich zutreffende Entscheidungen der LG in BtM-Verfahren abändern und/oder teilweise aufheben und zurückverweisen müssen.

Der nachfolgende Überblick enthält die erste Rechtsprechung zum KCanG, die auf die Verteidigungspraxis erheblich Auswirkungen haben kann, vor. Die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Strafverfahren

a) Auswirkungen in der Tatsacheninstanz
aa) Schuldspruch in der Tatsacheninstanz

Die Frage, ob beim strafbaren Besitz von Cannabis zur Klarstellung Zusätze im Schuldspruch erforderlich sind ist oder nicht, ist in der Rechtsprechung des BGH nicht eindeutig geklärt: Der 1. und der 4. Strafsenat haben hinsichtlich des Besitzes sowie des Anbaus von mehr als drei Cannabispflanzen gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c bzw. Nr. 2 Buchst. a KCanG den Zusatz „verboten“ verwendet (BGH, Beschl. v. 18. April 2024 – 1 StR 106/24; Beschl. v. 24.4.2024 – 4 StR 50/24). Der 2. und der 5. Strafsenat halten einen Zusatz im Urteilstenor für entbehrlich (BGH, Beschl. v. 7.5.2024 – 2 StR 98/24; Beschl. v. 23.4.2024 – 5 StR 153/24): Der 6. Strafsenat sieht hingegen den Zusatz „unerlaubt“ als erforderlich an (BGH, Beschl. v. 30.4.2023 – 6 StR 536/23; Beschl. v.16.5.2024 – 6 StR 179/24).

bb) Strafzumessung

Bei der konkreten Strafzumessung darf die Gesamtmenge des besessenen Cannabis (und dementsprechend auch nicht die Gesamtwirkstoffmenge) ohne Abzug der zum Eigenkonsum erlaubten Menge nicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.2024 - 1 StR 105/24; OLG Hamm, Beschl. v. 22.8.2024 – III-3 ORs 49/24). Die in § 34 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 12 KCanG genannten Freigrenzen sind daher innerhalb der Straftatbestände des Besitzes, Anbaus und Erwerbs von Cannabis bei der Bemessung der Strafe zu berücksichtigen (zur Verwertbarkeit von im BZR eingetragenen Verurteilungen bei der Strafzumessung, die ab 1.4.2024 nach § 3 Abs. 1, § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 12 KCanG straflose und auch nicht nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG bußgeldbewehrte Handlungen betreffen und die weder getilgt noch tilgungsfähig sind (BayObLG, Beschl. v. 27.6.2024 - 4 StRR 205/24).

cc) Einziehung

Der 2. Strafsenat des BGH hat dem großen Senat für Strafsachen inzwischen gemäß § 132 Abs. 4 GVG u.a. die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob bei einer auf § 37 KCanG gestützten Einziehung eine dem Eigenkonsum dienende und die Grenzen des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 KCanG oder des § 34 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) und Buchstabe b) KCanG nicht übersteigende Cannabismenge stets ausgenommen werden muss (BGH, Beschl. v. 1.8.2024 – 2 StR 107/24; siehe dazu auch einerseits BGH, Beschl. v. 13.6.2024 – 1 StR 205/24; und andererseits BGH, Beschl. v. 6.5.2024 – 5 StR 550/23; ähnlich auch Beschl. v. 5.4.2024 – 5 StR 631/23; auch noch OLG Hamm, Beschl. v. 22.8.2024 – III-3 ORs 49/24; AG Bautzen, Beschl. v. 27.5.2024 – 47 Gs 409/24 zur Beschlagnahme und AG Westerstede, Urt. v. 2.4.2024 - 42 Ls 209/23 zur Einziehung).

Hinweis:

Dem Großen Senat vorgelegt worden ist außerdem die Frage: Kommt es für die Beurteilung der Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) und b) KCanG in Fällen, in denen vorrätig gehaltenes Cannabis sowohl zum Handeltreiben als auch für den Eigenkonsum bestimmt ist, auf die Gesamtmenge an, oder ist die dem Eigenkonsum dienende Teilmenge gesondert zu betrachten? (BGH, Beschl. v. 1.8.2024 – 2 StR 107/24).

Die Entscheidung über die Anordnung der Einziehung von Konsumcannabis steht nach § 37 S. 1 KCanG im Ermessen des Gerichts. Im Urteil bedarf es mit Blick auf die Regelung von § 3 KCanG Ausführungen des Tatrichters zur Ermessensausübung bei der Einziehung von sichergestelltem Konsumcannabis (BayObLG, Beschl. v. 8.4.2024 -203 StRR 39/24).

b) Auswirkungen im Berufungsverfahren

Die Beschränkung eines Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch kann dann keinen Bestand haben, wenn es sich bei dem angewendeten Gesetz um eine - wie seit Inkrafttreten des CanG für Delikte mit Cannabis - nicht mehr geltende Strafvorschrift handelt. Das Revisionsgericht trifft gemäß § 2 Abs. 3 StGB, § 354a StPO die Verpflichtung und Befugnis, bei seiner Prüfung das erst im Laufe des Revisionsverfahrens in Kraft getretene (mildere) Recht anzuwenden. Dies führt dazu, dass die eingetretene Rechtskraft des Schuldspruchs zu durchbrechen ist (BayObLG, Beschl. v. 12.4.2024 – 206 StRR 122/24; a.A. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 15.5.2024 – 2 ORs 370 SRs 247/24; s.a. noch KG, Beschl. v. 17.5.2024 - 3 ORs 32/24).

c) Auswirkungen im Revisionsverfahren
aa) Milderes Gesetz

Beim KCanG handelt es sich im Vergleich zum BtMG bei der nach § 2 Abs. 3 StGB gebotenen konkreten Betrachtung um das mildere Gesetz (u.a. BGH, Beschl. v. 24.4.2024 – 5 StR 4/24; KG, Beschl. v. 17.5.2024 - 3 ORs 32/24). Auch wenn das festgestellte Tatgeschehen nunmehr ggf. nach § 34 Abs. 3 KCanG zu würdigen ist, erweist sich das KCanG als das im Vergleich zu § 29a Abs. 1 BtMG mildere Gesetz (BGH, Beschl. v. 24.4.2024 – 4 StR 50/24; Beschl. v. 11.6.2024 – 6 StR 257/24; BayObLG, Beschl. v. 17.7.2024 - 204 StRR 215/24).

Hängt die Beurteilung des im Einzelfall milderen Rechts davon ab, ob die Möglichkeit einer Strafrahmenverschiebung genutzt wird, etwa weil ein gesetzlich geregelter besonders oder minder schwerer Fall angenommen wird, obliegt die Bewertung grundsätzlich dem Tatgericht. Dies gilt, sofern eine abweichende Würdigung nicht sicher auszuschließen ist (BGH, Beschl. v. 11.6.2024 – 3 StR 159/24; Beschl. v. 29.4.2024 – 6 StR 102/24; Beschl. v. 30.4.2024 – 6 StR 536/23; Beschl. v. 28.5.2024 – 3 StR 154/24).

bb) Neufassung des Schuldspruchs

Da durch die Neuregelung Cannabis nicht mehr dem BtMG unterfällt, gelten die §§ 29 ff. BtMG für cannabisbezogene Handlungen nicht mehr, auf sie ist ggf. § 34 KCanG anzuwenden. Das bedeutet, dass, wenn eine Verurteilung nach dem BtMG auch oder ausschließlich wegen des Umgangs mit Cannabis ergangen ist und das Tatgeschehen auch nach § 34 KCanG noch als strafbar anzusehen, dies in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO regelmäßig zur Neufassung des Schuldspruchs durch das Revisionsgericht führt (BGH, Beschl. v. 23.4.2024 – 5 StR 153/24: Beschl. v. 29.4.2024 – 6 StR 117/24; Beschl. v. 7.5.2024 – 5 StR 30/24; Beschl. v. 28.5.2024 – 6 StR 52/24; KG, Beschl. v. 17.5.2024 - 3 ORs 32/24; BayObLG, Beschl. v. 17.7.2024 - 204 StRR 215/24).

Zu einer Änderung des Schuldspruchs kann es auch dann kommen, wenn das Rechtsmittel auf den Strafausspruch beschränkt wurde oder dieser aus anderen Gründen bereits in Rechtskraft erwachsen ist (BGH, Beschl. v. 23.4.2024 – 5 StR 153/24: Beschl. v. 29.4.2024 – 6 StR 117/24; KG, Beschl. v. 17.5.2024 - 3 ORs 32/24). Etwas anderes gilt bei einer Beschränkung des Rechtsmittels auf die Gesamtstrafenbildung (BGH, Urt. v. 23.5.2024 – 5 StR 53/24).

cc) Strafausspruch

Infolge der gegenüber dem früheren Recht niedrigeren Strafandrohung kann der Strafausspruch regelmäßig keinen Bestand haben (BGH, Beschl. v. 14.5.2024 – 1 StR 154/24; Beschl. v. 15.5.2024 – 2 StR 458/23; Beschl. v. 23.4.2024 – 5 StR 153/24; Beschl. v. 30.4.2024 – 6 StR 536/23). Das gilt auch für eine Jugendstrafe (BGH, Beschl. v. 28.5.2024 – 6 StR 142/24).

dd) Wirkungen des Straferlasses

Die Rechtswirkungen des Straferlasses nach Art. 313 Abs. 1 EGStGB i.V.m. Art. 316p EGStGB treten unmittelbar kraft Gesetzes ein. Das Revisionsgericht hat diesen rückwirkenden Straferlass gemäß § 354a StPO i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB auf die Sachrüge hin zu beachten. Eine gebildete Gesamtstrafe ist auf der Grundlage der gesamten Feststellungen des angefochtenen Urteils darauf zu überprüfen, ob einer einbezogenen Strafe ein nach § 3 Abs. 1 KCanG nunmehr strafloser Besitz von Cannabis zugrunde liegt. Ist ein sicherer Rückschluss auf einen Besitz zum Eigenkonsum möglich und liegen alle sonstigen Voraussetzungen einer Straflosigkeit vor, hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung den rückwirkenden Straferlass zugrunde zu legen (OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.2024 – 1 ORs 24 SRs 167/24).

d) „Amnestieregelung“
aa) Neufestsetzung von Strafen

Die Feststellung, ob eine Tat im Sinne des Art. 313 Abs. 1 Satz 1 EGStGB nicht mehr strafbar ist, ist allein anhand der Urteilsfeststellungen zu treffen (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 9.9.2024 – 1 Ws 92/24).

Bei einer Gesamtstrafenbildung nach Inkrafttreten des KCanG sind Einzelstrafen wegen Taten, die nach neuem Recht weder strafbar noch mit Geldbuße bedroht sind, nicht einzubeziehen, da sie gem. Art. 313 Abs. 1 S. 1 EGStGB als erlassen gelten (OLG Celle, Beschl. v. 27.5.2024 – 1 ORs 13/24). Art. 316p i.V.m. Art. 313 Abs. 4 EGStGB ist entsprechend anzuwenden, wenn eine Gesamtstrafe eine Einzelstrafe enthält, die nach Art. 316p i.V.m. Art. 313 Abs. 3 EGStGB neu festgesetzt oder ermäßigt wurde. Art. 316p i.V.m. Art. 313 EGStGB eröffnet demgegenüber nicht die Möglichkeit, auch nicht in entsprechender Anwendung, Strafen für solche Taten zu ermäßigen oder neu festzusetzen, die nach dem BtMG verhängt wurden, wenn die Taten nach Inkrafttreten des KCanG weiterhin strafbar sind und das KCanG für sie lediglich geringere Strafrahmen vorsieht als das BtMG (LG Karlsruhe, Beschl. v. 15.5.2024 - 20 StVK 228/24).

Die Neufestsetzung einer Jugendstrafe ist nach Art. 316p, 313 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 EGStGB entbehrlich, sofern die bereits festgesetzte Jugendstrafe nicht mehr eigenständig bestehen bleibt, weil gemäß § 31 Abs. 2 S. 1 JGG unter Einbeziehung des Urteils auf eine neue Jugendstrafe erkannt wird (BGH, Beschl. v. 14.5.2024 – 3 StR 147/24). Ist angesichts lediglich geringer Mengen von Cannabis und des Tatunrechts einer Vielzahl an übrigen Taten keine relevante Auswirkung auf das Strafmaß gegeben, ist von einer Ermäßigung einer Einheitsjugendstrafe nach dem Inkrafttreten des KCanG abzusehen (AG Heinsberg, Beschl. v. 26.4.2024 – 42 VRjs 79/23). Steht nach den Urteilsfeststellungen die fehlende Strafbarkeit einer einer Einheitsjugendstrafe zugrundeliegenden Tat nach neuem Recht nicht fest, ist eine Neufestsetzung der Einheitsjugendstrafe nach Art. 313 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Art. 313 Abs. 4 Satz 1 EGStGB, § 66 JGG nicht veranlasst (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 9.9.2024 – 1 Ws 92/24).

Im Cannabisgesetz ist gemäß Art. 316p, Art. 313 EGStGB eine Amnestieregelung, die über den Erlass von nicht vollstreckten Strafen für nach neuem Recht nicht mehr strafbares Verhalten hinausreicht, nicht vorgesehen. Insoweit kommt auch eine Neubewertung bereits rechtskräftig verhängter Strafen wegen nach neuem Recht ebenfalls strafbarer Tathandlungen nicht in Betracht (OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.5.2024 – 2 Ws 54/24 (S)).

Die Möglichkeit einer Strafermäßigung nach Art. 316p i. V. m. Art. 313 EGStGB ist auch in den Fällen zu bejahen, in denen neben Cannabis gleichzeitig noch andere Betäubungsmittel unerlaubt besessen wurden (LG Magdeburg, Beschl. v. 18.6.2024 - 29 Qs 262 Js 1/24 (34/24)). Art. 313 Abs. 3 EGStGB erfasst nicht sog. „BtM-Mischfälle", in denen neben Cannabis auch andere Betäubungsmittel besessen wurden (OLG Jena, Beschl. v. 25.6.2024 – 1 Ws 204/24; AG Köln, Beschl. v. 16.5.2024 – 583 Ds 135/22). Allein der Umstand, dass das Handeltreiben mit Marihuana in nicht geringer Menge nach § 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 4 KCanG im Vergleich zu § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG mit einer geringeren Strafe bedroht ist, führt nicht zu einer nachträglichen Strafmilderung nach Art. 316p, 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB (OLG Hamm, Beschl. v. 20.8.2024 – 5 Ws 230/24). Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB liegen nicht vor (OLG Hamm, a.a.O.).

Für die Neufestsetzung einer Strafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 3 S. 2 EGStGB sowie für die Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 4 S. 1 EGStGB ist das erkennende Gericht und nicht die Strafvollstreckungskammer zuständig (OLG Dresden, Beschl. v. 7.6.2024 - 2 Ws 95/24; OLG Jena, Beschl. v. 25.6.2024 – 1 Ws 204/24; OLG Nürnberg, Beschl. v. 26.6.2024 - Ws 420/24; OLG Stuttgart, Beschl. v. 6.6.2024 - 4 Ws 167/24).

bb) Halbstrafe

Der Umstand, dass am 1.4.2024 das KCanG mit einem im Einzelfall niedrigeren Strafrahmen für die abgeurteilte Anlasstat in Kraft getreten ist, findet im Rahmen der Beurteilung im Sinne von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB – Stichwort: Halbstrafe - keine Berücksichtigung (OLG Celle, Beschl. v. 12.6.2024 2 Ws 137/42).

e) Sonstiges/Verfahrensrecht
aa) Strafklageverbrauch/BZRG-Verwertungsverbot

Vorstrafen, die den Besitz und Erwerb von Kleinmengen von Cannabis betreffen, der zwischenzeitlich straffrei gestellt ist, unterliegen derzeit nicht dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, da sie erst ab dem 1. Januar 2025 tilgungsfähig sein werden; ihnen kommt nach wie vor eine Warnfunktion zu (BayObLG, Beschl. v. 17.7.2024 - 204 StRR 215/24).

Nach Art. 316p, Art. 313 EGStGB werden vor dem 1.4.2024 verhängte Strafen nach dem BtMG, die nach dem KCanG oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind. Dies lässt einen (ggf. wirksamen) Strafklageverbrauch eines Straferkenntnisses nicht entfallen (BGH, Beschl. v. 6.5.2024 – 2 StR 480/23).

bb) Verwertung „alter“ Encro-Chat-Daten

Als Katalogtat im Sinne des § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO in der seit dem 1.4 2024 gültigen Fassung werden nur Straftaten gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 1, Nr. 3 oder Nr. 4 KCanG erfasst. Beweisergebnisse, die aus den Daten des Encro-Chat oder aus ANOM gewonnen wurden und sich auf eine Tat des Handeltreibens mit Cannabis in nicht geringer Menge beziehen, können nach dem Inkrafttreten des CanG im Strafverfahren nicht weiter verwertet werden (KG, Beschl. v. 30.4.2025 – 5 Ws 67/24; OLG Hamm, Beschl. v. 8.10.2024 - 4 Ws 154/24; OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.4.2024 – H 4 Ws 123/24; LG Saarbrücken, Beschl. v. 3.6.2024 - 4 KLs 28 Js 140/23 (16/24); s.a. LG Köln, Beschl. v. 16.4.2024 – 323 Qs 32/24 für Erkenntnisse aus mittels Sky-ECC geführter Kommunikation; a.A. KG, Beschl. v. 18.10.2024 - 2 Ws 146/24; OLG Celle, Beschl. v. 9.7.2024 – 3 Ws 55/24; OLG Hamburg, Beschl. v. 13.5.2024 – 1 Ws 32/24; OLG Schleswig, Beschl. v. 9.10. 2024 – 1 Ws 171/24).

bb) Pflichtverteidiger

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen des § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG hat das LG Braunschweig Stellung genommen (LG Braunschweig, Beschl. v. 10.5.2024 - 9 Qs 105/24). Das LG Neuruppin befasst sich mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des Konsumcannabisgesetzes zum 1.4.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 S. 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung (LG Neuruppin, Beschl. v. 22.7.2024 – 11 Kls 5/22).

2. Bußgeldverfahren: Anwendung des neuen Grenzwertes für § 24a StVG in sog. Altfällen

Am 22.8.2024 ist das 6. Gesetz zur Änderung des StVG und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in Kraft getreten (vgl. dazu Deutscher, ZAP 2024, 833; Deutscher., VRR 8/2024, 5; Deutscher., StRR 9/2024, 6). Dieses hat u.a. § 24a StVG durch die Einfügung eines Absatz 1a) dahingehend geändert, dass der maßgebliche THC-Grenzwert nunmehr 3,5 ng/ml beträgt. Inzwischen liegt die erste Entscheidung zur Anwendung dieser Regelung auf sog. Altfälle vor (OLG Oldenburg, Beschl. v. 29.8.2024 – 2 ORbs 95/24).

Das AG hatte den Betroffene wegen eines Verstoßes gegen § 24a StVG a.F. zu einer Geldbuße von 1000 EUR und einem 3-monatigen Fahrverbot verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte beim OLG Erfolg; dieses hat den Betroffenen frei gesprochen. Das OLG verweist darauf, dass zwar zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem AG noch davon auszugehen gewesen ist, dass der Betroffene mit einem THC-Wert von 1,3 ng/ml im Blut gegen § 24a StVG verstoßen habe. Durch das am 22.8.2024 in Kraft getretene Neuregelung sei allerdings § 24a StVG durch die Einfügung von Absatz 1a) dahingehend geändert worden, dass der maßgebliche Wert nunmehr 3,5 ng/ml beträgt. Zwar habe der bisherige analytische Grenzwert von 1,0 ng/ml nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, sondern sei von der Rechtsprechung - entsprechend einem Beschluss der „Grenzwertkommission“- als maßgeblich angesehen worden. Gleichwohl sei zumindest der Rechtsgedanke des § 4 Abs. 3 OWiG heranzuziehen, wonach in dem Fall, in dem ein Gesetz, dass bei der Beendigung der Handlung gilt, vor der Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz anzuwenden ist. Nachdem nunmehr der maßgebliche Wert in § 24a StVG über dem Wert liege, den der Betroffene im Blut gehabt habe, hätte er bei einer Tatbegehung nach Inkrafttreten des Gesetzes den Bußgeldtatbestand nicht verwirklicht. Damit sei der Betroffene vom Rechtsbeschwerdegericht unter Anwendung des § 354a StPO freizusprechen.

Hinweis:

Die Entscheidung ist zutreffend. Nach § 4 Abs. 3 OWiG ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wobei dahingestellt bleiben kann, ob die Regelung unmittelbar gilt oder – wie es das OLG tut – sie zumindest entsprechend angewendet werden muss.


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