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aus ZAP Heft 5/2015 - F. 22 R, S. 875

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAPR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (I/2015)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise
  1. Burhoff online Blog
  2. Richtervorbehalt (§ 81a Abs. 2 StPO)
II. Ermittlungsverfahren
  1. Pflichtverteidigungsfragen
    a) Beiordnungsverfahren
    b) Beiordnungszeitpunkt
    c) Beiordnungsgründe
  2. Besuchsüberwachung in der Untersuchungshaft
  3. Durchsuchungsanordnung
III. Hauptverhandlung
  1. Nemo-tenetur-Grundsatz
  2. Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO)
  3. Kostenentscheidung im Urteil/Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO.
IV. Rechtsmittelverfahren
V. Strafzumessung
  1. Allgemeine Erwägungen
  2. Deliktsbezogene Erwägungen
VI. Gebührenfragen/Grundgebühr nach dem 2. KostRMoG.

I. Hinweise

1. Burhoff online Blog

In eigener Sache: Nachdem das früher unter „Jurion Strafrecht Blog“ laufende Blog zum Ende 2014 eingestellt worden ist, führe ich es als „Burhoff online Blog“ – zu finden unter http://blog.burhoff.de – selbst fort. Wie gewohnt berichte ich dort über aktuelle straf-, OWi- und gebührenrechtliche Themen, sowie über Kurioses und Amüsantes aus der Justiz.

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2. Richtervorbehalt (§ 81a Abs. 2 StPO)

Bewegung scheint auch wieder in die Diskussion um eine Änderung des § 81a Abs. 2 StPO zu kommen. Im Bundesrat war in der 17. Legislaturperiode vom Land Niedersachsen eine Gesetzesänderung eingebracht worden, wonach der Richtervorbehalt in § 81a Abs. 2 StPO bei den §§ 316, 315c StGB und bei § 24a StVG entfallen sollte (vgl. BR-Drucks. 615/10; s. dazu Elsner DAR 2010, 633; zust. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57 Aufl. 2014, § 81 Rn. 25d [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]). Der Entwurf ist dann jedoch in der 17. Legislaturperiode im Bundestag nicht mehr beraten worden. Nun ist aber offenbar die Diskussion wieder eröffnet. Zu der Problematik heißt es schon im Koalitionsvertrag 2013 (vgl. S. 103): „Bei Verkehrsdelikten streben wir an, zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration auf körperliche Eingriffe zugunsten moderner Messmethoden zu verzichten. Eine Blutentnahme wird durchgeführt, wenn der Betroffene sie verlangt.“ Inzwischen hat der Vize-Vorsitzende der Unionsfraktion, Thomas Strobl (CDU), in einem Focus-Interview darauf hingewiesen, dass heute die modernen Atem-Alkoholtests sehr präzise seien, da könne man auf die Blutentnahme verzichten. Sollte es aber beim heutigen System bleiben, müsse der Richtervorbehalt entfallen.

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II. Ermittlungsverfahren

1. Pflichtverteidigungsfragen

a) Beiordnungsverfahren

Nichts wesentlich Neues bringt der Beschluss des BGH v. 4.11.2014 (1 StR 586/12, StraFo 2015, 37). Er kann aber für die (Abrechnungs-)Praxis Bedeutung haben, weil er die ständige Rechtsprechung des BGH bestätigt, wonach eine Bestellung als Pflichtverteidiger auch konkludent erfolgen kann (vgl. zuletzt BGH StV 2011, 645 = StRR 201, 29 m. Anm. Burhoff). Wie und in welchem Umfang, zeigt der BGH-Beschluss. In dem ihm zugrunde liegenden Verfahren ging es noch um die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG für die Teilnahme des Rechtsanwalts/Pflichtverteidigers am Revisionshauptverhandlungstermin. Der Verteidiger hatte diese beantragt, war aber nicht ausdrücklich als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Das ist seinem Antrag offenbar vom Kostenbeamten entgegengehalten worden. Der Verteidiger hat dann beantragt, festzustellen, dass er für die Revisionshauptverhandlung zum Verteidiger des Angeklagten bestellt war.

Der BGH (a.a.O.) ist dem Antrag nachgekommen. Zur Begründung verweist er darauf, dass der vom LG bestellte Pflichtverteidiger für die Revisionshauptverhandlung vom Senat geladen worden war. Er sei als einziger Verteidiger des Angeklagten, der sich nicht auf freiem Fuß befunden habe und deswegen unter Hinweis auf § 350 Abs. 3 StPO vom Hauptverhandlungstermin benachrichtigt worden sei, in der Verhandlung aufgetreten. Einen ausdrücklichen Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts als Verteidiger auch für die Revisionshauptverhandlung hätten weder der (in der Verhandlung nicht anwesende) Angeklagte noch der Verteidiger selbst gestellt. Der BGH ist sodann von einer stillschweigenden Bestellung ausgegangen. Der Rechtsanwalt habe nicht nur eine Terminsnachricht zugestellt bekommen, sondern sei auch als einziger Verteidiger des nicht auf freiem Fuß befindlichen (vgl. dazu § 350 Abs. 3 StPO) Angeklagten in der Revisionshauptverhandlung aufgetreten. Seine Beiordnung sei auch rechtlich geboten gewesen; denn der Senat hätte die Revisionshauptverhandlung ohne Anwesenheit eines Verteidigers nicht durchgeführt. Für die mündliche Erörterung der schwierigen Rechtsfragen des Verfahrens in der Hauptverhandlung habe es der Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung bedurft.

Hinweis:

Hat der Verteidiger ggf. übersehen, dass er im Laufe des Verfahrens nicht ausdrücklich zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, kann er der Diskussion über die Frage, ob nach (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens noch nachträglich die Bestellung zulässig ist, was von der h.M. unzutreffend verneint wird (vgl. dazu die Zusammenstellung der Rspr. bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Aufl., 2013, Rn. 2326 ff. – im Folgenden kurz: Burhoff, EV – zugleich auch m.w.N. zur teilweise abweichenden landgerichtlichen Rechtsprechung), ggf. dadurch entgehen, dass er prüft, ob nicht möglicherweise eine stillschweigende Beiordnung erfolgt ist. Dazu sollte/muss er sich dann auf die o.a. Rspr. des BGH berufen.

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b) Beiordnungszeitpunkt

Weniger „schön“ als der Beschluss des BGH v. 4.11.2014 (1 StR 586/12, StraFo 2015, 27 – s.o. II. 1a) ist der BGH-Beschluss v. 20.10.2014 (5 StR 176/14, StRR 2015, 23; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen). Hier macht der BGH hinsichtlich der Frage, ob nicht ggf. schon vor einer verantwortlichen Vernehmung des Beschuldigten nach dessen Ergreifung – zumindest bei Kapitaldelikten – im Ermittlungsverfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist, einen weiteren Schritt zurück. Zu der Problematik hatte es die hoffungsvoll stimmende Entscheidung BGHSt 47, 172 gegeben, in der eine Pflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrags dann bejaht wurde, wenn der Tatverdacht von der Staatsanwaltschaft als „dringend“ erachtet wird und der Beschuldigte zugleich aufgrund der Lage des Verfahrens tatsächlich des Beistandes eines Verteidigers bedarf, was vor allem dann Fall sein dürfte, wenn die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls wegen eines Verbrechens stellt. Diese Auffassung hatte der BGH dann aber bereits in BGHSt 47, 233 relativiert (zur Entwicklung der Rechtsprechung Burhoff, EV, Rn. 2340 f.).

Jetzt hat der BGH erneut einen Schritt zurück gemacht und zur Begründung § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO herangezogen. Er führt aus, dass der BGH bereits mehrfach entschieden habe, dass nach geltendem Recht (§ 141 Abs. 3 S. 2 StPO) auch mit Bedacht auf Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK keine Pflicht bestehe, dem Beschuldigten bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren, etwa beginnend mit dem dringenden Verdacht eines (auch schweren) Verbrechens, einen Verteidiger zu bestellen (BGHSt 47, 233, 236 f.; NJW 2006, 1008, 1010; NStZ-RR 2006, 181, 182). Von dieser Rechtsprechung abzurücken, bestehe kein Anlass. Dies gelte umso mehr, als der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) den Zeitpunkt der rechtlich zwingenden Bestellung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in Kenntnis der bestehenden Rechtsprechung bewusst auf den Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft festgelegt habe. Nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO habe die Verteidigerbestellung „unverzüglich“ zu erfolgen, sofern der Haftbefehl nach seiner Verkündung nicht außer Vollzug gesetzt werde (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13097, S. 19). Erst mit der Aufrechterhaltung der Haft nach § 115 Abs. 4 S. 1 StPO liege eine Vollstreckung der Untersuchungshaft i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor. Forderungen, bereits frühere Ereignisse, wofür z.B. der Erlass eines Haftbefehls oder die Ergreifung des Beschuldigten in Betracht gekommen wären, zum Anlass für eine Beiordnung zu nehmen, hätten sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht, a.a.O., S. 16 f.).

Hinweis:

Damit dürfte der Auffassung in der Literatur eine Absage erteilt sein, die über den Wortlaut des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO - („…nach Beginn…“) – hinaus schon zu einem früheren Zeitpunkt die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 fordert (vgl. Deckers StraFo 2009, 441, 443; D. Herrmann StraFo 2011, 133; 136 f.; Ders., StV 2011, 652, 653; vgl. auch noch Heydenreich StraFo 2011, 263, 267: a.A. KK-Laufhütte/Willnow, StPO, 7. Aufl. 2013, § 141 Rn. 11; Radke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 141 Rn. 4; krit. Wohlers StV 2010, 151, 153 m.w.N. in Fn. 31 zu den insoweit auch krit. Stimmen in der Anhörung des Gesetzgebungsverfahrens).

Von Bedeutung ist der Beschluss des BGH v. 20.10.2014 (5 StR 176/14, StRR 2015, 23) noch aus einem weiteren Grund. Der BGH weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass im entschiedenen Fall die Polizeibeamten gegen § 115 Abs. 1 StPO verstoßen hatten, indem sie den Angeklagten nach seiner Ergreifung nicht unverzüglich dem zuständigen Gericht vorgeführt, die Vorführung vielmehr zum Zweck der Durchführung polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen aufgeschoben hatten (vgl. NJW 1990, 1188). Dieser Verfahrensfehler verenge jedoch – so der BGH – nicht den der Staatsanwaltschaft in § 141 Abs. 3 S. 2 StPO übertragenen Beurteilungsspielraum betreffend das Hinwirken auf sofortige Verteidigerbestellung. Vielmehr wäre es – sofern eingebunden – die Pflicht der Staatsanwaltschaft gewesen, nachhaltig für die Wahrung des Unverzüglichkeitsgebots nach § 115 Abs. 1 StPO Sorge zu tragen. Infolge der in erster Linie auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG zielenden Schutzrichtung des § 115 Abs. 1 StPO (vgl. BVerfG NStZ 1994, 551, 552; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 115 Rn. 1), sei das Interesse an frühzeitiger Verteidigerbestellung (vgl. auch KK/Graf, StPO, 7. Aufl., § 115 Rn. 1a) gleichsam als Reflex mit umfasst, könne die Verletzung dieser Vorschrift den Zeitpunkt rechtlich zwingender Verteidigerbestellung aber nicht vorverlagern.

Hinweis:

Das kann m.E. auch anders gesehen werden, wenn man es nicht sogar anders sehen muss. Allerdings fragt man sich grundsätzlich, warum der BGH zu dieser Frage überhaupt Ausführungen macht. Denn für die Revision kam es darauf, worauf der BGH ausdrücklich hinweist, nicht an, da der Angeklagte die Verletzung des in § 115 Abs. 1 StPO normierten Unverzüglichkeitsgebots mit seiner Verfahrensrüge nicht beanstandet, sondern sich vielmehr ausdrücklich auf die Rüge der unterlassenen Verteidigerbestellung beschränkt hatte. Warum man dann dazu Ausführungen in der Sache macht, erschließt sich mir nicht. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als habe der Verteidiger „vorgeführt“ werden sollen.

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c) Beiordnungsgründe

Das OLG Naumburg ist in einem Beschl. v. 4.12.2013 (2 Ss 151/13, StRR 2014, 70 m. abl. Anm. Wenske NStZ 2014, 117 f.) davon ausgegangen, dass eine Verständigung nach § 257c StPO i.d.R. geeignet ist, die Schwierigkeit der Rechtslage i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO zu begründen und hatte deshalb die Bestellung eines Pflichtverteidigers als erforderlich angesehen. Dem hat jetzt das OLG Bamberg im Beschl. v. 3.12.2014 (1 Ws 622/14, StraFo 2015, 67) widersprochen. In dem vom OLG Bamberg entschiedenen Fall war die in der Hauptverhandlung durch ihren Wahlverteidiger vertretene Angeklagte vom AG wegen Untreue in mehreren Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt worden. Dem Urteil war eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO vorausgegangen, deren Bestandteil u.a. das Geständnis der Angeklagten war. Gegen das erstinstanzliche Urteil legten sowohl die Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft, diese beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch, Berufung ein. Die Angeklagte wendet sich mit ihrer Berufung nicht nur gegen die Strafhöhe, sondern auch gegen den Schuldspruch. Nachdem die Angeklagte das Mandat ihres Wahlverteidigers gekündigt hat, hat sie dann bei der Berufungskammer beantragt, ihr einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Vorsitzende der Berufungskammer hat dies abgelehnt.

Die Beschwerde der Angeklagten hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des OLG Bamberg (StraFo 2015, 67) liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung insbesondere nicht allein deshalb vor, weil dem amtsgerichtlichen Urteil eine Verständigung gem. § 257c StPO zugrunde gelegen hat. Das OLG folgt insoweit nicht der Auffassung des OLG Naumburg (StRR 2014, 70). Eine Rechtslage sei – so das OLG Bamberg (a.a.O.) – dann schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen, oder wenn die Subsumtion im Einzelfall problematisch sei. Zutreffend weist Peglau (jurisPR-StrafR 6/2014 Anm. 2) darauf hin, dass der gesamte Strafprozess grundsätzlich fehleranfällig sei. Dieser Fehleranfälligkeit habe der Gesetzgeber bei der Verständigung u.a. mit der Regelung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausdrücklich Rechnung getragen. Der Gesetzgeber gehe i.Ü. davon aus, dass es Fälle gebe, in denen der Angeklagte auch im Rahmen eines Verständigungsprozesses keiner Verteidigung bedürfe. So heiße es in den Materialien (BT-Drucks. 16/12310, S. 2): „Der Gesetzesentwurf unterscheidet bewusst nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Angeklagten und schließt auch amtsgerichtliche Verfahren nicht von den Vorschriften über die Verständigung aus“. Auch sei die Regelung des § 257c Abs. 3 S. 4 StPO so zugeschnitten, dass es – jedenfalls beim Zustandekommen der Verständigung – der Mitwirkung eines Verteidigers überhaupt nicht bedürfe. Mit dieser Grundstruktur der gesetzlichen Regelungen sei die generelle Entscheidung des OLG Naumburg (a.a.O.) kaum vereinbar. Denn das Gesetz sehe ausführliche und qualifizierte Belehrungen im Verfahren über eine Verständigung vor (§ 257c Abs. 5 StPO). Deshalb sei nicht das Vorliegen einer Verständigung per se, sondern nur die Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalls geeignet, die Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers zu begründen.

Hinweis:

Mit der Entscheidung ist damit in der Rechtsprechung die Diskussion über die regelmäßige Beiordnung eines Pflichtverteidigers eröffnet. Die vom OLG Bamberg für seine ablehnende Auffassung gegebene Begründung ist m.E. nicht ausreichend. Der Hinweis auf die Materialien (BT-Drucks. 16/12310, S. 2) reicht nicht, da die angeführte Stelle nur allgemein zur Verständigung Stellung nimmt, die Fragen der Pflichtverteidigung aber im Gesetzesentwurf nicht behandelt werden. Daraus kann man nun – wenn man will – den Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber, eine Verständigung eben nicht automatisch als einen Fall der Pflichtverteidigung angesehen hat. Andererseits wird man nicht verkennen können/dürfen, dass die mit der Verständigung zusammenhängenden Fragen für den Laien kaum noch überschaubar sind. Und das dürfte vor allem in einem Fall wie dem vorliegenden gelten, wenn der Angeklagte von einer erstinstanzlichen Verständigung abrücken will. Da hilft dann auch nicht der Hinweis auf § 257c Abs. 5 StPO und die dort normierte Belehrungspflicht. Angesichts der zahlreichen Entscheidungen des BGH zu Fehlern bei bzw. nicht ausreichenden Belehrungen (vgl. dazu Krawczyk/Schüler StRR 2014, 284 und Deutscher StRR 2014, 288) ist das nur ein Scheinargument.

2. Besuchsüberwachung in der Untersuchungshaft

Seit der Änderung des § 119 StPO durch das „Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts“ v. 29.7.2009 (BGBl. I, S. 2274; vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, § 119 Rn. 2; SSW-Herrmann, StPO, § 119 Rn. 7 ff. m.w.N.; Burhoff ZAP F. 22 S. 489 ff.; D. Herrmann StRR 2010, 4) sind die (Ober-)Gerichte vor allem auch mit der Auslegung der Neufassung des § 119 StPO befasst. Dazu geht die h.M. inzwischen davon aus, dass anders als unter Geltung der UVollzO standardisierte Beschränkungen der Untersuchungshaftgefangenen in Form allgemeinverbindlicher Anordnungen nicht mehr zulässig sind (vgl. wegen weiterer Einzelheiten die Kommentierung bei Meyer-Goßner/Schmitt, § 119 Rn. 3 ff.; SSW-Herrmann, § 119 Rn. 7 ff. m.w.N.; König NStZ 2010, 185 ff.). Zulässig sind zwar grundsätzlich beschränkende Maßnahmen zur Überwachung der Außenkontakte, d.h. der Besuche, Telekommunikation und des Briefverkehrs sowie die Trennung von anderen Gefangenen, die an der Tat beteiligt waren. Eventuelle Beschränkungen sind von der zuständigen Stelle aber im Einzelfall genau zu prüfen und für den Einzelfall anzuordnen (KG StV 2010, 370; OLG Hamm, Beschl. v. 28.10.2014 – III-3 Ws 366/14; SSW-Herrmann, § 119 Rn. 22 ff. m.w.N.; D. Herrmann StRR 2010, 4, 11; König NStZ 2010, 185, 186 ff.). Einem Untersuchungshaftgefangenen dürfen zudem nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die zur Abwehr einer (realen), über die im Haftbefehl angenommene Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr hinausgehende Gefährdung des Haftzwecks erforderlich sind (inzwischen st. Rspr., u.a. Berliner VerfG StV 2011, 165; KG StV 2010, 370; 2014, 229; NStZ-RR 2013, 215 [Ls.]; StRR 2012, 203 [Ls.]; OLG Düsseldorf StV 2014, 550; OLG Hamm StV 2010, 368; Beschl. v. 28.10.2014 – III-3 Ws 366/14; OLG Köln StV 2013, 525; vgl. auch König NStZ 2010, 185, 186).

Diesen Rechtsprechungsstand fasst noch einmal das OLG Hamm (Beschl. v. 28.10.2014 – 3 Ws 366/14) zusammen, ergangen in BtM-Verfahren, in dem insgesamt die optische und akustische Besuchsüberwachung angeordnet worden war. Das OLG hat diese aufgehoben, soweit davon auch Besuche der Ehefrau und der Schwester des Beschuldigten erfasst wurden. Die Anordnung der optischen und akustischen Besuchsüberwachung sei nur zulässig, wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch nicht überwachter Besuche vorlägen, die eine Gefährdung des Haftzwecks begründen. Beschränkungen, die sich auf Besuche naher Angehöriger nachteilig auswirken, seien unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, aber auch unter angemessener Berücksichtigung der Belange der Allgemeinheit, zu begrenzen. Allein der Umstand, dass ein möglicher Missbrauch des Freiheitsrechtes – wie im entschiedenen Fall – lediglich nicht völlig auszuschließen ist, reiche bei der gebotenen, den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung nicht aus, um eine akustische Überwachung von Besuchen naher Angehöriger anzuordnen.

Hinweis:

Für Rechtsbehelfe gilt (vgl. auch Grube StV 2013, 534 ff.): Gegen richterliche Entscheidungen ist die Beschwerde gegeben, gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft betreffend Maßnahmen hinsichtlich der Untersuchungshaft als solcher gem. § 119 Abs. 5 StPO besteht die Möglichkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung, soweit nicht das Rechtsmittel der Beschwerde (§ 304 StPO) gegeben ist. Für einen gegen Beschränkungen nach § 119 StPO gerichteten Antrag kann auch nach deren Erledigung ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen, nunmehr betreffend die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit (BVerfG StraFo 2012, 129; ähnlich KG StRR 2012, 203 [Ls.]). Das Rechtsmittel kann i.Ü. von jedem eingelegt werden, der durch eine gerichtliche Anordnung betroffen ist, also z.B. auch von demjenigen, dem eine Besuchserlaubnis versagt wird (OLG Düsseldorf StV 2014, 229).

3. Durchsuchungsanordnung

Nach der „Edathy-Entscheidung“ des BVerfG (vgl. NJW 2014, 3085 = StRR 2014, 3839) hatte ich an sich einen „Damm-Bruch“ hinsichtlich der Voraussetzungen für die Anordnung einer Durchsuchung in Verfahren wegen des Verdachts des Erwerbs und Besitzes (anderer) kinder- oder jugendpornografischer Schriften (§ 184b StGB) erwartet. Ich war davon ausgegangen, dass die (Instanz-)Gerichte nun unter Hinweis auf diese Entscheidung zunehmend die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Straftat mit sog. erlaubtem Verhalten begründen und damit die schon eh nicht hohen Hürden für die Anordnung einer Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO) noch weiter absenken würden. Eine Entscheidung des LG Regensburg hat mich des Besseren belehrt (vgl. LG Regensburg, Beschl. v. 10.10.2014 – 2 Qs 41/14, StraFo 2015, 18). Dort ging es in einem Verfahren wegen Verdacht des Erwerbs und Besitzes (anderer) kinder- oder jugendpornografischer Schriften um den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses, den das AG abgelehnt hatte. Gegen den Beschuldigten bestand der Verdacht, dass er am 29.7.2010 über die Internetseite www...de von der Fa. X die Bildserie „… PHOTOS“ zum Download gegen einen Kaufpreis von 6,95 $ (5,33 €) bezogen hatte. Er hatte dabei seine Klarpersonalien, die E-Mail-Adresse „K…@“ und seine Kreditkarte benutzt. Die Bildserie zeigt nackte Kinder, zählt aber nach Beurteilung aller beteiligten Ermittlungsbehörden zu der sog. Kategorie II (nichtpornografische Nacktaufnahmen von Kindern und Jugendlichen). Die Fa. X vertrieb aber auch umfangreiches strafbares kinder- und jugendpornografisches Material (sog. Kategorie I).

Dieser Sachverhalt hat weder dem AG noch dem LG Regenburg (StraFo 2015, 18) für die Anordnung einer Durchsuchung gereicht. Verneint worden ist bereits die für die Anordnung einer Durchsuchung erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte eine bestimmte Straftat begangen hat. Erlaubtes Verhalten könne zwar bei der für die Beurteilung des Tatverdachts nötigen Gesamtabwägung durchaus im Einzelfall ein Indiz darstellen. Es könne jedoch für sich alleine genommen regelmäßig keine Grundlage für die Annahme einer für eine Wohnungsdurchsuchung ausreichenden Wahrscheinlichkeit i.S.d. § 102 StPO sein. Würde man nämlich – auch ggf. unter Beachtung kriminalistischer Erfahrungssätze oder sonstiger allgemeiner Überlegungen – alleine aus erlaubtem Verhalten die Wahrscheinlichkeit zusätzlichen verbotenen Tuns ableiten, so missachte man die vom Gesetzgeber vorgegebene Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem und eröffne die Möglichkeit von nahezu unbeschränkten Grundrechtseingriffen. Häufig würden sich nämlich Korrelationen zwischen erlaubtem und verbotenem Handeln finden (oder konstruieren) lassen, wozu das LG auf BtM-Verfahren und Verstöße gegen das WaffenG verweist. Dem stand nach Auffassung des LG nicht entgegen, dass das BVerfG in dem Fall Edathy die Anordnung der Durchsuchung der Wohnung als verfassungsgemäß beurteilt habe. Insoweit habe das BVerfG nämlich darauf hingewiesen, dass im Fall Edathy der Anfangsverdacht einer Straftat gerade nicht auf ein ausschließlich legales Verhalten des Beschuldigten ohne das Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte geknüpft worden sei. Damit sage das BVerfG gerade nicht, dass ein Tatverdacht alleine aus straflosem Verhalten begründet werden könne.

Das LG Regensburg (StraFo 2015, 18) hat sich dann – wohl abgewogen – mit den Umständen des Einzelfalls auseinander gesetzt und den Verdacht/die Wahrscheinlichkeit einer Straftat verneint. Der Kaufpreis von 5,33 € sei eher moderat gewesen, so dass der Beschuldigte insoweit keine besondere Hemmschwelle überwinden musste. Es sei nicht einmal ausgeschlossen, dass er die Serie nur aus Neugier erwarb. Zudem habe der Beschuldigte bei der Bestellung keine Verschleierungsmaßnahmen unternommen, die auf eine grundsätzliche Bereitschaft zu (auch) kriminellem Handeln schließen lassen könnten. Er habe das Bestellformular mit seinen echten Personaldaten ausgefüllt und nicht einmal eine Alias-E-Mail-Adresse (die man sich im Internet auch als Laie ohne großen Aufwand besorgen könne) genutzt. Ebenso wenig habe er seine IP-Adresse über einen der zahlreichen kostenlosen oder kostenpflichtigen Proxy-Dienste verschleiert. Weiterhin habe er, obwohl die Fa. X nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes über die betroffene Internetpräsenz auch umfangreiches kinderpornografisches Material anbot, gerade nicht solches Material bestellt.

Hinweis:

Das LG hat i.Ü. auch die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung verneint. Dazu weist es darauf hin, dass selbst wenn man aus allgemeinen kriminalistischen Erfahrungen annehmen wollte, dass gegen den Beschuldigten der Verdacht des Erwerbs oder Besitzes von kinder- oder jugendpornografischen Schriften bestünde, so könnten Stärke des Tatverdachts und Ausmaß des mutmaßlichen Tatumfangs nicht ansatzweise eingegrenzt werden. Es seien nämliche folgende Fragen nicht beantwortet:

  • Handelt es sich um ein einziges jugendpornografisches Bild, das vor vielen Jahren erworben wurde?
  • Handelt es sich um hunderte oder gar tausende Bilder und Videofilme?
  • Was genau zeigen diese mutmaßlichen Schriften, unter welchen Umständen und mit welchen Vorstellungen hat der Beschuldigte sie wie und von wem erworben?

Das sind i.Ü. Fragen, die man auch in Zukunft nach Änderung des § 184b StGB nicht übersehen darf (vgl. zu den Änderungen BT-Drucks. 18/2601).

Inhaltsverzeichnis

III. Hauptverhandlung

1. Nemo-tenetur-Grundsatz

Bei Verletzung des „nemo-tenetur-Grundsatzes reagieren die Obergerichte empfindlich. Das merkt man häufig an der Wortwahl der Revisionsgerichts, wo Begriffe/Formulierungen wie „rechtlich unzulässig“ und/oder „eklatanter Verstoß“ auftauchen. So auch im Beschluss des OLG Brandenburg v. 27.8.2014 ([1] 53 Ss 90/14 [46/14], NStZ-RR 2015, 53). Da hatte die Jugendrichterin im AG-Urteil ausgeführt: „Auch die Tatsache, dass der Angeklagte keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht hat, wie er sonst in den Besitz des Handy gekommen sein könnte, spricht für seine Täterschaft. Zur Strafzumessung hieß es in den Urteilsgründen: „Die fehlende Äußerung zur Person lässt jedoch eher negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten zu, denn offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen. Das OLG (a.a.O.) hat hierin u.a. eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) gesehen. Soweit die Jugendrichterin den Schuldspruch u.a. damit begründet habe, dass das Schweigen des Angeklagten in der Hauptverhandlung („keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht) für dessen Täterschaft spreche, habe sie gegen ein Beweisverwertungsverbot von Verfassungsrang verstoßen. Es gehöre zu den übergeordneten Rechtsgrundsätzen, dass ein Beschuldigter bzw. Angeklagter grundsätzlich nicht verpflichtet sei, aktiv zur Sachaufklärung beizutragen („nemo tenetur se ipsum accusare“ bzw. „nemo tenetur se ipsum prodere“; vgl. zuletzt: BVerfG NJW 2013, 1058, 1061; BGH NStZ 2009, 705). Ausdruck des nemo-tenetur-Grundsatzes seien die in §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2 und § 243 Abs. 5 S. 1 StPO normierten Belehrungspflichten. Die vom AG gezogene Folgerung von dem Schweigen („keinerlei entlastenden Angaben“) auf die Täterschaft des Angeklagten sei rechtlich unzulässig. Die Jugendrichterin habe bei dem zur Sache umfassend schweigenden Angeklagten den Umstand, dass er von seinem prozessualen Recht zum Schweigen Gebrauch gemacht hat, nicht als belastendes Indiz verwerten dürfen. Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO finde ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen. Dieses Abwehrrecht eines Beschuldigten gegen staatliche Eingriffe werde durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet (BVerfGE 56, 37, 49; BGHSt 45, 363 ff.; BGHSt 49, 56, 59). Auch soweit das AG bei der Strafzumessung aus Schweigen des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen („fehlende Äußerung zur Person“) negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten gezogen und bei der Strafzumessung zu seinen Lasten berücksichtigt habe („offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen“), sei – so das OLG – ein eklatanter Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz gegeben. Die mangelnde Mitwirkung des Angeklagten an der Sachaufklärung, auch zu seiner Person, dürfe ihm nicht strafverschärfend angelastet werden (BGH StraFo 2013, 340).

Hinweis:

Das umfassende prozessuale Recht des Angeklagten zum Schweigen beinhaltet sowohl das Schweigen zur Tat als solche als auch zu den persönlichen Verhältnissen. Aus dem Gebrauch des Schweigerechts dürfen also weder Rückschlüsse hinsichtlich der Tat noch auf die Strafe gezogen werden (zu allem auch Burhoff, EV, Rn. 1239 ff.).

Inhaltsverzeichnis

2. Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO)

Eine „sichere Bankfür die Revision des Angeklagten ist das Verfahren der Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO). Das beweist die doch recht große Anzahl von erfolgreichen Revisionen beim BGH, die die damit zusammenhängenden Fragen zum Gegenstand haben. Die „Fehleranfälligkeit“ des Verfahrens bei den Tatgerichten überrascht insofern, weil eben der BGH immer wieder zu den Fragen Stellung genommen hat (vgl. u.a. zuletzt z.B. BGH NStZ 2014, 532 = StRR 2014, 341). Auch der große Senat des BGH für Strafsachen hat sich ja schon mit der Vorschrift beschäftigen müssen (s. BGHSt 55, 87). Es ist erstaunlich, dass das, was der BGH zu der Vorschrift/dem Verfahren „anzumerken“ hat, bei den Instanzgerichten offenbar nicht ankommt. Das beweist dann auch mal wieder der BGH (Beschl. v. 23.9.2014 – 4 StR 302/14, StRR 2015, 25), mit einer – schon fast üblichen – Konstellation:

In einem Verfahren wegen des Vorwurfs des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes wurde der Angeklagte in der Hauptverhandlung für die Dauer der zeugenschaftlichen Vernehmung der Nebenklägerin durch Beschluss der Strafkammer gem. § 247 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernt. Nach ihrer Aussage blieb die Zeugin auf Anordnung des Vorsitzenden unvereidigt und wurde entlassen. Nachdem der Angeklagte daraufhin den Sitzungssaal wieder betreten hatte, informierte ihn der Vorsitzende über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Nebenklägerin. Der Verteidiger des Angeklagten teilte dem Gericht nach kurzer Unterbrechung und Beratung mit seinem Mandanten mit, es gebe noch drei Ergänzungsfragen. Für die ergänzende Vernehmung wurde der Angeklagte erneut nach § 247 StPO von der Teilnahme an der Vernehmung ausgeschlossen. Abermals blieb die Zeugin unvereidigt und wurde entlassen. Erst danach betrat der Angeklagte wieder den Sitzungssaal. Der Angeklagte hat mit der Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht.

Der BGH (StRR 2015, 25) hat das landgerichtliche Urteil aufgehoben und zurückverwiesen. Der Angeklagte sei entgegen § 247 StPO auch von der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin als Zeugin nach deren zweiter Vernehmung ausgeschlossen gewesen. Dies begründe den Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO, denn die Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin war, auch wenn es sich um eine ergänzende Vernehmung handelte, ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH sei die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, die währenddessen fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 S. 1 oder S. 2 StPO entfernten Angeklagten also regelmäßig geeignet, den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu begründen (BGHSt 55, 87, 92). Die das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht des Angeklagten betreffenden Vorschriften bezweckten u.a., dem Angeklagten eine uneingeschränkte Verteidigung zu ermöglichen, insbesondere aufgrund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung. Das werde ihm durch seinen Ausschluss von der Verhandlung über die Entlassung der Zeugin erschwert, weil er in unmittelbarem Anschluss an die Zeugenvernehmung keine Fragen oder Anträge stellen könne, die den Verfahrensausgang beeinflussen können. Bei dem Vorwurf von Sexualstraftaten liege es nahe, dass Umstände zum Tatgeschehen selbst dann erörtert werden, wenn es nur deshalb zu einer erneuten Vernehmung der Opferzeugin kommt, weil Fragen zum Randgeschehen noch geklärt werden müssen. Gemessen daran komme auch der ergänzenden Vernehmung einer Opferzeugin grundsätzlich erhebliche Bedeutung für das Verfahren zu.

Hinweis:

Der (erfolgreiche) Weg zur Aufhebung führt in diesen Fällen über die Verfahrensrüge, für die § 344 Abs. 2 S. 2 StPO gilt. Der erfordert in diesem Fall nach der Rechtsprechung des BGH zwar keine Ausführungen zum Inhalt der zweiten Vernehmung, um darzulegen, dass es sich auch bei der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin nach ihrer zweiten Vernehmung um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung gehandelt hat (BGH NStZ 2014, 532, 533 = StRR 2014, 341). Der Verteidiger sollte aber dazu ggf. rein vorsorglich Ausführungen machen, um an der Stelle von vornherein ein „Einfallstor“ für die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge zu vermeiden.

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3. Kostenentscheidung im Urteil/Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO

In den vergangenen Jahren hat der Tod des Asylbewerbers Ouri Jallow mehrfach den BGH beschäftigt, bevor dieser das Verfahren, das bundesweites Aufsehen erregt hatte, materiell durch die Endentscheidung im Urteil v. 4.9.2014 (4 StR 473/13, NJW 2015, 96, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen) seinen Abschluss gefunden hat. Das Verfahren hatte auch einen kostenrechtlichen Aspekt, zu dem der BGH in seinem Beschluss Beschl. v. 8.10.2014 (4 StR 473/14, NStZ-RR 2014, 390) Stellung genommen hat. Es ging dabei um die Frage der Anwendung der Vorschrift des § 465 Abs. 2 StPO, die ein Schattendasein führt, wenn im Strafverfahren durch Untersuchungen zur Aufklärung bestimmter Umstände besondere Auslagen entstanden und diese Untersuchungen zugunsten des Angeklagten ausgegangen sind.

Im Verfahren Jallow hatte das LG Dessau-Roßlau den Angeklagten 2008 vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der BGH dieses Urteil dann mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG Magdeburg zurückverwiesen. Dieses verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe. Ferner verpflichtete es den Angeklagten, die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten, die für die Gutachtenerstattung eines Sachverständigen entstanden waren, und die notwendigen Auslagen der Nebenkläger zu tragen. Die gegen dieses Urteil gerichteten Revisionen des Angeklagten, von drei Nebenklägern und der StA hat der BGH erneut – mit Urt. v. 4.9.2014 (4 StR 473/13, NJW 2015, 96) – verworfen. Mit seiner gegen die Kostenentscheidung des LG Magdeburg gerichteten sofortigen Beschwerde hat der Angeklagte geltend gemacht, dass – mit einer entsprechenden Kostenfolge – ein Teilfreispruch geboten gewesen wäre und „nur in minimalem Umfang zu den Tatsachen und Rechtsansichten verhandelt [worden sei], die jetzt zur Verurteilung“ geführt hätten. Zudem sei „die Überbürdung der Gesamtkosten … unverhältnismäßig“.

Das Rechtsmittel hatte beim BGH (Beschl. v. 8.10.2014 – 4 StR 473/14, NStZ-RR 2014, 390) keinen Erfolg. Der BGH erörtert in dem Zusammenhang die Frage, ob ggf. auf der Grundlage von § 465 Abs. 2 StPO nicht eine von der landgerichtlichen Kostenentscheidung abweichende Auslagenverteilung veranlasst gewesen wäre. Nach § 465 Abs. 2 StPO hat das Gericht die entstandenen Auslagen ganz oder teilweise der Staatskasse aufzuerlegen, wenn durch Untersuchungen zur Aufklärung bestimmter Umstände besondere Auslagen entstanden sind, diese Untersuchungen zugunsten des Angeklagten ausgegangen sind und es unbillig wäre, den Angeklagten mit diesen Auslagen zu belasten (vgl. BGHR StPO § 465 Abs. 2 Billigkeit 3). Dies gilt namentlich dann, wenn der Angeklagte wegen einzelner abtrennbarer Teile einer Tat oder wegen einzelner von mehreren Gesetzesverletzungen nicht verurteilt wird. Entscheidend dafür ist, ob die tatsächlich erfolgten Untersuchungen auch dann notwendig gewesen wären, wenn Anklage und Eröffnungsbeschluss von vornherein dem späteren Urteil entsprochen hätten (BGH NStZ 1982, 80; KK-StPO/Gieg, 7. Aufl. 2013, § 465 Rn. 5). Diese Voraussetzungen seien jedoch – so der BGH – nicht allein deswegen erfüllt, weil die Verurteilung leichter wiegt als der ursprüngliche Vorwurf und die Tateinheit zwischen dem zur Verurteilung gelangten und dem ursprünglich erhobenen Tatvorwurf einen Teilfreispruch nicht zulässt (BGH NStZ 1986, 210 bei Pfeiffer; KK-StPO/Gieg a.a.O.). Zwar könne auch in solchen Fällen eine Quotelung erfolgen (vgl. u.a. BGH StraFo 2005, 438). Der BGH verweist dann darauf, dass angesichts der Besonderheiten des Falls eine weitere Aufteilung der angefallenen Auslagen auch unter Berücksichtigung von deren Höhe nicht geboten gewesen sei. Denn die Einholung der Sachverständigengutachten und die Vernehmung der Zeugen wären zur gesetzlich gebotenen Sachaufklärung veranlasst und auch dann unerlässlich gewesen, wenn die Anklage von vornherein nicht auf Körperverletzung mit Todesfolge, sondern auf fahrlässige Tötung gelautet hätte (BGHR StPO § 465 Abs. 2 Billigkeit 2; vgl. dazu OLG Rostock, NStZ 2001, 199).

Hinweis:

Verteidiger sollten die Vorschrift des § 465 Abs. 2 StPO, mit der sich die Gerichte manchmal schwer tun, nicht übersehen, weil in ihr eine Menge Geld für den Mandanten stecken kann. Deshalb sollte in geeigneten Fällen ein entsprechender Antrag ggf. schon im Plädoyer gestellt bzw. der Weg über die sofortige Beschwerde zum Beschwerdegericht gegangen werden.

Dazu geeignet sind nicht nur „große Fälle/Verfahren“, sondern auch die Alltagsfälle. So kann die Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO z.B. dazu führen, dass dann, wenn ein wegen des Verdachts einer Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB Angeklagter im Ergebnis neben der Verhängung eines Fahrverbots nach § 25 Abs. 1 StVG „nur“ zu einer Geldbuße wegen fahrlässigen Verstoßes gegen § 24a Abs. 1, 3 StVG verurteilt wird – eine in der Praxis nicht seltene Konstellation –, die Kosten, die durch den Transport zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration entstanden sind, dem Angeklagten nur zur Hälfte auferlegt werden (dürfen) (LG Berlin NZV 2011, 213; ähnlich LG Hildesheim NZV 2010, 48).

Als Verteidiger muss man die Vorschrift zudem auch im Bußgeldverfahren im Blick haben. So hat z.B. das LG Wuppertal bei einem Betroffenen, dem eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h vorgeworfen worden war, der aber durch ein von ihm beantragtes Sachverständigengutachten seine Darstellung, es habe sich nur um eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 19 km/h gehandelt, womit die Verhängung eines Fahrverbots ausschied, die Kosten des Sachverständigengutachtens gem. § 46 Abs. 2 i.V.m. § 465 Abs. 2 StPO der Staatskasse auferlegt (vgl. StraFo 2010, 88 = VRR 2009, 158 m. Anm. Burhoff).

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IV. Rechtsmittelverfahren

Von ggf. weit reichender Bedeutung ist eine Verfügung des Vorsitzenden des 2. Strafsenats des BGH (Verf. v. 25.9.2014 – 2 StR 163/14, NJW 2014, 3527 = StRR 2015, 25; zur Aufnahme in BGHSt vorgesehen). In der Verfügung hat der Vorsitzende zur Notwendigkeit der Teilnahme eines Verteidigers in der Revisionshauptverhandlung Stellung genommen. In der Revisionshauptverhandlung war für den abwesenden Angeklagten dessen Wahlverteidiger nicht erschienen. Dieser hatte am Tag zuvor schriftlich mitgeteilt, dass er zur Hauptverhandlung nicht anreisen werde. Der Senat hat daraufhin die Hauptverhandlung über die Revisionen der Staatsanwaltschaft ausgesetzt, weil der Angeklagte nicht verteidigt war. Für die neu anberaumte Revisionshauptverhandlung hat der Senatsvorsitzende den bisherigen Wahlverteidiger zum Pflichtverteidiger bestellt.

Zur Begründung wird darauf verwiesen (vgl. BGH a.a.O.), dass es zwar nach § 350 Abs. 1 S. 1 StPO zulässig sei, die Revisionsverhandlung ohne den gewählten Verteidiger des Angeklagten durchzuführen. Auch sei die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen inhaftierten Angeklagten ohne dessen Antrag nur erforderlich, wenn ein „schwerwiegender Fall“ vorliege oder die Rechtslage besonders schwierig sei. Diese Praxis wird gerügt. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK, der vorsehe, dass der Angeklagte das Recht habe, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Wahlverteidiger vertreten zu lassen oder, soweit die finanziellen Voraussetzungen gegeben seien und die Rechtspflege es erfordere, einen Pflichtverteidiger gestellt zu bekommen, sei mit der komplett fehlenden Verteidigung im Revisionshauptverhandlung nicht in Einklang zu bringen. Denn am Ende jeder Revisionshauptverhandlung könne eine den Angeklagten beschwerende Entscheidung ergehen. Wenn der Angeklagte, was regelmäßig der Fall sei, selbst keine Möglichkeit habe, sich hier zu verteidigen und auch der Wahlverteidiger abwesend sei, stehe der Angeklagte in der letzten und bei Urteilen der Großen Strafkammern der LG bzw. erstinstanzlichen Strafurteilen der OLG auch einzigen Rechtsmittelinstanz gänzlich ohne Verteidigung und damit ohne rechtliches Gehör da. Dies gelte in erster Linie für Revisionen der Staatsanwaltschaft oder Nebenkläger, jedoch auch für Revisionen des Angeklagten selbst.

Hinweis:

Damit liegt eine weitere Entscheidung aus dem 2. Strafsenat, der sich unter seinem neuen Vorsitzenden zu einem „Unruhestifter“, wenn nicht sogar zu einem „Rebellensenat“ zu entwickeln scheint, vor. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob die übrigen Strafsenate des BGH dieser angeklagtenfreundlichen Linie folgen.

Die Entscheidung hat m.E. auch Auswirkungen auf die Pflichtverteidigung in der Revisionshauptverhandlung bei den OLG. Zwar steht dem Angeklagten hier i.d.R. eine zweite Tatsacheninstanz zur Verfügung, in der er sich in vielen Fällen häufig selbst verteidigen (können) wird. Allerdings dürfte das für die Revisionshauptverhandlung beim OLG kaum der der Fall sein. In den Fällen wird also die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nun auf jeden Fall in Betracht zu ziehen sein.

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V. Strafzumessung

Ich habe zuletzt in ZAP F. 22 R, S. 820 ff. über die Rechtsprechung der Obergerichte, vor allem die des BGH, zu Strafzumessungsfragen berichtet. Daran schließen die nachfolgenden Ausführungen an, die allerdings wegen der großen Zahl von Entscheidungen, die sich mit den Fragen befassen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

1. Allgemeine Erwägungen

Sachverhalt

Begründung

Im Berufungsverfahren wird eine gleich hohe Strafe wie vom Erstrichter verhängt bzw. die vom Berufungsgericht erkannte Strafe weicht nur geringfügig von der erstinstanzlich festgesetzten nach unten ab, obwohl es von einem wesentlich geringeren Strafrahmen ausgeht.

Sachlich-rechtlicher Fehler, wenn dafür keine nähere Begründung gegeben wird. Für die Einschätzung der Geringfügigkeit der Abweichung ist das Verhältnis der in erster und zweiter Instanz (aus unterschiedlichen Strafrahmen) tatsächlich erkannten Strafen zueinander maßgeblich, s. KG, Beschl. v. 14.1.2014 – (4) 121 Ss 229/13).

Strafschärfende Berücksichtigung nicht angeklagter Taten.

Grundsätzlich zulässig, allerdings nur, wenn diese Taten prozessordnungsgemäß und so bestimmt festgestellt sind, dass sie in ihrem wesentlichen Unrechtsgehalt abzuschätzen sind und eine unzulässige Berücksichtigung des bloßen Verdachts weiterer Straftaten ausgeschlossen werden kann (BGH, Beschl. v. 7.8.2014 – 3 StR 438/13, NJW 2014, 3259).

Im Rahmen der Gesamtstrafenbildung wird die Einsatzstrafe erheblich überschritten.

Bedarf einer eingehenden Begründung (OLG Koblenz, Beschl. v. 21.10.2013 – 2 Ss 142/13; vgl. auch BGH JR 2012, 35 für Sexualdelikt).

Die geständige Einlassung des Angeklagten wird in den Strafzumessungsgründen nicht ausdrücklich erwähnt.

Zwar kann aus der Tatsache, dass ein für die Strafzumessung bedeutsamer Punkt nicht ausdrücklich angeführt worden ist, nicht ohne weiteres geschlossen werden, der Tatrichter habe ihn überhaupt nicht gesehen oder nicht gewertet. Das Geständnis eines Angeklagten ist allerdings grds. ein bestimmender Strafzumessungsgrund (BGHSt 43, 195, 209; BGH DAR 1999, 195 f.), der i.d.R. erwähnt werden muss, wenn es daran gemessen (BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 4 StR 502/13).

Bei der konkreten Strafbemessung (in einem BtM-Verfahren) wird zugunsten des Angeklagten ein bereits im Ermittlungsverfahren abgelegtes Geständnis berücksichtigt, dessen Wert allerdings eingeschränkt, weil der Angeklagte zu anderen früheren Taten die Unwahrheit gesagt hatte.

Rechtsfehlerhaft, wenn der Umstand, dass der Angeklagte zu Taten die Unwahrheit gesagt hat, mit dem verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs in keinem Zusammenhang steht (BGH, Beschl. v. 19.11.2013 - 2 StR 466/13).

Bei der Bemessung einer Jugendstrafe wird berücksichtigt, dass der Angeklagte einen weiteren – nicht angeklagten Überfall – geplant und dieser Überfall ohne sein Zutun und zu seiner Verärgerung gescheitert war.

Zulässig, kann vor dem Hintergrund des Erziehungsgedankens berücksichtigt werden (BGH, Urt. v. 2.4.2014 – 2 StR 349/13).

Die vierfache Begehung von Überfällen innerhalb kurzer Zeit wird straferhöhende Bedeutung beigemessen.

Kann unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Charakters der Handlungen als Tatserie zulässig sein (BGH, Urt. v. 2.4.2014 – 2 StR 349/13).

Das Gericht sieht von einer Milderung ab, weil der „Angeklagte den schweren Taterfolg in Gestalt des Todes eines Menschen unschwer hätte verhindern können“.

Argumentation begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, das strafbegründende Unterlassen selbst darf nicht zugleich als Grund für die Versagung der Strafmilderung herangezogen werden (BGH, Beschl. v. 21.8.2014 – 3 StR 203/14).

Der Umstand, dass der Angeklagte „grundlos“ gegen das Tatopfer vorgegangen ist, oder, dass das Opfer dem Täter „keinerlei Anlassfür die Tat geboten hat, wird strafschärfend berücksichtigt.

Unzulässig. Das Fehlen mildernden Umstände berechtigt nicht, dies zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen (BGH, Urt. v. 9.10.2013 – 2 StR 119/13, NStZ 2014, 512 = StV 2014, 478).

Untersuchungshaft als allgemeiner Strafmilderungsgrund.

Untersuchungshaft ist, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehenden Beschwernisse verbunden. Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden (BGH, Beschl. v. 19.12.2013 – 4 StR 302/13, StV 2014, 611 [Ls.]).

Dem Angeklagten wird angelastet, er habe versucht, „den Lebenswandel der Geschädigten gegen sie zu verwenden, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken“.

Unzulässig, es sei denn der Angeklagte hat mit seinen sich gegen die Glaubwürdigkeit der Geschädigten richtenden Einwänden die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens überschritten (BGH, Beschl. v. 7.5.2014 – 5 StR 151/14).

Es wird eine nach der verfahrensgegenständlichen Tat ergangene (Vor-)Verurteilung strafschärfend berücksichtigt.

Grundsätzlich unzulässig. Zulässig nur dann, wenn die dieser Verurteilung zugrunde liegende Straftat nach ihrer Art und nach der Persönlichkeit des Täters auf Rechtsfeindlichkeit, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche schließen lässt (BGH, Beschl. v. 17.4.2014 – 3 StR 133/14; s.a. BGH, Beschl. v. 9.11.2006 – 5 StR 338/06, NStZ 2007, 150), was sich den Feststellungen entnehmen lassen muss.

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2. Deliktsbezogene Erwägungen

Sachverhalt

Begründung

Bei einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen §§ 113, 125a StGB wird darauf abgestellt, dass sich die strafbaren Angriffe gegen „Repräsentanten des Staates“ gerichtet haben.

Im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) nicht unbedenklich (BGH, Urt. v. 9.10.2013 – 2 StR 119/13, NStZ 2014, 512 = StV 2014, 478).

Bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§§ 176, 176a StGB) wird dem Angeklagten angelastet, dass er sich über die Interessen des missbrauchten Kindes hinwegsetzt hat.

Unzulässig, denn das gehört zum Regelbild der Tatbestände der §§ 176, 176a StGB (BGH, Beschl. v. 8.1.2014 – 3 StR 318/13, NStZ 2014, 409 = StV 2014, 741).

Bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§§ 176, 176a StGB) wird zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er sich aus egoistischen Gründen in gravierender Form und mit einem erheblichen Maß an krimineller Energie über die Rechtsordnung hinweggesetzt und seine eigenen sexuellen Bedürfnisse über die Integrität des Kindes gestellt hat.

Rechtsfehlerhaft, weil damit darauf abgestellt wird, dass der Angeklagte die Straftaten überhaupt begangen hat (BGH, Beschl. v. 8.1.2014 – 3 StR 318/13, NStZ 2014, 409 = StV 2014, 741).

Beim schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes wird strafschärfend auf die Erwägung abgestellt, „die Nebenklägerin (sei) auf unbestimmte Zeit dem Risiko ausgesetzt, psychische Beeinträchtigungen infolge der Taten zu erleiden“.

Unzulässig, Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB (BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – 4 StR 379/13).

Der Umstand, dass der Angeklagte ca. eineinhalb Jahre vor der Entdeckung der Taten des sexuellen Missbrauchs die Übergriffe auf seine Tochter eingestellt habe, weil er „gewahr (wurde), dass er seiner Tochter Schaden zufügte und er begann, sie als Opfer seines Handelns wahrzunehmen“, wird nicht zugunsten des Angeklagten berücksichtigt.

Bedenklich (BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – 4 StR 379/13).

Dem Angeklagten wird bei der Strafbemessung wegen Mordes (§ 211 StGB) wesentlich angelastet, dass die Tat „mit nicht unerheblicher Brutalität und massiver Gewaltanwendung einherging“ und dass „objektiv ein erhebliches Missverhältnis zwischen der Tat und deren Anlass“ bestand.

Anlass und Modalitäten der Tat dürfen nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar sind; nicht aber, wenn ihre Ursache in einer vom Angeklagten nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenden geistig-seelischen Beeinträchtigung zu finden ist (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 104; 2012, 169; Beschl. v. 12.3.2014 – 5 StR 69/14; BGH, Beschl. v. 9.4.2014 – 5 StR 106/14).

Bei einer Verurteilung wegen Totschlags (§ 212 StGB) wird straferschwerend berücksichtigt, dass der Täter objektiv zurechenbar die äußeren Mordmerkmale verwirklicht hat, auch wenn der Mordtatbestand in subjektiver Hinsicht nicht erfüllt ist.

Zulässig, allerdings müssen die Urteilsgründe die Verwirklichung der äußeren Mordmerkmale uneingeschränkt nachweisen. Es genügt nicht die „Nähe zu den äußeren Mordmerkmalen“ (BGH, Beschl. v. 29.8.2013 – 2 StR 44/13).

Bei einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags (§§ 212, 23 StGB) wird bei der Prüfung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB auf das „Fehlen von Rücktrittsbemühungen“ bzw. das „Fehlen von Rettungsbemühungen“ zum Nachteil des Angeklagten abgestellt.

Unzulässig, da diese Ausführungen im Ergebnis nur die Feststellung darstellen, dass der Angeklagte vom Versuch nicht strafbefreiend zurückgetreten ist, was jedoch erst die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags begründet und daher im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB einer Strafrahmenmilderung nicht entgegenstehen kann (BGH, Beschl. v. 6.11.2013 – 1 StR 525/13, StV 2014, 411).

Bei einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags (§§ 212, 23 StGB) wird strafschärfende erwogen, dass der Geschädigte die Tat nicht veranlasst habe.

Bedenklich, da die Erwägungen geeignet sind, die Besorgnis zu erwecken, dass dem Angeklagten das Fehlen eines Strafmilderungsgrundes zur Last gelegt wird (BGH, Beschl. v. 6.11.2013 – 1 StR 525/13, StV 2014, 411).

Bei einer Verurteilung wegen einer Rauschtat (§ 323a StGB) wird die Höhe der Blutalkoholkonzentration strafschärfend berücksichtigt.

Unzulässig, da damit der Grund der Strafbarkeit, nämlich der Rausch, strafschärfend gewertet wird, also Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB (OLG Braunschweig, Beschl. v. 4. 7. 2014 – 1 Ss 36/14, VRR 2014, 431).

Bei einer Rauschtat mit Verkehrsunfall (§ 323a StGB) wird der hohen Schaden von ca. 9.000 €) zu Lasten des Angeklagten gewertet.

Der Schaden darf als besondere Folge der Tat berücksichtigt werden, obgleich sich die Strafzumessung grds. an den tatbezogenen Umständen der Rauschtat zu orientieren hat und die Gefährdung des Täterfahrzeugs bei § 315c StGB nicht vom Schutzbereich erfasst wird (OLG Braunschweig, Beschl. v. 4.7.2014 – 1 Ss 36/14, VRR 2014, 431).

Bei einer Rauschtat (§ 323a StGB) – Diebstahl eines Baby-Notfall-Koffers – wird berücksichtigt, dass die Rauschtat „sinnlos“ oder „hässlich“ war.

Unzulässig. Bei der Strafzumessung einer Tat nach § 323a StGB dürfen die Motive und die Gesinnung des Täters, die zu der im Rausch begangenen Tat geführt haben, bei der Strafzumessung nicht zu seinem Nachteil herangezogen werden, sondern lediglich tatbezogene Merkmale, wie Art, Umfang, Schwere und Gefährlichkeit (OLG Hamm, Beschl. v. 18.2.2014 – 1 RVs 12/14, StRR 2014, 395).

Beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln wird der Strafrahmen aus § 29 Abs. 3 S. 1 BtMG angewendet und dabei ausgeführt, dass negativ ins Gewicht fiel, dass der Angeklagte gewerbsmäßig handelte und somit jeweils ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall erfüllte.

Unzulässig, denn die ein Regelbeispiel bestimmenden Umstände sind wie Tatbestandsmerkmale zu behandeln. Es verstößt daher gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB, wenn die zur Begründung eines besonders schweren Falls nach § 29 Abs. 3 BtMG aufgeführten Umstände bei der Strafzumessung im engeren Sinne zu Lasten des Angeklagten nochmals berücksichtigt werden (BGH, Beschl. v. 15.10.2014 – 2 StR 25/14, StraFo 2014, 517).

Bei einer Verurteilung wegen Handeltreibens mit unterschiedlichen Kleinmengen von verschiedenen Betäubungsmitteln werden gleichförmige Einzelstrafen verhängt.

Das lässt besorgen, dass die nach § 46 Abs. 2 S. 1 StGB erforderliche Abwägung nicht rechtsfehlerfrei vorgenommen worden ist (BGH, Beschl. v. 15.10.2014 – 2 StR 25/14, StraFo 2014, 517).

Bei einer Verurteilung wegen eines BtM-Delikts wird zu Lasten des Angeklagten dessen hohe kriminelle Energie berücksichtigt, „zumal hier nicht eigener Suchtdruck oder massive finanzielle Nöte Triebfeder des Handelns waren, sondern reines Gewinnstreben“.

Unzulässig, denn diese Formulierung lässt nicht nur besorgen, dass entgegen § 46 Abs. 3 StGB mit dem Gewinn-streben ein bereits zum Tatbestand des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gehörender Umstand verwertet worden ist, sie deutet darüber hinaus darauf hin, dass das bloße Fehlen genannter strafmildernder Umstände strafschärfend berücksichtigt wurde (BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 2 StR 616/13; vgl. auch BGH NStZ 2013, 46; NStZ-RR 2010, 24).

Verhängung einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten wegen des Besitzes von 19,3 g Haschisch.

Rechtsfehlerhaft. Stellt auch bei einem mehrfach einschlägig vorbestraften Täter keinen gerechten und angemessenen Schuldausgleich mehr dar (OLG Hamm, Beschl. v. 6.3.2014 – 1 RVs 10/14, StRR 2014, 354).

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VI. Gebührenfragen/Grundgebühr nach dem 2. KostRMoG

Das 2. KostRMoG v. 23.7.2013 (BGBl 2013, S. 2586) hat in Nr. 4100 VV RVG eine Änderung gebracht, die einen bis dahin in Rechtsprechung und Literatur bestehenden Streit erledigt hat. In der Vergangenheit war nämlich das Verhältnis der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG zur jeweiligen Verfahrensgebühr nicht eindeutig geklärt. Dazu ist dann teilweise unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung zur Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und den dort beschriebenen eigenen Abgeltungsbereich der Grundgebühr (dazu BT-Drucks. 15/1971, S. 222) die Auffassung vertreten worden, dass die/eine Verfahrensgebühr erst entsteht, wenn der Abgeltungsbereich der Grundgebühr überschritten worden ist (Burhoff in Burhoff (Hrsg.), RVG Straf- und Bußgeldsachen, 3. Aufl. 2011, RVG, Nr. 4100 VV Rn. 20; KG RVGreport 2009, 186 = StRR 2009, 239 = AGS 2009, 271). Teilweise ist man aber auch davon ausgegangen, dass die Grundgebühr immer neben der/einer Verfahrensgebühr entsteht, da es sich bei dieser um eine „Betriebsgebühr“ handle (insb. AnwK-RVG/N. Schneider, RVG, 6. Aufl., VV Vorbem. 4 Rn. 22; AG Berlin-Tiergarten RVGreport 2009, 395 = StRR 2009, 237 = AGS 2009, 322). Der Gesetzgeber hat sich im 2. KostRMoG für die letzte Auffassung entschieden. In Abs. 1 der Anm. zu Nr. 4100 VV RVG ist nämlich der Passus eingefügt worden: „neben der Verfahrensgebühr“. Damit ist jetzt klargestellt, dass die Grundgebühr „den Charakter einer Zusatzgebühr hat, die den Rahmen der Verfahrensgebühr erweitert“ (BT-Drucks. 17/11471, S. 281; vgl. auch Burhoff RVGreport 2014, 42).

Dazu liegt inzwischen erste Rechtsprechung von Ober- und Instanzgerichten vor, die diese Änderung in der Praxis umsetzt (vgl. OLG Saarbrücken, Beschl. v. 10.11.2014 – 1 Ws 148/14, RVGreport 2015, 65; LG Duisburg RVGreport 2014, 427 = VRR 2014, 319 = AGS 2014, 331 = zfs 2014, 468 = StRR 2014, 360; LG Oldenburg RVGreport 2014, 470 = zfs 2014, 648 = AGS 2014, 552 = StRR 2015, 81). Das OLG Saarbrücken (a.a.O.) verweist darauf, dass nach der durch das am 1.8.2013 in Kraft getretene 2. KostRMoG erfolgten Änderung der Anm. 1 in Nr. 4100 VV RVG nunmehr klargestellt sei, dass die Grundgebühr „neben“ der Verfahrensgebühr entstehe. Hierdurch solle verdeutlicht werden, dass die Grundgebühr grundsätzlich nicht allein anfalle, sondern regelmäßig neben der Verfahrensgebühr. Für die Tätigkeit in einem jeden gerichtlichen Verfahren entstehe eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr. Durch sie werde bereits die Information als Bestandteil des Betreibens des Geschäfts entgolten. Die Grundgebühr solle den zusätzlichen Aufwand entgelten, der für die erstmalige Einarbeitung anfällt. Sie habe daher den Charakter einer Zusatzgebühr, die den Rahmen der Verfahrensgebühr erweitere (vgl. BT-Drucks. 17/11471, S. 281).

Hinweis:

Hieraus folgt, dass bereits mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten in jedem (gerichtlichen) Verfahren eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr und daneben auch eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG, die den für die erstmalige Einarbeitung anfallenden zusätzlichen Aufwand honoriert, entsteht (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 21. Aufl. 2013, Vorbem. 4 VV Rn. 11 und 4100, 4101 VV Rn. 9; a.A. offenbar immer noch, allerdings ohne nähere Begründung, OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.11.2014 – 2 Ws 553/14, AGS 2015, 29).

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