(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von RiOLG Detlef Burhoff, Münster/Hamm
In der letzten Monaten haben sich einige Änderungen bei der Internetzeitschrift HRRS - www.hrr-strafrecht.de - ergeben.
Am 31. 12. 2006 ist das 2. Justizmodernisierungsgesetz (BGBl. I 2006, S. 3406) in Kraft getreten. Dieses hat auch einige Neuerungen bzw. Änderungen im Straf-/Jugendgerichtsverfahrenverfahren gebracht, von denen die beiden bedeutsamsten hier vorgestellt werden sollen.
1. Stärkung des Opferschutzes/Erweiterung von Anwesenheitsrechten
Erneut ist der Opferschutz Anlass zu Änderungen im Strafverfahren gewesen.
2. Ergänzung des § 47 StPO
Die für die Praxis wesentliche Änderung bzw. Neueinfügung des § 47 Abs. 3 StPO geht zurück auf Rechtsprechung des BVerfG. Dieses hatte in der Entscheidung der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. 8. 2005 (2 BvR 1357/05, NJW 2005, 3131 = StV 2005, 613 = StraFo 2005, 416 m. abl. Anm. Mosbacher NJW 2005, 3110; vgl. dazu auch Burhoff ZAP F. 22 R, S. 423) abweichend von der bis dahin h.M. (vgl. etwa BGHSt 18, 34 = NJW 1962, 2359; OLG Karlsruhe NStZ 1997, 301; so ausdrücklich auch die Begr. zur Einführung von § 356a StPO durch das AnhörungsrügenG, BT-Drs 15/3706, S. 18; vgl. zu letzterem krit. Burhoff, HV, Rn. 83g) die Auffassung vertreten, dass sich durch den Eintritt der Rechtskraft einer strafgerichtlichen Verurteilung ein U-Haftbefehl endgültig erledige. Eine zur Durchbrechung der Rechtskraft führende spätere Wiedereinsetzungsentscheidung ändere hieran nichts. Ein einmal gegenstandslos gewordener Haftbefehl bleibe vielmehr gegenstandslos. Aufgrund dieser Entscheidung des BVerfG, die entsprechend auch für den Unterbringungsbefehl gilt, war die weitere Inhaftierung eines Angeklagten in solchen Fallgestaltungen nur noch dann zulässig, wenn vor der aufgrund des Wegfalls des vollstreckbaren Urteils unmittelbar zu veranlassenden Entlassung aus der Strafhaft eine erneute Festnahme aufgrund eines neu erlassenen oder - im Anschluss an eine vorläufige Festnahme gemäß § 127 Abs. 2 StPO - unverzüglich neu zu erlassenden Haftbefehls erfolgte. Diese Auffassung ist in der Praxis auf Kritik gestoßen (vgl. dazu Mosbacher, a.a.O.).
Zur Lösung dieser Problematik ist in § 47 StPO jetzt ein neuer Abs. 3 eingefügt worden. In dessen Satz 1 wird für die Folgen der Wiedereinsetzung nun bestimmt, dass u.a. alle vor Eintritt der Rechtskraft geltenden Untersuchungshaft- und Unterbringungsbefehle wieder wirksam werden.
Tipp/Hinweis: Die Regelung gilt nicht nur für U-Haft- und Unterbringungsbefehle sondern, ausdrücklich auch für "sonstige Anordnungen". Die Neuregelung gilt durch die Verweisung in § 356a S. 3 StPO und den neuen § 337 S. 2 StPO ebenfalls in den Fällen der §§ 356a (Anhörungsrüge), 357 StPO. |
Verfahrensrechtlich ist auf Folgendes zu achten
Tipp/Hinweis: Ein besonderer Haftprüfungsantrag des Verteidigers ist nicht erforderlich. Der Verteidiger sollte allerdings Wiedereinsetzungs- bzw. Tatgericht sogleich im Wiedereinsetzungsantrag aber an die sich im Fall der Wiedereinsetzung aus § 47 Abs. 3 S. 2 bzw. 3 StPO ergebenden Pflichten "erinnern". |
In der Praxis spielen zunehmend die mit § 475 StPO zusammenhängenden Fragen eine Rolle. § 475 StPO gewährt Dritten unter bestimmten Voraussetzungen eine Recht auf Akteneinsicht gewährt (vgl. dazu eingehend Burhoff, EV, Rn. 120 ff.). Dabei ist zu beachten, dass die Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten oder die Gewährung von Akteneinsicht nach § 475 StPO einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)) solcher Personen darstellt, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die Auskunft erteilende oder Akteneinsicht gewährende Stelle hat daher die schutzwürdigen Interessen dieser Personen gegen das Informationsinteresse abzuwägen und den Zugang zu den Daten gegebenenfalls angemessen zu beschränken (s. schon BVerfG wistra 2002, 335; NJW 2003, S. 501; NJW 2006, 1116). Wird durch die Gewährung der Akteneinsicht in Grundrechte Betroffener eingegriffen, sind diese in der Regel anzuhören (vgl. BVerfG NStZ-RR 2005, 242; Burhoff, EV, Rn 127). Das hat das BVerfG jetzt vor kurzem noch einmal bekräftigt (vgl. Beschluss vom 26. 10. 2006, 2 BvR 67/06, StraFo 2007, 23). In dem Verfahren, das wegen der Verdachts des Besitzes kinderpornografischer Schriften geführt worden war, war einem Rechtsanwalt Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt worden, nachdem er auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass seinem Gesuch ein Räumungsrechtsstreit über ein Mietverhältnis zwischen seinem Mandanten und dem Beschuldigten zu Grunde liege. Die dem Rechtsanwalt übersandte Ermittlungsakte enthielt unter anderem den Beschuldigten betreffenden Bundeszentralregisterauszug, Fotos seiner Wohnung, zwei dort im Rahmen einer Durchsuchung aufgefundene und beschlagnahmte Zeichnungen seines Geschlechtsteils, persönliche Briefe und Verteidigerkorrespondenz. Das BVerfG hat ausgeführt, dass angesichts der in den Akten vorhandenen Unterlagen nicht nur der Umfang der Akteneinsicht hätte beschränkt werden müssen, sondern wegen des mit der Überlassung dieser Dokumente einhergehenden tief greifenden Grundrechtseingriffe für den Beschuldigten diesem vor Akteneinsicht rechtliches Gehör hätte gewährt werden müssen.
Tipp/Hinweis: Wird das Anhörungsrecht des Beschuldigten nicht gewahrt, kann dieser nachträglich Feststellung der Rechtswidrigkeit der gewährten Akteneinsicht beantragen (LG Dresden StV 2006, 11; LG Kassel StraFo 2005, 428). |
Ein Haftbefehl kann nach § 116 StPO unter Auflagen außer Vollzug gesetzt werden (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 266 ff. m.w.N.). Nach § 116 Abs. 4 wird der Vollzug des Haftbefehl allerdings dann wieder angeordnet, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten und Beschränkungen zuwiderhandelt (Nr. 1), er Anstalten zur Flucht macht (Nr. 2) oder neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dieses in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter also nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., 2006, § 116 Rn. 22 m.w.N. [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner), gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. schon BVerfG StV 2006, 26; 2006, 139 f. und noch einmal im Beschl. v. 29. 11. 2006, 2 BvR 2342/06, StraFo 2007, 19). Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich (vgl. OLG Düsseldorf StV 2002, S. 207). Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach Nr. 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen (vgl. hierzu auch BGH NStZ 2005, 279 f.). Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, a.a.O.; OLG Frankfurt StV 2004, 493; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1093; Burhoff, EV, Rn. 278 ff.).
Tipp/Hinweis: Darauf hat jetzt das BVerfG in seinem Beschluss vom 29. 11. 2006 noch einmal hingewiesen und ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO auch nicht dadurch umgangen werden dürfen, dass ein neuer Haftbefehl erlassen wird. |
Für den Begriff "neu" i.S. des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO gilt, dass das nur solche Umstände sind, die nachträglich eingetreten oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt geworden sind und sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären (vgl. u.a. OLG Düsseldorf StV 2000, 211). Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. dazu auch OLG Hamm StV 2003, 512 f.). Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände widerrufen werden kann, nach der einschlägigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eng gesteckt (OLG Frankfurt StV 2004, 493). Denn das Gericht ist an seine Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden. Lediglich eine nachträglich andere Beurteilung bei gleich bleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf nicht (vgl. OLG Frankfurt, a.a.O.). Dabei gilt für die vorzunehmende Abwägung:
Tipp/Hinweis: Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vorliegen, bleibt infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen (BVerfG StraFo 2007, 19 m. Hinw. auf Boujong in Karlsruher Kommentar zur StPO, § 116 Rn. 32 a.E.). |
In der Literatur ist umstritten, ob dem Antragsteller im Adhäsionsverfahren (§§ 402 ff. StPO) ein Recht zur Ablehnung des Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit zusteht. Die ein Ablehnungsrecht verneinende Ansicht stützt sich darauf, dass ein solches - anders als für die Staatsanwaltschaft, den Privatkläger und den Beschuldigten (§ 24 Abs. 3 Satz 1 StPO) sowie den Nebenkläger (§ 397 Abs. 1 Satz 3 StPO) - nicht gesetzlich vorgesehen sei. Dem Adhäsionskläger kämen auch nicht die Befugnisse des Angeklagten und damit das Ablehnungsrecht zu. Ein Ablehnungsrecht des Adhäsionsklägers sei nicht erforderlich, weil er seine Ansprüche vor den Zivilgerichten verfolgen könne und also keine Rechtsnachteile erleide. Im Übrigen nehme die ablehnungsberechtigte Staatsanwaltschaft die Interessen des Geschädigten wahr (vgl. u.a. Meyer-Goßner, § 24 Rn. 20 m.w.N.). Die Gegenansicht will dem Adhäsionskläger hingegen ein Ablehnungsrecht zuerkennen, da er nach Anbringung des Entschädigungsantrags Verfahrensbeteiligter sei und nicht schlechter als in einem Zivilprozess stehen dürfe (vgl. Engelhardt in Karlsruher Kommentar zur StPO, § 404 Rn. 12; Köckerbauer NStZ 1994, 305, Burhoff, HV, Rn. 76). Der letzteren Auffassung hat sich jetzt das BVerfG angeschlossen (vgl. Beschl. v. 27. 12. 2006, 2 BvR 958/06). Der Gesetzgeber habe in letzter Zeit die Rechte des Adhäsionsklägers mehrfach in dem Bestreben gestärkt, dem Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit eine größere Bedeutung zu verschaffen (vgl. Dallmeyer JuS 2005, 327; Hilger GA 2004, 478, 482). Mit den Änderungen durch das Opferrechtsreformgesetz vom 24. 6. 2004 (BGBl I, S. 1354) habe er beabsichtigt, die Durchführung des Adhäsionsverfahrens zum Regelfall der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche des Opfers zu machen. Vor diesem Hintergrund sei der Antragsteller im Adhäsionsverfahren als Rechtsuchender im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anzusehen, dem die Ablehnung des gesetzlichen Richters offen steht, wenn dieser nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet.
Tipp/Hinweis: Das BVerfG (a.a.O.) geht davon aus, da nach § 404 Abs. 2 StPO mit Eingang des Antrags bei Gericht die Wirkungen der Klageerhebung im bürgerlichen Rechtsstreit eintreten, diese Rechtsfolgenverweisung so zu verstehen ist, dass sie sich auf die Begründung eines Ablehnungsrechts des Adhäsionsklägers mit Eingang seines Antrags bei Gericht erstreckte Über ein Ablehnungsgesuch des Adhäsionsklägers ist dann nach den für den Strafprozess geltenden Vorschriften der §§ 22 ff. StPO zu entscheiden. |
Der Angeklagte ist nach § 231 Abs. 1 StPO grundsätzlich zur ununterbrochenen Anwesenheit während der gesamten Hauptverhandlung verpflichtet. Verstößt er gegen diese Verpflichtung, indem er sich aus der Hauptverhandlung entfernt oder bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung ausbleibt, so kann diese nach § 231 Abs. 2 StPO in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden, wenn der Angeklagte über die Anklageschrift vernommen worden war und das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet (vgl. zu allem eingehend Burhoff, HV, Rn. 954). Über den Wortlaut des § 231 Abs. 2 StPO hinaus ist Voraussetzung allerdings, dass sich der Angeklagte eigenmächtig entfernt oder eigenmächtig ausbleibt, d.h. ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt (BGH NStZ 2003, 561; BGH NStZ 1993, 446).
Tipp/Hinweis: Es obliegt nicht dem Angeklagten, glaubhaft zu machen, dass sein Ausbleiben nicht auf Eigenmächtigkeit beruht. Diese ist ihm vielmehr nachzuweisen. Es kommt auch nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte hätte die Fortsetzung der Hauptverhandlung vorsätzlich nicht wahrgenommen, sondern allein darauf, ob eine solche Eigenmächtigkeit i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO tatsächlich vorlag. |
Eine solche Eigenmächtigkeit i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO liegt nicht vor, wenn der Angeklagte in anderer Sache verhaftet worden ist. Die Verhaftung eines Angeklagten stellt einen von seinem Willen unabhängigen Umstand dar (OLG Hamm, Beschl. v. 26. 9. 2006, 1 Ss 406/06). Da von einem Angeklagten nicht verlangt werden kann, dass er den Fortgang des gegen ihn gerichteten Verfahrens mit betreibt, kommt es auch nicht darauf an, ob der Angeklagte bei seiner Verhaftung etwa auf den bevorstehenden Verhandlungstermin aufmerksam gemacht hat (BGH VRS 36, 212). Insoweit kann einem Angeklagten dann auch nicht angelastet werden, dass er dem Gericht gegenüber seine Verhaftung in anderer Sache nicht rechtzeitig vor einem Fortsetzungstermin mitgeteilt hat.
Ist der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht erschienen, kann gegen ihn nach § 230 StPO ein sog. Sitzungshaftbefehl erlassen werden (zu Zwangsmitteln in der Hauptverhandlung siehe eingehend Burhoff, HV, Rn. 1231 ff.). Bei Erlass eines solchen Haftbefehls ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders zu beachten. Darauf hat vor kurzem das BVerfG noch einmal ausdrücklich hingewiesen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27. 10. 2006, 2 BvR 476/06). In dem Verfahren wurde der Angeklagten vor dem Amtsgericht der Vorwurf wegen uneidlicher Falschaussage gemacht. Nachdem bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden hatte, bestimmte das AG neuen Termin auf den 21. 12. 2005. Ein Verlegungsgesuch des Verteidigers, der darauf hinwies, dass die Angeklagte an diesem Tag an einer von ihrer Krankenkasse genehmigten Kur im Bayerischen Wald teilnehme, lehnte das Amtsgericht ab. Um an dem Kurs jedoch zumindest teilweise teilnehmen zu können begab sich die Angeklagte am 19. 12. 2005 in den Bayerischen Wald. Am Morgen des 21. 12. 2005 teilte sie der Geschäftsstelle des AG telefonisch mit, sie sei "eingeschneit" und könne daher in der Hauptverhandlung nicht erscheinen. Daraufhin erließ das Amtsgericht in der Hauptverhandlung den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Aufgrund dieses Haftbefehls wurde die Angeklagte am Freitag, den 13. 1. 2006, verhaftet. Die Angeklagte blieb bis zu zehn Tage später anberaumten Hauptverhandlung am 23. 1. 2006 in Haft. Sie wurde dann frei gesprochen und der Haftbefehl aufgehoben. Die Rechtsmittel der Angeklagten gegen den Haftbefehl hatten beim LG und OLG keinen Erfolg. Erst die Verfassungsbeschwerde der Angeklagten führte zum Erfolg.
Das BVerfG hat beanstandet, dass von den Fachgerichten die Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls nur unzureichend geprüft worden sei. Das OLG habe die Erwartung, dass die Angeklagte zu künftigen Hauptverhandlungsterminen nicht erscheinen werde, zunächst damit begründet, dass sie trotz des in jener Woche anstehenden Hauptverhandlungstermins ihre Kur im Bayerischen Wald angetreten habe. Dabei habe das OLG jedoch übersehen, dass die Angeklagte nicht verpflichtet gewesen sei, wegen der anstehenden Hauptverhandlung gänzlich von dieser Kur Abstand zu nehmen, zumal bei Nichtteilnahme eine Gebühr zu entrichten gewesen sei. Die Vermutung, dass sie von vornherein beabsichtigt habe, der Verhandlung fernzubleiben, sei nicht belegt; dagegen spreche eine vom Verteidiger vorgelegte Bescheinigung der Gemeinde über schneebedingte Verkehrsbehinderungen.
Tipp/Hinweis: Die Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dann nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte zu dem (neuen) Termin erscheinen wird (vgl. dazu schon BVerfGE 32, 87, 93 f.; so auch BVerfG im Beschl. v. 26. 10. 2006, a.a.O.). In dem Zusammenhang ist von besonderem Belang, wenn Umstände vorhanden sind, welche die Bereitschaft des Angeklagten, an weiteren Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, nahe legen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Angeklagte an früheren Hauptverhandlungsterminen teilgenommen hat. Immer ist auch die Möglichkeit eines Vorführbefehls als milderes Mittel in Betracht zu ziehen. Dieser wird erst am Tag der neuen Hauptverhandlung vollstreckt. |
In der Rspr. des BGH kündigt sich ein Streit in der Frage an, ob die besondere Fristenregelung des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO für die Urteilsverkündung ist - unbeschadet der Verlängerung der regulären Unterbrechungsfrist für die Hauptverhandlung ( § 229 Abs. 1 StPO ) durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl I 2198) - zwingendes Recht und ihre Verletzung deshalb revisibel ist (vgl. zur Urteilsverkündung Burhoff, HV, Rn. 920 ff.). davon geht der 4. Strafsenat des BGH in seinem Urt. v. 30. 11. 2006 (4 StR 452/06, NJW 2007, 448) aus, während demgegenüber der 5. Strafsenat in einem Beschluss vom 9. 11. 2006 (5 StR 349/06, NJW 2007, 96) mit einer die Entscheidung nicht tragenden Erwägung die Auffassung vertritt, die besondere Fristenregelung des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO sei "als Ordnungsvorschrift zu werten, auf deren Verletzung allein ein Urteil niemals im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO beruhen" könne.
Dem letzteren wird man sich nicht anschließen können. Zutreffend weist der 4. Strafsenat des BGH (a.a.O.) darauf hin, dass schon der klare Wortlaut der Vorschrift des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO - "muss" und "ist" - es ausgeschlossen erscheinen lässt, der Vorschrift lediglich den Charakter einer bloßen - nicht revisiblen - Ordnungsvorschrift zu geben. Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung des 5. Strafsenats - auch nicht aus der Neuregelung über die Höchstgrenze der regelmäßigen Unterbrechungsfrist für die Hauptverhandlung in § 229 Abs. 1 StPO durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I 2198). Dieses Gesetz hat die Fristenregelung in § 268 Abs. 3 Satz 2 StPO unberührt gelassen. Auch die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 15/999 S. 24/25 und 15/1508 S. 25) geben keinerlei Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber aus den der Änderung des § 229 Abs. 1 StPO zugrunde liegenden Erwägungen der unverändert gebliebenen, nach ihrem klaren Wortlaut als zwingendes Recht ausgestalteten Fristenregelung des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO nunmehr den Charakter einer bloßen Sollvorschrift beimessen wollte. Etwas anderes wäre nach Auffassung des 4. Strafsenats allenfalls dann zu erwägen, wenn die Neuregelung des § 229 Abs. 1 StPO ihrerseits als disponibel ausgestaltet worden wäre. Das sei aber gerade nicht der Fall: Sinn und Zweck der Änderung des § 229 Abs. 1 StPO war es in erster Linie, dem Gericht eine größere Flexibilität bei der Terminsbestimmung einzuräumen, um dadurch rein formale Fortsetzungstermine ("Schiebetermine") weitgehend zu vermeiden; an dem zwingenden Charakter dieser Vorschrift als solchem hat der Gesetzgeber indes ungeachtet der Verlängerung der Unterbrechungsfrist ausdrücklich festgehalten (zum neuen § 229 StPO Burhoff ZAP F. 22 R, S. 470).
Tipp/Hinweis: Der Verstoß gegen § 268 Abs. 3 S. 2 StPO ist mit der Verfahrensrüge geltend zu machen. Für die Frist des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO gilt im Übrigen nicht § 229 Abs. 2 StPO (BGH StV 2006, 516 m.w.N.). |
Erscheint der ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladene Angeklagte nicht, kann seine Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen werden. Für diese Verwerfungsentscheidung kommt es nicht darauf an, ob der Angeklagte sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (Meyer-Goßner, § 329 Rn. 18 m.w.N.; Burhoff, HV, Rn. 214 m.w.N.). Hat das Berufungsgericht Anhaltspunkte dafür, dass das Ausbleiben eines Angeklagten entschuldigt sein kann, so muss es ihnen durch Ermittlungen im Freibeweis nachgehen. Solche Anhaltspunkte können sich z.B. aus einem ärztlichen Attest ergeben (OLG München, Beschl. v. 10. 10. 2006 - 4St RR 193/06). Diese wird das Berufungsgericht i.d.R. verpflichten, ggf. telefonisch den Inhalt dieser Bescheinigung zu überprüfen, wenn sich daraus Anhaltspunkte für eine Verhandlungsunfähigkeit ergeben.
Die mit der Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO zusammenhängenden Fragen haben in der Praxis erhebliche Bedeutung (vgl. eingehend dazu Burhoff, HV, Rn. 209 ff. m.w.N.). Dabei ist vor allem von Bedeutung, dass gegen die Verwerfungsentscheidung mit dem "richtigen" Rechtsmittel vorgegangen wird. Insoweit gilt:
Tipp/Hinweis: Damit ist der Angeklagte im Wiedereinsetzungsverfahren mit bereits bekannten Entschuldigungsgründen präkludiert. Der Verteidiger muss sich daher in der Hauptverhandlung, wenn er nicht sichere Kenntnis von den Gründen für das Ausbleiben seines Mandanten gut überlegen, ob er "Halbwissen" vorträgt. Setzt sich das Gericht dann damit auseinander, kann später im Wiedereinsetzungsverfahren dazu nicht mehr vorgetragen werden. Legt der Verteidiger Revision ein, muss er den Verstoß gegen § 329 StPO mit der Verfahrensrüge geltend machen. Diese unterliegt den strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO . D.h.: Es müssen alle Umstände, aus denen sich der Verfahrensverstoß des Berufungsgericht ergeben soll, vorgetragen werden (zur Begründung der Verfahrensrüge s. auch Burhoff, HV, Rn. 760 ff.). |
Im OWi-Verfahren spielt im Rahmen der Verteidigung des Betroffenen die Frage eine nicht unerhebliche Rolle, ob der Verteidiger Einsicht in die sog. "Lebensakte", die zu technischen Messgeräten i.d.R. vorhanden ist bzw. geführt wird, nehmen kann. Das wird von den Verwaltungsbehörden häufig mit dem Hinweis verwehrt, dass eine Lebensakte nicht existiere (vgl. dazu aber Böttger in: Burhoff, OWi, Rn. 1530 ff.). In dem Zusammenhang bietet jetzt eine neuere Entscheidung des AG Bad Kissingen dem Verteidiger gute Argumentationshilfe (AG Bad Kissingen, Beschl. v. 6. 7. 2006, 3 OWi 17 Js 7100/06, zfs 2006, 706). Denn danach hat der Verteidiger des Betroffenen im Rahmen des Bußgeldverfahrens, das z.B. eine Geschwindigkeitsüberschreitung zum Inhalt hat, ein Recht auf Einsicht in alle Unterlagen, die regelmäßig dem Sachverständigen vorgelegt werden, auch wenn sie bei der Polizei verwahrt werden und noch nicht Teile der Gerichtsakte sind, soweit sie zur Beurteilung der Erfolgsaussichten des Einspruchs notwendig sind.). Nach Auffassung des AG Bad Kissingen ergibt sich das Recht des Verteidigers, der Einsicht in die so genannte Lebensakte, in den Eichschein, die Bedienungsanleitung und die Ausbildungsnachweise begehrt hatte, aus dem Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör, auf dem das Akteneinsichtsrecht basiert (§ 147 StPO i.V.m. § 46 OWiG). Das Akteneinsichtsrecht gilt nach Auffassung des AG jedoch nicht uneingeschränkt. Da die Unterlagen ständig benötig würden, komme ein Versand nicht in Betracht. Der Fertigung von Kopien der Bedienungsanleitung stehe der urheberrechtliche Schutz dieser Aufzeichnungen entgegen.
Tipp/Hinweis: Die Entscheidung ist grundsätzlich zu begrüßen. Auch gegen die Einschränkungen des AG lässt sich im Hinblick darauf, dass es sich bei den genannten Unterlagen um Beweismittel handeln dürfte, die dem Verteidiger nach § 147 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 OWiG nicht in sein Büro mitgegeben werden (vgl. Burhoff, EV, Rn. 71 ff.), grundsätzlich nichts einwenden. Allerdings ist fraglich, ob nicht die Grundsätze der obergerichtlichen Rechtsprechung zur Einsichtnahme in die von einem Geschwindigkeitsverstoß gefertigte Videoaufnahme entsprechend gelten müssen. Dazu wird vertreten, dass die Verwaltungsbehörde dann, wenn der Verteidiger eine Videokassette mitschickt, ihm die entsprechende Sequenz darauf zu überspielen ist (vgl. BayObLG NJW 1991, 1070 = DAR 1991, 271; wohl auch OLG Koblenz NStZ-RR 2001, 311). Wendet man das entsprechend an, dann hätten dem Verteidiger an sich entsprechende Kopien zur Verfügung gestellt werden müssen. Dabei dürfte der Anspruch auf rechtliches Gehör dem Urheberrecht an der Bedienungsanleitung vorgehen (a.A. AG Bad Kissingen, a.a.O.). Wird die Akteneinsicht nicht gewährt, muss der Verteidiger dagegen mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim AG nach § 62 OWiG vorgehen. |
b) Akteneinsichtsrecht hinsichtlich des Tatfilms
Hinzuweisen ist für das Akteneinsichtsrecht im OWi-Verfahren noch auf den erst jetzt bekannt gewordenen Beschl. des AG Straubing v. 10. 1. 2006 (2.1 AR 01/06; DAR 2006, 637). Danach kann der Verteidiger im Hinblick auf sein Akteneinsichtsrecht hinsichtlich des von einem Verkehrsverstoß gefertigten Tatfilms (vgl. BayObLG NJW 1991, 1070 = DAR 1991, 271) an diejenige Behörde verwiesen werden, bei der das Original-Videoband verwahrt wird. Ein Anspruch auf Übersendung einer Kopie durch die Bußgeldbehörde selbst bestehe ebenso wenig wie ein Anspruch auf Übersendung des Original-Videobandes (BayObLG, a.a.O.).
Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Amtsgericht den Betroffenen von seiner für die Hauptverhandlung ansonsten bestehenden Anwesenheitspflicht, wenn eine Äußerung des Betroffenen zur Sache vorliegt oder dieser erklärt, dass er sich nicht zur Sache äußern werde und außerdem die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Aufklärung wesentlicher Punkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Anwesenheit des Betroffene ist z. B. dann erforderlich, wenn die Identifizierung des Betroffenen in der Hauptverhandlung anhand von Lichtbildern oder durch Zeugenaussagen erforderlich ist (BGHSt 30, 172, 175 [zum alten Recht]; BayObLG StraFo 1998, 315), wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufgeklärt werden müssen, weil eine (deutliche) Erhöhung der (Regel-)Geldbuße in Betracht zu ziehen ist (BayObLG NJW 1999, 2292), oder die näheren Umstände, die für die Verhängung eines Fahrverbotes von Bedeutung sind (OLG Karlsruhe zfs 2001, 476) aufgeklärt werden müssen (vgl. i.Ü. auch Stephan in: Burhoff, OWi, Rn. 1418 ff.).
Tipp/Hinweis: Ergeben sich die erforderlichen Feststellungen aufgrund von Urkunden oder aus schriftlichen Auskünften des Betroffenen dürfte seine Anwesenheit entbehrlich sein (KG zfs 1999, 536; OLG Karlsruhe zfs 1999, 538). |
In dem Zusammenhang ist eine Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 19. 12. 2006 (IV-2 Ss (OWi) 180/06 - (OWi) 92/06 III) im Hinblick auf die richtige Formulierung des Entbindungsantrags von Bedeutung. In dem der Entscheidung des OLG vorausgegangenen amtsgerichtlichen Verfahren hatte der Betroffene nach Einspruch gegen den Bußgeldbescheid und Bestimmung des Hauptverhandlungstermins Betroffene beantragt, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Dazu hatte sein Verteidiger schriftsätzlich vorgetragen, dass der Betroffene "nicht bestreitet", das Fahrzeug bei dem ihm zur Last gelegten Verkehrsverstoß geführt zu haben, jedoch sei die Geschwindigkeitsmessung fehlerhaft gewesen. Das AG hatte den Entbindungsantrag abgelehnt, und nachdem der Betroffene im Hauptverhandlungstermin ausgeblieben war, dessen Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg.
Das OLG hat darauf hingewiesen, dass die Anwesenheit des Betroffenen in Hauptverhandlung zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich sei, wenn der Betroffene bei einem durch ein Lichtbild erfassten Verkehrsverstoß seine Fahrereigenschaft eingeräumt hat und er lediglich die Korrektheit der Geschwindigkeitsmessung anzweifelt (vgl. OLG Zweibrücken NStZ 1994, 372; OLG Frankfurt NStZ 1997, 39). Hier habe der Betroffene seine Fahrereigenschaft indes nicht eingeräumt. Er habe durch seinen Verteidiger in dem schriftlichen Entbindungsantrag lediglich vortragen lassen, dass er "nicht bestreitet", das Fahrzeug bei dem ihm zur Last gelegten Verkehrsverstoß geführt zu haben. Ein bloßes "Nichtbestreiten" stelle aber Geständnis dar und biete keine hinreichende Tatsachengrundlage für die richterliche Überzeugungsbildung. Durch seine Einlassung hat der Betroffene lediglich nicht in Abrede gestellt, dass er das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt geführt hat. Es handelt sich um eine neutrale Äußerung, die gerade kein positives Eingeständnis der Fahrereigenschaft enthält.
Tipp/Hinweis: Der Betroffene muss durch ein eindeutiges Eingestehen der Fahrereigenschaft die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 73 Abs. 2 OWiG nicht mehr erforderlich ist. Das wird am sichersten dadurch erreicht, dass er seine Fahrereigenschaft einräumt. Ein solches schriftliches Geständnis kann dann gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG durch Mitteilung des wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Bei einem solchen Geständnis hat das AG im Gegensatz zur früheren Rechtslage auch kein Ermessen mehr bei der Entscheidung über den Entbindungsantrag (vgl. OLG Hamm VRS 107, 120, 123 u. DAR 2004, 662, 663; BayObLG DAR 2001, 371, 372). Vielmehr muss es einem solchen Antrag dann entsprechen (OLG Düsseldorf, a.a.O.). |
b) Entbindungsantrag in der Hauptverhandlung
Zuletzt haben wir über die Frage, ob der Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung auch noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden kann, in ZAP F. 22 R, S. 473 berichtet. Inzwischen hat sich nun auch das KG der wohl h.M. angeschlossen, dass das zulässig ist, solange noch nicht zur Sache verhandelt worden ist (vgl. u.a. OLG Naumburg zfs 2002, 595; OLG Brandenburg zfs 2004, 235; Senge in KK-OWiG, 3. Aufl., § 73 Rn 18; Bohnert in KK-OWiG, § 73 Rn 13; Lemke/Mosbacher, OWiG, 2. Aufl., § 73 Rn. 3 a. E.; offen gelassen von OLG Karlsruhe VRS 109, 282; a. A. Seitz in Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 73 Rn. 2; vgl. i.Ü. auch noch die weiteren Hinw. bei Burhoff ZAP F 22 R, S. 473).
Tipp/Hinweis: Für diesen Antrag benötigt der Verteidiger ein- über die Verteidigervollmacht hinausgehende - besondere Vertretungsvollmacht, die i.d.R. in der allgemeinen Vollmacht, den Mandanten vertreten zu dürfen, enthalten ist (vgl. dazu OLG Hamm VRR 2006, 394 m. Anm. Stephan; BayObLG NStZ 2001, 585 (Ls.); Burhoff, HV, Rn. 1094). Wird der Entbindungsantrag abgelehnt, muss dagegen mit der Verfahrensrüge vorgegangen werden, die den strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO unterliegt. Zur Begründung muss auch vorgetragen werden, dass dem Verteidiger eine Vertretungsvollmacht erteilt war (OLG Rostock VRR 2006, 397). |
Nach § 218 StPO, der über §§ 46, 71 OWiG auch im OWi-Verfahren gilt, besteht die Pflicht des Gerichts, den gewählten Verteidiger zur Hauptverhandlung zu laden (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn. 995). Es ist allgemein anerkannt, dass über den Wortlaut des § 218 StPO hinaus die Pflicht des Gerichts zur Ladung des gewählten Verteidigers nicht nur durch eine gegenüber dem Gericht abgegebene Verteidigungsanzeige begründet wird, sondern auch durch eine bereits im Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft oder an die Polizeibehörde gerichtete Anzeige (OLG Köln VRS 98, 138; OLG Hamm VRS 41 133). Beim späteren Übergang des Verfahrens auf das Gericht befindet sich die Verteidigungsanzeige regelmäßig in den Akten, so dass das Gericht von dem Verteidigungsverhältnis ebenso problemlos Kenntnis nehmen und den Verteidiger laden kann wie wenn sich der Verteidiger erst im gerichtlichen Verfahren legitimiert hätte. Noch weitergehend wird in ständiger Rechtsprechung in Fällen, in denen der Beschuldigte bzw. Betroffene von einem mittlerweile erfolgten Übergang des Verfahrens von der Ermittlungsbehörde auf das Gericht noch keine Kenntnis hatte, seiner Verteidigungsanzeige, die er in Unkenntnis des Verfahrensübergangs an die früher zuständig gewesene (inzwischen nicht mehr aktenführende) Ermittlungsbehörde gerichtet hatte, dieselbe Wirkung zugesprochen, wie der Verteidigungsanzeige, die, dem Wortlaut des § 218 StPO gemäß, unmittelbar dem Gericht zugegangen ist (OLG Karlsruhe Justiz 1974, 134; OLG Celle VRS 58, 372; OLG Koblenz VRS 51, 133; OLG Frankfurt VRS 48, 370. Da ein Beschuldigter bzw. Betroffener schutzwürdig erscheint, wenn er alles aus seiner Sicht Erforderliche getan hat, um das Gericht rechtzeitig von dem Verteidigungsverhältnis in Kenntnis zu setzen, soll ihm aus dem ohne seine Kenntnis erfolgten Übergang des Verfahrens kein Nachteil erwachsen (BayObLGSt 1978, 63; OLG Karlsruhe Justiz 1974, 134; OLG Koblenz VRS 51, 133 f. OLG Celle VRS 58, 372; OLG Düsseldorf DAR 1979, 340).
Diese Rechtsprechung hat Auswirkungen auf die dem Gericht nach § 74 Abs. 2 OWiG eingeräumte Verwerfungsmöglichkeit. Unterbleibt die Ladung des Verteidigers zur Hauptverhandlung, obwohl sich dieser bei der Verwaltungsbehörde rechtzeitig als Verteidiger des Betroffenen angezeigt hat, stellt dies nämlich auch dann einen den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG hindernden Verstoß gegen § 218 Satz 1 StPO dar, wenn die unterbliebene Ladung nicht auf einem Verschulden des Gerichts beruht, weil die Verwaltungsbehörde die Verteidigungsanzeige nicht zu den Akten genommen oder nicht an das Gericht weitergeleitet hat (so OLG Bamberg, Beschl. v. 30. 11. 2006, 2 Ss OWi 1521/06). Etwas anderes gilt allerdings, wenn der Verteidiger seine Beauftragung bei der Polizei - oder im Strafverfahren auch bei der Staatsanwaltschaft - anzeigt, obwohl er oder sein Mandant weiß, dass das Verfahren nicht mehr dort, sondern bereits bei Gericht anhängig ist. Dann tragen Verteidiger und Mandant das Risiko dafür, dass die an den unrichtigen Adressaten gerichtete Verteidigungsanzeige so rechtzeitig bei dem zuständigen Gericht eingeht, dass er noch zum Hauptverhandlungstermin geladen werden kann (OLG Stuttgart NJW 2006, 3796).
Tipp/Hinweis: Seine Nichtladung muss der Verteidiger, mit der formellen Rüge geltend machen, für die die strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gelten (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn. 760 ff.). |
In ZAP F 22 R, S. 475 habe ich über die Abrechnung der Tätigkeit des Rechtsanwalts als Zeugenbeistand berichtet. Die dort bestehende Problematik - Abrechnung nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG oder Abrechnung nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG nur als sog. Einzeltätigkeit besteht auch, wenn der Rechtsanwalt nur als sog. "Terminsvertreter" an der Hauptverhandlung teilnimmt. Da ist z.B. dann der Fall, wenn der beigeordnete Pflichtverteidiger an einem oder mehreren der terminierten Hauptverhandlungstermine verhindert ist und dem Angeklagten für diese Termine ein anderer Pflichtverteidiger beigeordnet wird. Das ist in der Praxis die einzige Möglichkeit, um in der Praxis die Terminsprobleme des Pflichtverteidigers zu überwinden, da eine Unterbevollmächtigung beim Pflichtverteidiger nicht möglich ist (vgl. zuletzt BGH NStZ 1983, 208 [Pf/M]; Meyer-Goßner, § 142 Rn. 15 m.w.N.; Burhoff, EV, Rn. 1309). In diesen Fällen stellt sich dann die gebührenrechtliche Frage, wie der als "Terminsvertreter beigeordnete Rechtsanwalt (vor allem) seine gesetzlichen Gebühren abrechnet. Insoweit gilt:
Nach zutreffender Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung rechnet auch der nur für einen Termin als Terminsvertreter beigeordnete Rechtsanwalt seine (gesetzlichen) Gebühren nach Teil Abschnitt 1 VV RVG ab (KG NStZ-RR 2005, 327 = AGS 2006, 177; OLG Hamm RVGprof 2006, 92 = RVGreport 2006, 230; OLG Celle StraFo 2006, 471; so auch demnächst Burhoff in: Burhoff (Hrsg.) RVG- Straf- und Bußgeldsachen. 2. Aufl., 2007, Vorbem. 4.1 Rn. 14 [im Folgenden kurz: Burhoff/Burhoff, RVG]; zur Abgrenzung der Einzeltätigkeiten vom vollen Verteidigungsauftrag s. u.a. auch noch OLG Schleswig RVGReport 2005, 70). Er ist für den beschränkten Bereich "voller Vertreter" i.S. von Vorbem. 4 Abschnitt 1 VV RVG. Fraglich ist allerdings, ob auch für diesen Rechtsanwalt die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG entsteht, oder ob er ggf. nur eine (isolierte) Terminsgebühr für die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin abrechnen kann. Geht man - zutreffend - davon aus, dass auch dieser Rechtsanwalt voller Verteidiger ist und er nicht nur einen Einzelauftrag übernommen hat, kann auch der Rechtsanwalt ebenfalls die Grundgebühr abrechnen, denn auch er muss sich in den Rechtsfall einarbeiten (Burhoff/Burhoff, RVG, Nr. 4100 Rn. 6 ff.; a.A. KG, a.a.O.; OLG Celle Rpfleger 2006, 669; Beschl. v. 10. 10. 2006, 2 Ws 258/06 u. 2 Ws 241/06.). Es entsteht nicht etwa nur die Terminsgebühr (so aber KG und OLG Celle, a.a.O.). Die Grundgebühr ist nicht verfahrensbezogen, sondern personenbezogen und kann im Laufe des Verfahrens - je nachdem, wie viele Verteidiger tätig sind - mehrfach entstehen (a.A. offenbar KG, a.a.O.).
Tipp/Hinweis: Das Entstehen einer "isolierten Terminsgebühr" ist nach dem RVG bei Abrechnung nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG nicht möglich. Es entsteht zumindest immer auch die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, weil sich auch der nur für einen Hauptverhandlungstermin beigeordnete Rechtsanwalt in das Verfahren einarbeiten muss. Darauf sollte der Pflichtverteidiger im Festsetzungsverfahren (§ 56 RVG) ausdrücklich hinweisen. |
Auch dann, wenn der - zufällig anwesende - Rechtsanwalt erst im Hauptverhandlungstermin mandatiert/beigeordnet wird, so z.B. im Strafbefehlsverfahren nach § 408b StPO, entsteht die Grundgebühr (a.A. AG Koblenz AGS 2004, 484 m. abl. Anm. N.Schneider = RVGreport 2004, 469 m. abl. Anm. Hansens; OLG Koblenz JurBüro 2005, 199; s. auch N.Schneider, a.a.O. ).
Erhebliche Schwierigkeiten bestehen in der Praxis mit der Anwendung der Längenzuschläge für den Pflichtverteidiger, die dieser zur (Hauptverhandlungs)Terminsgebühr erhält, wenn die Hauptverhandlung mehr als fünf bis zu acht bzw. mehr als acht Stunden gedauert hat (vgl. die Nrn. 4110, 4111, 4116, 4117, 4122, 4123, 4128, 4129, 4134, 4135 VV RVG). Streit herrscht in den Fragen, ob Wartezeiten des Verteidigers vor bzw. während der Hauptverhandlung zu berücksichtigen sind und ob Pausen von der Hauptverhandlungszeit abgezogen werden müssen. Die dazu inzwischen vorliegende obergerichtliche Rechtsprechung lässt sich wie folgt zusammenfassen (eingehend dazu auch demnächst Burhoff/Burhoff, RVG; Kommentierung zur Nr. 4100 VV; s. auch Burhoff RVGreport 2006, 1).
Bei der Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung werden Wartezeiten mitgerechnet mitgerechnet (vgl. KG, StV 2006, 198 = AGS 2006, 78; RVGreport 2006, 33 = AGS 2006, 123; OLG Bamberg AGS 2006, 124; OLG Hamm, StV 2006, 201 = RVGreport 2005, 351 = JurBüro2005, 532; AGS 2006, 337; OLG Düsseldorf StraFo 2006, 473 = NStZ-RR 2006, 391 =JurBüro 2006, 641; OLG Karlsruhe, StV 2006, 202 = RVGreport 2005, 315; OLG Koblenz NJW 2006, 1150 = StraFo 2006, 175 = AGS 2006, 285; OLG Stuttgart, StV 2006, 200 = RVGreport 2006, 32 = Rpfleger 2006, 36; OLG Zweibrücken, NStZ-RR 2006, 392 = JurBüro 2006, 642 = Rpfleger 2006, 669; LG Essen AGS 2006, 287; weitere Entscheidungen auf www.burhoff.de,; aus der Literatur s. u.a. AnwKomm-RVG/N.Schneider, 3. Aufl., VV 4100-411 Rn. 11; Hartmann, Kostengesetze, VV 4110, 4111 Rn. 1; Riedel/Sußbauer/Schmahl, VV Teil 4 Abschnitt 1, Rn. 64; a.A. soweit ersichtlich nur OLG Saarbrücken NStZ-RR 2006, 191 = AGS 2006, 336; Beschl. v. 9. 1. 2007, 1 Ws 236/06).
Tipp/Hinweis: Maßgeblich für den Beginn der Zeitberechnung ist also der Zeitpunkt der Ladung, wenn der Rechtsanwalt zu diesem Zeitpunkt erschienen ist (OLG Hamm, a.a.O.; a.A. OLG Saarbrücken, a.a.O.). Die andere Sichtweise verkennt den Sinn und Zweck der (Neu)Regelung (vgl. BT-Dr. 15/1971, S. 224) und ist im Hinblick auf den Gesetzeszweck, nämlich den besonderen Zeitaufwand eines gerichtlich bestellten Rechtsanwalt für seine anwaltliche Tätigkeit angemessen zu honorieren, nicht sachgemäß. |
Die Frage, ob Pausen abgezogen werden, wird nicht ganz einheitlich beantwortet. Einigkeit besteht, dass kürzere Pausen - "zur Vermeidung einer kleinlichen Handhabung der Vorschrift (OLG Bamberg, a.a.O.) - nicht abgezogen werden (so auch OLG Stuttgart und KG, jeweils a.a.O.; OLG Zweibrücken Rpfleger 2006, 669). Längere Pausen wollen das OLG Bamberg (a.a.O.) und das OLG Zweibrücken (a.a.O.) hingegen abziehen, während das OLG Stuttgart (a.a.O.), das KG (a.a.O.), das OLG Koblenz (OLG Koblenz StraFo 2006, 175 = AGS 2006, 285), das OLG Düsseldorf (StraFo 2006, 472) und das OLG Hamm (OLG Hamm StraFo 2006, 173 = AGS 2006, 333; 2006, 337) zutreffend darauf abstellen, ob und wie der Rechtsanwalt die freie Zeit sinnvoll hat nutzen können.
Tipp/Hinweis: Nach Auffassung des OLG Stuttgart (a.a.O.), des OLG Koblenz (a.a.O.) und des OLG Hamm (a.a.O.) ist im Übrigen dem Rechtsanwalt immer auch eine angemessene Mittagspause von mindestens einer Stunde zuzubilligen. Diese Zeit ist von einer längeren Pause abzuziehen und dann zu fragen, ob der Rechtsanwalt die verbleibende Zeit sinnvoll hat nutzen können (OLG Stuttgart und OLG Koblenz, jeweils a.a.O.). Dem muss man sich im Hinblick auf den mit der gesetzlichen Neuregelung verfolgten Zweck (BT-Dr. 15/1972, S. 221) anschließen. |
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