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aus ZAP 2024, S. 283

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAPR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (I/2024)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise zu Gesetzesvorhaben. 1

II. Ermittlungsverfahren. 2

    1. Akteneinsicht für den inhaftierten Beschuldigten. 2

    2. Pflichtverteidigungsfragen. 4

        a) Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren. 4

        b) Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung. 5

                aa) Bestellung, Fälle des § 140 Abs. 1 StPO.. 5

                bb) Bestellung, Schwere der Tat/Rechtsfolge. 5

                cc) Gesamtfreiheitsstrafe. 6

                dd) Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage. 7

                ee) Bestellung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung. 8

                ff) Akteneinsicht 10

                gg) Bestellung, Fall des § 141 StPO.. 10

                hh) Bußgeldverfahren. 10

                ii) Strafvollstreckung. 11

                jj) Unterbringung. 11

                III. Hauptverhandlung. 12

    1. Erneutes letztes Wort nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme. 12

    2. Kosten-/Auslagenentscheidung bei der Einziehung. 14

    3. Antragsberechtigung im Adhäsionsverfahren. 16

IV. Vorlage der Vollmacht im Kostenfestsetzungsverfahren. 17

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise zu Gesetzesvorhaben

Hinzuweisen ist auf folgende Gesetzesvorhaben, die die „Ampel-Koalition“ für 2024 angekündigt hat:

Das wichtigste Vorhaben dürften die vom BMJ mit einem „Eckpunktepapier zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs“ aus November 2023 angekündigten Änderungen sein. Sie beruhen auf dem Koalitionsvertrag 2021, der vorsieht, dass das StGB systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche überprüft werden soll. Es sollen insbesondere historisch überholte Straftatbestände kritisch überprüft werden, um die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz zu gewährleisten.

Das BMJ hat unter diesen Gesichtspunkten einige Delikte vorgesehen/aufgelistet, die verändert bzw. aufgehoben werden sollen. Dabei handelt es sich zunächst um die Gruppe „Aufzuhebende oder inhaltlich anzupassende Tatbestände“, u.a. mit dem unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB), dem Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) und der Gebührenüberhebung (§ 352 StGB). In der zweiten Gruppe befinden sich „Änderungen bei Tatbeständen mit Bezug zum Nationalsozialismus“, wie z.B. dem räuberischen Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a StGB). Die dritte Gruppe bilden schließlich Tatbestände, die Gegenstand anderer Vorhaben sind bzw. waren, wie Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte (§ 184b StGB) und das Ausspähen von Daten, Abfangen von Daten, Vorbereitung des Ausspähens und Abfangens von Daten (§§ 202a ff. StGB). Wegen der Einzelheiten und der Begründung für die Änderungen verweise ich auf das dazu vorliegende Eckpunktepapier auf der Homepage des BMJ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/Eckpunkte/1123_Eckpunkte_Modernisierung_Strafrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=3).

Geplant sind außerdem Änderungen im RVG, vor allem mit einer linearen Erhöhung der anwaltlichen Gebühren. Wegen der Einzelheiten insoweit verweise ich auf den Beitrag von Volpert, AGS 2023, 443.

Zuletzt ist noch das „Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) zu nennen, zu dem der Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen hat (vgl. die BR-Drucks 603/23; wegen der Änderungen im Einzelnen Burhoff, ZAP 2023, 1235). Der Bundesrat wünscht eine „grundlegende“ Überarbeitung des Gesetzesvorhabens. Das Gesetzesvorhaben befindet sich derzeit noch im Vermittlungsverfahren. Ob und wann die Neuregelung kommt, ist nicht absehbar.

II. Ermittlungsverfahren

1. Akteneinsicht für den inhaftierten Beschuldigten

In der Praxis bereitet in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang häufig die Frage Probleme, wie sich der Beschuldigte möglichst effektiv auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann. Dabei geht es vor allem darum, ob ihm Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren ist, und wie damit beim inhaftierten Beschuldigten umzugehen ist. Damit tun sich die Ermittlungsbehörden häufig schwer. Von Bedeutung kann in dem Zusammenhang nun die Entscheidung des LG Nürnberg (Beschl. v. 7.11.2023 – 13 Qs 56/23, StRR 2/2024, 25) sein.

Zugrunde liegt dem Beschluss ein umfangreiches Betrugsverfahren, das die Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten wegen gewerbsmäßigen Betrugs in 210 Fällen führt. Der Beschuldigte soll zwischen dem 16.11.2020 und dem 24.2.2023 über Ebay unter Vortäuschung seiner Lieferwilligkeit verschiedene Gegenstände an gutgläubige Kunden verkauft und den jeweiligen Kaufpreis vereinnahmt haben, ohne die entsprechende Ware zu übergeben. Die Staatsanwaltschaft geht von einem Gesamtschaden von rund 117.000 € aus. Den Antrag des Beschuldigten, ihm die Ermittlungsakte in digitaler Form sowie einen Laptop zur Verfügung zu stellen, hatte das AG abgelehnt. Dagegen hat der Verteidiger des Beschuldigten Beschwerde eingelegt und die mit dem Umfang der Ermittlungsakten von derzeit 11.603 Seiten, was in Papierform etwa 29 Leitz-Ordnern entspräche, begründet. Zur Erörterung des Verfahrens sei Aktenkenntnis seines Mandanten erforderlich.

Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Es führte zur Gewährung von Akteneinsicht für den Beschuldigten in der Form, dass die Staatsanwaltschaft der JVA eine verschlüsselte CD-ROM mit der Akte im PDF-Format zu übersenden und die JVA dem Beschuldigten sodann einen Laptop mit der aufgespielten elektronischen Akte in einem besonderen Haftraum zur Verfügung zu stellen hat. Grundsätzlich sehe – so das LG – § 147 Abs. 1 und 4 StPO ein Akteneinsichtsrecht von verteidigten Beschuldigten nur für den Verteidiger vor. In welcher Form der Verteidiger den Akteninhalt seinem Mandanten bekannt mache, stehe in seinem freien Ermessen. So könne er den Akteninhalt mit seinem Mandanten im Gespräch erörtern oder diesem die Akte in Kopie zum Selbststudium bzw. zur Vorbereitung auf Besprechungen überlassen. Inzwischen sei jedoch anerkannt, dass in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang, Angeklagten zur effektiven Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren sei (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, § 119 Rn 50 m.w.N.; weitergehend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 119 Rn 29 [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt], welcher bereits unter Verweis auf weitere Rechtsprechung die Benutzung eines Laptops gestatten will, wenn es zur ordnungsgemäßen Verteidigung erforderlich ist).

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Akteneinsicht in dieser Form waren in dem Verfahren nach Ansicht des LG erfüllt. Die Akten seien bereits besonders umfangreich, die Überlassung einer vollständigen Kopie der Akte durch den Verteidiger in Papierform sei ersichtlich unpraktikabel. Soweit das AG auf die Entscheidung des LG Frankfurt a.M. (Beschl. v. 17.11.2017 – 5/24 KLs 10/17, 5/24 KLs 7920 Js 208925/16 (10/17)), abstelle, wonach entsprechende Akteneinsicht nur nach Abschluss der Ermittlungen zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung zu gewähren sei, folgt das LG Nürnberg-Fürth (a.a.O.) dem nicht. Das LG Frankfurt a.M. habe bei seiner Entscheidung dahin differenziert, ob dem dortigen Angeschuldigten ein eigener Laptop zur Verfügung zu stellen war oder ob er auf den Computerraum der JVA mit eingeschränkten Öffnungszeiten verwiesen werden konnte, und habe Letzteres wohl im Hinblick auf die nahende Hauptverhandlung verneint. Damit werde die Überlassung der digitalen Akte nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur die Modalitäten, wie der Angeschuldigte in diese Einsicht nehmen könne. Nach Auskunft der JVA, in der der Beschuldigte inhaftiert sei, bestanden auch die technischen Möglichkeiten, dem Beschuldigten einen Laptop in einem besonderen Haftraum zur Einsichtnahme in die Akte zur Verfügung zu stellen, weshalb sich die vom LG Frankfurt a.M. erörterte Frage nicht stellte. Maßgeblich bleibe daher als Besonderheit des Verfahrens dessen bereits jetzt erheblicher Umfang, der für eine gründliche Einarbeitung geraume Zeit erfordert. Der Verweis auf eine mündliche Information durch den Verteidiger sei ebenso wie die Überlassung der Akte in Papierform ineffektiv und aufgrund der vorhandenen technischen Möglichkeiten im Ergebnis unverhältnismäßig.

Hinweis:

Die Entscheidung ist m.E. zutreffend und der fortschreitenden Digitalisierung des Strafverfahrens angemessen/geschuldet. Es kann nicht sein, dass dem Verteidiger die Akten ggf. (nur) digital zur Verfügung gestellt werden und er diese dann aber ausdrucken muss, um auch dem Mandanten ausreichend Akteneinsicht gewähren zu können. Abgesehen von den entstehenden Kosten, um die der Verteidiger sich dann im Zweifel mit dem Bezirksrevisor streiten darf, ist der insoweit entstehende Aufwand durch nichts gerechtfertigt. Denn es steht mit einer digitalen Akteneinsicht auch für den Beschuldigten eine einfachere und damit schnellere – und auch kostengünstigere – Variante zur Verfügung. Die Justizverwaltungen werden sich auf diese Formen der Akteneinsicht, die sicherlich zunehmen werden, einstellen können und müssen. In Bayern hat man das offenbar schon getan (zur Akteneinsicht a. Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 240 ff., 285 ff., 424 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]).

2. Pflichtverteidigungsfragen

a) Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren

Die Beiordnung des Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 1 StPO erstreckt sich auch auf die Vertretung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren. Das hat jetzt (auch) das OLG Dresden entschieden (Beschl. v. 21.12.2023 – 2 Qs 298/23) und damit seine frühere entgegenstehende Rechtsauffassung (OLG Dresden, Beschl. v. 10.12.2013 – 2 Ws 569/13, AGS 2024, 90) aufgegeben. Die Beiordnung des Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 1 StPO erstrecke sich – so das OLG – auch auf die Vertretung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren. Diese in Rechtsprechung und Literatur bislang umstrittene Frage sei in der Rechtsprechung nunmehr geklärt. Für eine Umfangsbeschränkung der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO auf die Abwehr allein des staatlichen Strafanspruchs finde sich im Gesetz keine Grundlage. Da das Adhäsionsverfahren Teil des Strafverfahrens sei, wie sich aus dessen gesetzlicher Regelung in den §§ 403 ff. StPO ergebe, erstrecke sich der Umfang der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO schon deshalb auch hierauf. Das OLG verweist hierzu auf die Ausführungen des BGH (vgl. Beschl. v. 27.7.2021 – 6 StR 307/21, AGS 2021, 431 = StraFo 2021, 473 = NJW 2021, 2901 = zfs 2021, 703 m. Anm. Hansens; ebenso BGH, Urt. v. 30.6.2022 – 1 StR 277/21, NStZ-RR 2022, 336), der dies auf Grundlage der Gesetzesbegründung zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/191 vom 26.10.2016 überzeugend darlegt habe. Denn wenn die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig i.S.v. § 140 Abs. 1 StPO sei, so erstrecke sich diese Notwendigkeit auf das gesamte Verfahren (§ 143 Abs. 1 StPO), mithin auch auf die Verteidigung gegen Adhäsionsanträge. Eine Beschränkung des Umfangs der notwendigen Verteidigung auf die Abwehr des staatlichen Strafanspruchs habe der Gesetzgeber in § 140 StPO nicht vorgenommen. Die von der Staatskasse in Bezug genommene abweichende Entscheidung des 5. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 8.12.2021 – 5 StR 162/219) enthalte demgegenüber keine sachbezogene Begründung.

Die Entscheidung ist zutreffend. Allmählich scheinen also nicht nur der BGH (vgl. die vorstehend zitierten Entscheidungen des 1. und 6. Strafsenats), sondern auch die OLG begriffen zu haben, dass zumindest nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung im Jahr 2019 für die früher von den OLG wohl überwiegend vertretene Auffassung, dass die Pflichtverteidigerbestellung die Verteidigung im Adhäsionsverfahren nicht erfasst, nicht mehr haltbar ist (vgl. zur früheren Rechtsprechung Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4143 VV Rn 20). Das hat ein Teil der OLG-Rechtsprechung allerdings auch schon früher so gesehen, was zutreffend war (Burhoff/Volpert/Burhoff, a.a.O., Nr. 4143 Rn 20 f.). Inzwischen hat sich auch der BGH der letzteren Auffassung angeschlossen. Ihm ist in der Rechtsprechung bereits das OLG Brandenburg gefolgt (vgl. Beschl. v. 24.1.2022 – 1 Ws 108/21 (S), AGS 2022, 211). Immer noch anderer Auffassung ist mal wieder das LG Osnabrück (vgl. Beschl. v. 5.9.2022 – 18 KLs 5/22, AGS 2023, 46 = JurBüro 2022, 638), dessen Auffassung aber nicht mehr haltbar ist.

Hinweis:

Auch wenn der BGH (s. vorstehend) und immerhin jetzt zwei OLG inzwischen auch die zutreffende Ansicht zur Erstreckung vertreten, sollte sich der Pflichtverteidiger in Verfahren, in denen im Adhäsionsverfahren Ansprüche geltend gemacht werden, nicht entspannt zurücklehnen. Das gilt vor allem, wenn das zuständige OLG früher der Auffassung war, dass die Pflichtverteidigerbestellung die Tätigkeiten im Adhäsionsverfahren nicht erfasst. Denn die Entscheidung des LG Osnabrück (a.a.O.) zeigt: Nicht alle Gerichte schließen sich der zutreffenden Ansicht des BGH (a.a.O.) in der Frage an. Daher sollte der Verteidiger vorsorglich ausdrücklich die Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung beantragen. Ist das mit der Sache befasste Gericht dann der Auffassung, dass die Erstreckung „automatisch“ erfolgt, wird es den Antrag unter Hinweis auf seine Rechtsansicht zurückweisen und dürfte daran dann im Rahmen der Kostenfestsetzung gebunden sein. Geht es unzutreffend davon aus, dass die Bestellung das Adhäsionsverfahren nicht erfasst, kann sich der Verteidiger dagegen mit der sofortigen Beschwerde (§ 142 Abs. 7 StPO) wehren und ist insoweit nicht auf das spätere Vergütungsfestsetzungsverfahren angewiesen.

b) Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung

Wir haben in ZAP 2023 über Rechtsprechung zum (neuen) Recht der Pflichtverteidigung nach der Neuregelung durch das „Gesetz zu Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) berichtet (vgl. ZAP 2023, 339, 340 ff.). Wir stellen nun weitere Rechtsprechung vor, beschränken uns aber in dieser Übersicht aus Platzgründen auf die Beiordnungsgründe (wegen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bestellung ZAP 2023, 1235, 1237 f.). Die vorgestellten Entscheidungen stehen, soweit sie nicht auch in Fachzeitschriften veröffentlicht sind, weitgehend alle im Volltext auf der Homepage www.burhoff.de.

aa) Bestellung, Fälle des § 140 Abs. 1 StPO

Auch wenn Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor (LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.3.2023 – 5 Qs 9/23). Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet, hat auch das LG Leipzig Stellung genommen (Beschl. v. 12.9.2023 – 13 Qs 242/23). Ebenso hat es sich zur Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO geäußert, wenn zwar gegen den Beschuldigten im Ausland Untersuchungshaft vollstreckt worden ist, dem Beschuldigten aber bei einer Auslieferung nach Deutschland wegen des Spezialitätsgrundsatzes keine Untersuchungshaft droht (LG Leipzig, Beschl. v. 30.3.2023 – 5 Qs 15/23).

bb) Bestellung, Schwere der Tat/Rechtsfolge

Die Schwere der Tat richtet sich in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach h.M. ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze. ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 11.5.2023 – 6 Qs 69/23; LG Oldenburg, Beschl. v. 17.8.2023 – 4 Qs 252/23).

cc) Gesamtfreiheitsstrafe

Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 10.10.2023 – 23 Qs 110/23; s.a. LG Halle, Beschl. v. 18.11.2022 – 10a Qs 123/22, StraFo 2023, 98; LG Kiel, Beschl. v. 14.1.2022 – 5 Qs 95/21, StV-S 2023, 35 [Ls.]; LG Münster, Beschl. v. 22.8.2023 – 11 Qs 27/23). Ein geringfügiges Delikt rechtfertigt nicht schon dann die Bejahung des Merkmals „Schwere der Tat“ i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, weil später voraussichtlich eine Freiheitsstrafe/(Einheits-)Jugendstrafe von mehr als einem Jahr unter Berücksichtigung des hiesigen geringfügigen Delikts zu erwarten ist. Vielmehr ist eine Prüfung im Einzelfall erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafe/Einheitsjugendstrafe das Gewicht des abzuurteilenden Falls tatsächlich so erhöht, dass die Mitwirkung des Verteidigers geboten ist. Auch bei einer überschaubaren zu erwartenden Rechtsfolge in einem Strafbefehl von 30 Tagessätzen Geldstrafe ist bei Gesamtstrafenfähigkeit die Bestellung eines Verteidigers erforderlich (LG Halle, Beschl. v. 13.6.2023 – 3 Qs 60/23, StV 2023, 595 [Ls.]). Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr gilt bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung aber auch dann, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf droht (LG Münster, Beschl. v. 21.8.2023 – 11 Qs 27/23).

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen der Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird (LG Halle, Beschl. v. 25.11.2022 – 3 Qs 135/22).

Bei der Frage, ob die „Schwere der Tat“ eine Pflichtverteidigerbestellung erfordert, sind neben der zu erwartenden Strafe auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, wie z.B. die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB (OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23, StraFo 2023, 355). Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen (LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22, StV 2023, 159; LG Koblenz, Beschl. v. 24.5.2023 – 12 Qs 26/23 zugleich auch zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern; LG Oldenburg, Beschl. v. 17.8.2023 – 4 Qs 252/23). Auch dann, wenn dem Beschuldigten im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) der Verlust des Arbeitsplatzes droht und wäre er daran gehindert, den ausgewählten Beruf bis zu einem etwaigen Wiedererwerb der Fahrerlaubnis auszuüben, wiegt die zu erwartende Rechtsfolge schwer, sodass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (LG Itzehoe, Beschl. v. 2.11.2023 – 14 Qs 160/23). Befindet sich der Verurteilte in Strafhaft und wird währenddessen die Bewährungsaussetzung in anderer Sache widerrufen, so ist ihm für die Beschwerde gegen den Widerruf kein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dort die Sach- und Rechtslage einfach ist und sich der Verurteilte selbst verteidigen kann (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.10.2022 – 12 Qs 53/22, StraFo 2023, 98). Insbesondere ist auch eine Einziehungsentscheidung nach §§ 73 ff. StGB, obgleich es sich nicht um eine Nebenstrafe, sondern um eine Maßnahme i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB handelt, als sonstige Rechtsfolge, die dem Angeklagten im Fall seiner Verurteilung droht, zu berücksichtigen (OLG Bremen, Beschl. v. 8.2.2023 – 1 Ws 6/23, StV 2023, 583 [Ls.]).

dd) Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

Ist der „Vorgang“ unübersichtlich, resultierend aus der Aktenführung, ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann (LG Magdeburg, Beschl. v. 28.11.2022 – 23 Qs 71/22, StraFo 2023, 276 = StV 2023, 596 [Ls.]).

Eine schwierige Sachlage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO ist nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks ist kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers (LG Hannover, Beschl. v. 5.9.2023 – 63 Qs 38/23). Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn aufzuklären ist, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht kommt (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.6.2023 – 1 Qs 37/23; ähnlich AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 Gs 2469/23 jug).

Die Rechtslage ist i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Es ist notwendig eine Gesamtwürdigung von Sach- und Rechtslage vorzunehmen, um den Schwierigkeitsgrad zu beurteilen. Gemessen an diesen Maßstäben ist von einer Schwierigkeit der Rechtslage auszugehen, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen (LG Potsdam, Beschl. v. 30.8.2022 – 25 Qs 38/22) oder die Auffassungen zur Strafbarkeit des Verhaltens des Beschuldigten zwischen den Gerichten und der Staatsanwaltschaft offenkundig auseinandergehen (LG Bonn, Beschl. v. 7.8.2023 – 63 Qs 63/23). Eine schwierige Rechtslage besteht bereits, wenn divergierende obergerichtliche Entscheidungen zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat, wie z.B. zur Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist (LG Regensburg, Beschl. v. 9.9.2022 – 5 Qs 157/22; ähnlich LG Rottweil, Beschl. v. 22.8.2022 – 3 Qs 36/22; AG Lüdenscheid, Beschl. v. 21.8.2022 – 51 Ds 42/22, StV-S 2023, 81 [Ls. für gerügte Verfassungswidrigkeit von § 29 BtMG]).

Für die Beantwortung der Frage, ob wegen der Schwierigkeit der Rechtslage ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszugehen ist. Eine schwierige Rechtslage ist bereits dann anzunehmen, wenn in der Hauptverhandlung eine Auseinandersetzung mit der Frage erforderlich sein wird, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (LG Dresden, Beschl. v. 4.8.2023 – 2 Qs 34/23 jug). Die Sach- und Rechtslage weist Schwierigkeiten auf, wenn gegen den Angeklagten ein Strafbefehl wegen einer Tat gem. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erlassen worden ist, nachdem er mit einer abgelaufenen Duldungsbescheinigung angetroffen wurde (LG Halle, Beschl. v. 3.9.2021 – 10a Qs 91/21, StV 2023, 161). Nach Auffassung des OLG Frankfurt a.M. gebietet aber nicht jede mögliche Verschlechterung der zu erwartenden Rechtsfolge in der Berufung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Bei einer möglichen Verschlechterung durch maßvolle Erhöhung einer Geldstrafe (z.B. wegen einer Urkundenfälschung), weil das Berufungsgericht dem erstinstanzlichen Antrag der Staatsanwaltschaft folgen könnte, ist eine Beiordnung nicht immer geboten (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 9.2.2023 – 7 Ws 25/23).

Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft (OLG Jena, Beschl. v. 11.4.2023 – 1 Ws 24/23, NJW 2023, 3179 [Ls.] = NStZ-RR 2023, 288). Die Rechtslage ist schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, wenn dem Beschuldigten Steuerhinterziehung vorgeworfen wird, da es sich beim Steuerstrafrecht um Blankettstrafrecht handelt (LG Kaiserslautern, Beschl. v. 1.12.2022 – 7 Qs 8/22).

Im Jugendstrafverfahren gelten für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene. Sind beide Mitangeklagten anwaltlich vertreten, ist bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung bei einem Erwachsenen anzunehmen (LG Passau, Beschl. v. 22.2.2023 – Qs 16/23 jug). Ist neben einem Minderjährigen eines seiner Elternteile angeklagt, mit diesem gemeinschaftlich eine Straftat begangen zu haben, so kann sich der Jugendliche in aller Regel nicht selbst verteidigen, weshalb auch dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, wenn dem mitangeklagten Elternteil nicht die elterlichen Verfahrensrechte nach § 67 Abs. 4 JGG ganz oder teilweise zu entziehen waren (AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug, StRR 3/2023, 22 = ZJJ 2023, 72). Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird sich insofern auch über den Zeitpunkt hinaus erstrecken, mit dem der mitangeklagte Jugendliche volljährig wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn seine finanzielle und familiäre Abhängigkeit fortbesteht (AG Eilenburg, a.a.O.). Bei Jugendlichen ist eine extensive Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO geboten (LG Dortmund, Beschl. v. 27.7.2023 – 31 Qs 18/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist geboten bei einem gerade 15 Jahre alten Angeklagten, bei dem eine psychische Erkrankung/Verhaltensstörung vorliegt, weswegen er in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht ist (LG München II, Beschl. v. 12.12.2023 – 1 J Qs 13/23 jug).

ee) Bestellung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 StPO ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen (LG Chemnitz, Beschl. v. 10.7.2023 – 4 Qs 232/23, StV 2023, 596 [Ls.]; LG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 Qs 364/23; LG Saarbrücken, Beschl. v. 12.10.2023 – 5 Qs 69/23). Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist (OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23, StraFo 2023, 355; LG Chemnitz, a.a.O.; LG Hagen, Beschl. v. 19.12.2023 – 43 Qs 43/23; LG Stade, Beschl. v. 25.4.2023 – 302 Qs 2550 Js 53673/22 (15/23)). Es macht aber nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten, ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Wuppertal, Beschl. v. 23.8.2023 – 26 Qs 232/23).

Ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO liegt vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, weil der Beschuldigte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie leidet, weder lesen noch schreiben kann, in seinem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft ist (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23). Eine nicht ausreichende Wahrnehmung der Interessen durch einen Verletzten kann grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn der Betroffene an einer Lese- oder Rechtschreibschwäche leidet (LG Berlin, Beschl. v. 5.9.2023 – 534 Qs 156/23). Von der Unfähigkeit kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung“ begründet wird (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.7.2023 – 1 Qs 48/23). Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein sehbehinderter Beschuldigter mit einer GdB von 40 in Bezug auf seine Sehminderung die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.6.2023 – JKII Os 16/23 jug unter Hinweis auf § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO; AG Amberg, Beschl. v. 19.9.2023 – 6b GS 2051/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]). Eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung der Angeklagten indiziert eine latente Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, die den Anforderungen des § 140 Abs. 2 StPO genügt (LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 13.12.2022 – 5-16 Qs 50/22). Bei Jugendlichen wird eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) i.d.R. zur Bestellung eines Pflichtverteidigers führen (LG Dortmund, Beschl. v. 27.7.2023 – 31 Qs 18/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]).

Liegt beim Beschuldigten aktuell eine Suchtmittelerkrankung vor, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und ist die komplexe Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben, ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.9.2023 – 16 Qs 39/23).

Der Beschuldigte kann sich nicht selbst verteidigen i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, wenn die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertritt, Name und weitere Daten der Anzeigenerstatterin müssten vor dem Beschuldigten geheim gehalten werden. Dadurch entsteht für den Beschuldigten ein Informationsdefizit, welches dadurch ausgeglichen werden muss, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, welcher vollumfängliche Akteneinsicht erhält (AG Halle/Saale, Beschl. v. 2.6.2023 – 302 Cs 234 Js 6479/23, StraFo 2023, 318).

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidi­gerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann (LG Stuttgart, Beschl. v. 27.4.2023 – 9 Qs 23/23).

ff) Akteneinsicht

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (LG Magdeburg, Beschl. v. 12.5.2023 – 25 Qs 55/23). Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.10.2023 – JKII Qs 26/23 jug). Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.10.2023 – JKII Qs 26/23 jug). Die analoge Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagten, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, soll nach Auffassung des LG Passau nicht in Betracht kommen (LG Passau, Beschl. v. 23.10.2023 – 1 Qs 137/23).

gg) Bestellung, Fall des § 141 StPO

Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert. Relevant ist, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere für den Beschuldigten, darstellt (BGH, Beschl. v. 9.2.2023 – StB 3/23, StraFo 2023, 141). Wird der Beschuldigte nach Abtrennung seines Verfahrens in den Akten des Ausgangsverfahren weiterhin als Beschuldigter bezeichnet, lässt das eine zureichende Manifestation des Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft nicht erkennen, soweit anhand von Einzelumständen Unkenntnis oder Nachlässigkeit naheliegt, wie z.B. wegen zeitlicher Nähe zur Abtrennung (BGH, a.a.O.). Wird durch die Staatsanwaltschaft ausdrücklich klargestellt, den Betroffenen in dem Ausgangsverfahren nicht mehr als Beschuldigten zu betrachten, kann zumindest ab diesem Zeitpunkt von einer Manifestation eines Verfolgungswillens keine Rede sein (BGH, a.a.O.).

hh) Bußgeldverfahren

Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt (BayObLG, Beschl. v. 21.11.2022 – 201 ObOWi 1363/22). Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) sind über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren anwendbar (LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.3.2023 – 5 Qs 9/23), wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann (LG Oldenburg, Beschl. v. 3.3.2023 – 6 Qs 61/23). Die Ausweisung als mögliche Rechtsfolge der §§ 53, 54 AufenthG wiegt so schwer, dass im Einzelfall von der Notwendigkeit der Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO ausgegangen werden kann (AG Kiel, Beschl. v. 10.8.2022 – 35 OWi 556 Js 60154/21, StV-S 2023, 35 für ggf. drohende Verurteilung nach § 24a Abs. 1 StVG).

Die Rechtslage ist im Ordnungswidrigkeitenrecht dann schwierig, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird, oder wenn es auf die Auslegung von Begriffen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht ankommt (LG Rottweil, Beschl. v. 22.8.2022 – 3 Qs 36/22). Der einem Betroffenen vorgeworfene Verstoß gegen die Maskenpflicht nach der CoronaVO BW führt nicht zur Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage (§ 140 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 OWiG; LG Rottweil, a.a.O.). Eine schwierige Rechtslage kann vorliegen, wenn eine streitige Rechtsfrage obergerichtlich noch nicht entschieden ist (LG Rottweil, a.a.O.).

ii) Strafvollstreckung

Ein Fall der notwendigen Verteidigung und damit die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist auch in einem Strafvollstreckungsverfahren geboten, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls besondere Schwierigkeiten in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht aufweist oder der Verurteilte nicht in der Lage ist, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen (OLG Naumburg, Beschl. v. 25.9.2023 – 1 Ws 309/23; LG Dresden, Beschl. v. 2.1.2024 – 6 II StVK 663/23; LG Halle, Beschl. v. 19.9.2022 – 3 Qs 104/22, StraFo 2023, 20 = StV 2023, 161). Das kann z.B. bei einer schwierigen nachträglichen Gesamtstrafenbildung der Fall sein (OLG Naumburg, a.a.O.). Die Erörterung eines kriminologischen Gutachtens i.S.d. § 454 Abs. 2 StPO kann bei divergierenden Prognoseeinschätzungen eine Pflichtverteidigung erfordern (BGH, Beschl. v. 29.6.2022 – StB 26/22). Ausreichend ist, dass an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.5.2023 – 2 Ws 68/23, StraFo 2023, 275; LG Dortmund, Beschl. v. 27.7.2023 – 31 Qs 18/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]). Diese ergeben sich z.B. daraus, dass der Verurteilte der deutschen Sprache nicht mächtig ist und er darüber hinaus an einer schweren depressiven Störung mit psychotischen Symptomen leidet (OLG Brandenburg, a.a.O.).

Das OLG Karlsruhe neigt zu der Auffassung, dass die Ablehnung des Antrags auf Bestellung eines Verteidigers im Vollstreckungsverfahren nicht der sofortigen Beschwerde gem. § 143 Abs. 3 StPO unterliegt, sondern mit der einfachen Beschwerde anfechtbar ist (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.4.2023 – 2 Ws 91/23). Eine rückwirkende Verteidigerbestellung ist im Vollstreckungsverfahren ausgeschlossen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.4.2023 – 2 Ws 91/23).

Die Mitwirkung eines Verteidigers im Verfahren zur Erledigung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist regelmäßig in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht trotz Fortbestehens des Therapiewillens des Untergebrachten gem. § 67d Abs. 5 StGB für erledigt erklärt wird (OLG Celle, Beschl. v. 20.4.2023 – 2 Ws 116/23, StraFo 2023, 232).

jj) Unterbringung

Im gerichtlichen Verfahren über die Rechtmäßigkeit der medikamentösen Zwangsbehandlung einer vorläufig untergebrachten, als einwilligungsunfähig eingeschätzten Person kann im Einzelfall die Beteiligung des Pflichtverteidigers geboten sein (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 3.1.2023 – 3 Ws 488/22, StV 2023, 262). Zwar ist im Verfahren der Maßregelvollstreckung die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO nur unter eingeschränkten Voraussetzungen erforderlich. Eine Schwierigkeit der Rechtslage ist regelmäßig aber anzunehmen im Fall einer Erledigterklärung der Unterbringung nach § 64 StGB (OLG Celle, Beschl. v. 11.10.2022 – 3 Ws 413 – 414/22, StV 2023, 156 [Ls.]).

Inhaltsverzeichnis

III. Hauptverhandlung

1. Erneutes letztes Wort nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme

In der Praxis spielen die Fragen, die mit dem sog. letzten Wort des Angeklagten (§ 258 StPO) zusammenhängen immer wieder eine Rolle. Dazu gehört auch die Frage, wann ein Wiedereintritt in die Beweisaufnahme vorliegt, der es erfordere, dem Angeklagten erneut die Gelegenheit zum letzten Wort zu geben. Dazu hat sich jetzt noch einmal der BGH geäußert (Beschl. v. 16.8.2023 – 2 StR 308/22, StraFo 2024, 29).

Zu beurteilen war folgendes Verfahrensgeschehen: In dem Verfahren war vom LG die Beweisaufnahme am 23. Hauptverhandlungstag, dem 7.12.2021, geschlossen worden. Die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägervertreter hielten ihre Plädoyers und stellten ihre Schlussanträge. Dabei beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft auch die Einziehung des Wertersatzes von Taterträgen zugunsten von zwei Nebenklägerinnen. Im darauffolgenden Termin am 13.12.2021 plädierten die Verteidiger des Angeklagten. Dem Angeklagten wurde Gelegenheit gegeben, noch etwas zu seiner Verteidigung zu sagen. Er hatte das letzte Wort.

Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen; Termin zur Fortsetzung war auf den 22.12.2021 festgesetzt. Einen Tag zuvor ging bei der Strafkammer ein Faxschreiben eines Verteidigers ein. Er übersandte zwei an den Angeklagten gerichtete Schriftstücke, zum einen einen Anwaltsschriftsatz, mit dem im Auftrag der einen Nebenklägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 30.000 € geltend gemacht wurde, zum anderen einen Antrag auf Prozesskostenhilfe der anderen Nebenklägerin zur Durchführung eines Mahnverfahrens über 40.000 €. Der Verteidiger kündigte an, im folgenden Termin den Wiedereintritt in die Beweisaufnahme zu beantragen, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, die Ansprüche, jedenfalls teilweise, anzuerkennen. In der Hauptverhandlung vom 22.12.2021 stellte der Verteidiger dann einen entsprechenden Antrag. Die Vorsitzende erörterte dies mit den Verfahrensbeteiligten und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. Dabei erklärten die Nebenklägerinnen über ihre anwaltlichen Vertreterinnen, nach wie vor keinem Täter-Opfer-Ausgleich zuzustimmen. Die Staatsanwaltschaft sah keinen Bedarf, die Beweisaufnahme noch einmal zu eröffnen. Sodann gab die Vorsitzende bekannt, dass auch die Strafkammer keinen Grund sehe, erneut in die Hauptverhandlung einzutreten. Nach geheimer Beratung wurde sodann das angefochtene Urteil verkündet, ohne dass dem Angeklagten (erneut) das letzte Wort gewährt wurde.

Die Revision des Angeklagten hatte mit der Verfahrensrüge hinsichtlich der Strafaussprüche teilweise Erfolg. Die Verfahrensweise des LG verstieß nach Auffassung des BGH (a.a.O.) gegen § 258 Abs. 2 Hs. 2, Abs. 3 StPO. Nach Auffassung des BGH hätte dem Angeklagten nach der Erörterung über den von seinem Verteidiger beantragten Wiedereintritt in die Beweisaufnahme erneut Gelegenheit gegeben werden müssen, zu seiner Verteidigung vorzutragen und Ausführungen im Rahmen des letzten Worts zu machen. Nach einem Wiedereintritt in die Verhandlung muss das Gericht die Möglichkeit zu umfassenden Schlussvorträgen und das letzte Wort erneut gewähren, auch wenn es nur einen unwesentlichen Aspekt oder einen Teil der Anklagevorwürfe betrifft, weil jeder Wiedereintritt den vorangegangenen Ausführungen ihre rechtliche Bedeutung als Schlussvorträge und letztes Wort nimmt (vgl. BGH, Beschl. v. 20.9.2017 – 1 StR 391/16, StRR 12/2017, 8; Urt. v. 24.2.2022 – 3 StR 202/21, NJW 2022, 1631, 1632). Ein Wiedereintritt in die Verhandlung könne durch eine ausdrückliche Erklärung des Vorsitzenden bzw. des Gerichts oder stillschweigend geschehen (vgl. BGH, a.a.O.; Beschl. v. 24.6.2014 – 3 StR 185/14, NStZ 2015, 105). Für Letzteres genüge jede Betätigung, in welcher der Wille des Gerichts, mit der Untersuchung und der Aburteilung fortzufahren, erkennbar zutage tritt, auch wenn das Gericht darin keine Wiedereröffnung der Verhandlung erblickt oder diese nicht beabsichtigt. Dies sei der Fall bei jedem Vorgang, der die gerichtliche Sachentscheidung auch nur mittelbar beeinflussen könnte, indem er eine tatsächliche oder rechtliche Bewertung des bisherigen Verfahrensergebnisses zum Ausdruck bringt. Auf Umfang und Bedeutung der nochmaligen Verhandlungen komme es dabei nicht an. Ob ein Wiedereintritt vorliege, richte sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls (s. BGH, Urt. v. 24.2.2022 – 3 StR 202/21, NJW 2022, 1631, 1633; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 258 Rn 28). Er könne auch darin liegen, dass Anträge erörtert werden, ohne dass ihnen letztlich stattgegeben werde (BGH, Beschl. v. 20.9.2017 – 1 StR 391/16, StRR 12/2017, 8; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, § 258 Rn 24).

Gemessen daran sei das LG durch die Erörterung mit den Verfahrensbeteiligten über den Antrag des Verteidigers, die Beweisaufnahme zu eröffnen, stillschweigend wieder in die Hauptverhandlung eingetreten. Der Antrag habe darauf abgezielt, dem Angeklagten die Chance einzuräumen, durch eine zumindest teilweise Anerkennung der nunmehr gegen ihn außerhalb der Hauptverhandlung geltend gemachten Ansprüche im Rahmen des Strafverfahrens Schadenswiedergutmachung zu leisten. Er sei insoweit darauf gerichtet gewesen, Einfluss auf die Strafzumessung durch das LG zu nehmen, das gem. § 46 Abs. 2 StGB das Verhalten des Angeklagten nach der Tat und dabei insbesondere auch ein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, in den Blick zu nehmen hatte. Dieser Antrag sei nicht lediglich entgegengenommen worden, sondern war im Folgenden förmlicher Gegenstand der Erörterung, wie mit ihm umzugehen sei. Damit sei – da der Gegenstand des Antrags wie ausgeführt die gerichtliche Sachentscheidung zu beeinflussen geeignet war – der (faktische) Wiedereintritt in die Hauptverhandlung einhergegangen; belegt werde dies im Übrigen durch den unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Revision, die Nebenklägerinnen hätten klargestellt, einem Täter-Opfer-Ausgleich nach wie vor nicht zuzustimmen. Dass dem Antrag letztlich nicht stattgegeben worden sei, das Gericht vielmehr ausdrücklich mitgeteilt habe, keinen Grund zu sehen, erneut in die Hauptverhandlung einzutreten, ändere an dieser Feststellung nichts (vgl. BGH, Beschl. v. 20.9.2017 – 1 StR 391/16, StRR 12/2017, 8).

Hinweis:

Es handelt sich hierbei um eine sog. Selbstläuferrevision zur Verletzung/Gewährung des letzten Worts (§ 258 StPO), die auf der Linie der (zitierten) Rechtsprechung des BGH liegt. Der BGH hat, wie in diesen Fällen häufig, zwar ausgeschlossen, dass der Angeklagte in einem – erneuten – letzten Wort etwas Erhebliches zu den Schuldsprüchen hätte bekunden können. Hingegen hat er nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte, wäre ihm das letzte Wort erneut erteilt worden, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätten. Dies galt hier insbesondere mit Blick auf die in dem ursprünglichen Schriftsatz des Verteidigers angekündigte (teilweise) Anerkennung der geltend gemachten Schmerzensgeldansprüche. Dies wäre über das bloße in der Hauptverhandlung bereits abgegebene Angebot, Schmerzensgeld zu zahlen, hinausgegangen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte auf die Herausgabe sichergestellten Bargelds i.H.v. 161.500 € auch gegenüber den Nebenklägerinnen verzichtet hatte. Dass diese im Übrigen nicht bereit waren, sich weitergehend auf einen Täter-Opfer-Ausgleich einzulassen, änderte nach Auffassung des BGH nichts daran, dass bereits einer möglichen förmlichen Anerkennung geltend gemachter Ansprüche eine weitergehende strafmildernde Bedeutung zukommen kann.

2. Kosten-/Auslagenentscheidung bei der Einziehung

In Zusammenhang mit der Einziehung (§§ 73 ff. StGB) mehren sich Kosten-/Auslagenentscheidungen, die sich mit der Frage der Verteilung von Kosten/Auslagen befassen, wenn z.B. der Angeklagte erstinstanzlich oder mit einem Rechtsmittel gegen eine Einziehungsentscheidung Erfolg hatte.

Dazu hat das jetzt u.a. BayObLG (Beschl. v. 27.10.2023 – 204 StRR 394/23, AGS 2024, 38 = StraFo 2024, 74) umfassend Stellung genommen. Nach dem Sachverhalt hatte das AG den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt und die Einziehung eines sichergestellten iPhone 11 des Angeklagten angeordnet. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte unbeschränkt Berufung ein, die keinen Erfolg hatte.

Mit seiner gegen das Berufungsurteil eingelegten Revision hat der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Das Rechtsmittel war, soweit es sich gegen den Schuldspruch des Diebstahls und die hierfür festgesetzte Freiheitsstrafe gerichtet hat, unbegründet und ist nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen worden. Erfolgreich war die Revision u.a. aber hinsichtlich der angeordneten Einziehung. Das BayObLG hat insoweit festgestellt, dass gem. § 74 Abs. 1 StGB nur Gegenstände eingezogen werden können, die durch eine vorsätzliche Tat hervorgebracht (Tatprodukte) oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind (Tatmittel). Keine dieser Tatbestandsalternativen treffe auf das sichergestellte Mobiltelefon iPhone 11 des Angeklagten zu. Es hat daher die Anordnung der Einziehung des sichergestellten Mobiltelefons iPhone 11 des Angeklagten entfallen lassen. Das BayObLG (a.a.O.) hat sodann folgende Kostenentscheidung getroffen:

„Die Gerichtskosten werden um die in Bezug auf das Einziehungsverfahren in der Berufungs- und in der Revisionsinstanz anfallenden Gerichtsgebühren gemindert. Die Staatskasse hat die dem Angeklagten im Verfahren aller Instanzen entstandenen notwendigen Auslagen, die die Einziehung betreffen, zu erstatten. Der Angeklagte hat die weiteren Kosten seiner Rechtsmittel zu tragen.“

Das BayObLG hat seine Entscheidung (Beschl. v. 27.10.2023 – 204 StRR 394/23, a.a.O.) umfassend begründet, und zwar wie folgt: Entfalle die Einziehungsanordnung aus Rechtsgründen, müsse sich dies, wenn die Tragung der gesamten Kosten durch den Angeklagten unbillig wäre, bei der Kostenentscheidung zugunsten des Angeklagten auswirken. Dies geschehe dadurch, dass die Gerichtskosten um die in Bezug auf das Einziehungsverfahren in den Rechtsmittelinstanzen anfallenden Gebühren (Nrn. 3430 und 3440 KV GKG) gemindert (§ 473 Abs. 4 S. 1 StPO) und dass dem Angeklagten diejenigen durch das Einziehungsverfahren in allen Instanzen entstandenen notwendigen Auslagen (Nr. 4142 VV RVG) erstattet werden (§ 473 Abs. 4 S. 2, § 465 Abs. 2 S. 3 StPO analog). Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung stehe dem nicht entgegen, da sich für das Strafverfahren und das Einziehungsverfahren unterschiedliche Gebühren- und Vergütungssysteme gegenüberstehen, die es schwierig machen, den Rechtsmittelerfolg in einer jeweils einheitlichen Quote der zu ermäßigenden Gerichtskosten und der zu erstattenden notwendigen Auslagen abzubilden, während demgegenüber die auf die Einziehung entfallenden Kosten ohne Weiteres ausscheidbar sind.

Hinweis:

Anzumerken ist: Das BayObLG setzt in der Entscheidung konsequent die Rechtsprechung des BGH (s. einerseits BGH, Beschl. v. 25.2.2021 – 1 StR 423/20, NJW 2021, 1829 = AGS 2021, 287 = JurBüro 2021, 367 = Sonderausgabe StRR 11/2021, 2; Beschl. v. 6.10.2021 – 1 StR 311/20, AGS 2022, 369; Beschl. v. 13.10.2021 – 4 StR 270/21), die insoweit den Rechtsgedanken des § 465 Abs. 2 StPO anwendet (vgl. aber andererseits BGH, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 StR 458/20, NStZ-RR 2021, 229 m.w.N.; auch noch BGH, Beschl. v. 24.3.2021 – 1 StR 13/21; Beschl. v. 21.12.2021 – 3 StR 381/21, NStZ-RR 2022, 109), um. Das ist m.E. auch zutreffend, weil man den Angeklagten, der sich gegen eine Einziehung gewehrt hat, dann, wenn er zwar verurteilt wird, aber hinsichtlich der Einziehung Erfolg hatte, nicht auf den insoweit entstandenen Gebühren und Auslagen „sitzen lassen“ kann. Denn die dadurch entstehenden Belastungen können beträchtlich sein. Als Verteidiger muss man also diese Rechtsprechung im Blick haben und ggf. gegen die Kostenentscheidung, wenn sie den Teilerfolg nicht berücksichtigt, Rechtsmittel (§ 464 Abs. 3 StPO) einlegen.

Hinzuweisen ist hier dann auf zwei weitere Entscheidungen zu Kosten-/Auslagenfragen bei der Einziehung:

  • Das LG Hildesheim (Beschl. v. 13.12.2023 – 21 Qs 4/23, AGS 2024, 91) äußert sich zur Frage der Auslagenerstattung für den Einziehungsbeteiligten nach Erlöschen des Einziehungsanspruchs vor Verfahrensabschluss. Dazu meint das LG, dass die notwendigen Auslagen eines Einziehungsbeteiligen regelmäßig nicht aus Billigkeitsgründen der Staatskasse aufzuerlegen sind, wenn von einer Einziehungsentscheidung gegen diesen abgesehen wird, nachdem der aus der Tat erwachsene Wertersatzanspruch des Verletzten infolge von diesem veranlasster Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach Anordnung der Einziehungsbeteiligung, aber vor Abschluss des Verfahrens erloschen ist.
  • Das LG Braunschweig (Beschl. v. 14.12.2023 – 8 Qs 326/23, AGS 2024, 87) äußert sich sowohl zur Frage des Gegenstandswerts bei der Einziehung – Stichwort: Gegenstandswert bei unterschiedlichen Werten in der Anklage und im (Einziehungs-)Antrag der Staatsanwaltschaft – sowie zur Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO in erstinstanzlichen Verfahren. Das LG hält die Regelung des § 465 Abs. 2 StPO auch in erstinstanzlichen Verfahren für anwendbar. Entscheidend für die Berechnung des Gegenstandswerts für die Nr. 4142 VV RVG sei im Übrigen nicht, in welcher Höhe die Staatsanwaltschaft am Ende der Beweisaufnahme eine Einziehung für gerechtfertigt hält, sondern vielmehr, welcher Betrag durch die Anklageerhebung zum Verfahrensgegenstand gemacht wird (zum Gegenstandswert s. auch Burhoff/Volpert/Burhoff, a.a.O., Nr. 4142 VV Rn 29 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

3. Antragsberechtigung im Adhäsionsverfahren

Rechtsmittelentscheidungen zur Adhäsion nehmen zu. Daran kann man deutlich ablesen, dass, was vom Gesetzgeber gewünscht ist, die Bedeutung des Adhäsionsverfahrens in der Praxis immer mehr zunimmt. Das ist u.a. auch auf die gesetzlichen Regelungen der letzten Jahre und die (Über-)Betonung des Opferschutzes durch den Gesetzgeber zurückzuführen. Hinzuweisen ist in dem Zusammenhang auf eine (weitere) BGH-Entscheidung, und zwar auf den Beschl. v. 14.11.2023 – 6 StR 495/23, der eine Erweiterung der Antragsberechtigung auf den (gewillkürten) Prozessstandschafter „absegnet“. Diese hatten ihren Grund u.a. auch in den Änderungen durch das „Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.“ v. 25.6.2021 (BGBl I, S. 2099) (dazu u.a. Burhoff, StRR 6/2022, 5; s.a. Burhoff, EV, Rn 4702 ff.).

Folgender Sachverhalt: Das LG hat den Angeklagten wegen Betrugs in 23 Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt sowie eine Einziehungs- und zwei Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg. Die Revision gegen den Schuld- und Strafausspruch und die Einziehungsentscheidung hat der BGH nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

Die Adhäsionsentscheidungen hatten nach Auffassung des BGH (a.a.O.) ebenfalls Bestand. Auch soweit der Angeklagte zur Zahlung von Schadensersatz an eine b.GmbH verurteilt worden sei, liege ein wirksamer Adhäsionsantrag und damit die für das Annexverfahren von Amts wegen zu prüfende notwendige Verfahrensvoraussetzung vor (vgl. BGH, Beschl. v. 3.6.1988 – 2 StR 244/88, NStZ 1988, 470). Zwar habe die geschädigte Gesellschaft den Anspruch nicht selbst geltend gemacht (§ 403 S. 1 StPO); es liege allerdings ein näher begründeter Antrag der a.GmbH vor, den Angeklagten zur Zahlung von Schadensersatz an ihre Tochtergesellschaft, die b.GmbH, zu verurteilen. Anlass zu näherer Erörterung gebe – so der BGH (a.a.O.) – insoweit allein die hier an § 403 S. 2 StPO zu messende Antragsbefugnis. Nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut sei hiernach antragsbefugt, wer einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch geltend mache. Diese Ergänzung des § 403 StPO sei eingefügt durch das „Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.“ v. 25.6.2021 (BGBl I S. 2099, 2105). Sie begründe – korrespondierend mit der bislang zum Entschädigungsrecht des Verletzten ergangenen Rechtsprechung (BT-Drucks 19/27654, S. 106 f.) – eine Antragsbefugnis auch für Personen, die nicht unmittelbare oder mittelbare Verletzte der Tat oder deren Erben seien (vgl. § 403 S. 1 StPO). Der Gesetzgeber habe die Antragsberechtigung insoweit von der – durch dasselbe Reformgesetz eingefügten – Legaldefinition des Verletztenbegriffs in § 373b StPO entkoppelt (vgl. BT-Drucks a.a.O.), um den Kreis der Berechtigten nicht auf die Verletzten nach § 373b StPO zu beschränken (vgl. KMR-StPO/Nepomuck, 118. Lfg., § 403 Rn 1; Löwe/Rosenberg/Wenske, StPO, Bd. 9, 27. Aufl. 2022, § 403 Rn 2 [im Folgenden kurz: LR/Bearbeiter]; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch/Werner, StPO, 5. Aufl. 2022, § 403 Rn 1 [im Folgenden kurz: SSW-StPO/Bearbeiter]). Der Antragssteller nach § 403 S. 2 StPO könne deshalb etwa als Rechtsnachfolger des Verletzten, namentlich im Wege des vertraglichen (vgl. § 398 BGB) oder gesetzlichen Forderungsübergangs (vgl. § 116 Abs. 1 SGB X), einen eigenen Anspruch oder – nach Ermächtigung durch den Verletzten – einen fremden Anspruch im eigenen Namen geltend machen (sog. gewillkürte Prozessstandschaft).

Dieses Normverständnis werde über den Gesetzeswortlaut hinaus durch die Regelungssystematik des Fünften Buchs der StPO belegt (vgl. LR/Wenske, a.a.O.; a.A. KMR-StPO/Nepomuck, a.a.O., Rn 3; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 403 Rn 4; SSW-StPO/Schöch/Werner, a.a.O., § 403 Rn 3). Hiernach bestehen für Adhäsionskläger, die nicht Verletzte der Tat und damit prozessual nicht in gleicher Weise wie diese schutzwürdig sind, eigene, allerdings stark begrenzte Verfahrensrechte. So seien insbesondere die §§ 406d ff. StPO schon mangels Verletzteneigenschaft (§ 373b StPO) grundsätzlich nicht anwendbar (vgl. BT-Drucks a.a.O., S. 108). Allein das Akteneinsichtsrecht sei für die nach § 403 S. 2 StPO Antragsberechtigten zur Anspruchsdurchsetzung spezifisch geregelt (vgl. § 406e Abs. 4 StPO; LR/Wenske, a.a.O., sowie § 406e Rn 47). Dem stehe auch die Gesetzesgenese nicht entgegen (a.A. BeckOK-StPO/Ferber, 49. Ed., § 403 Rn 1). Der Gesetzgeber habe mit § 403 S. 2 StPO eine Antragsberechtigung für Personen sicherstellen wollen, die nur mittelbar durch die Tat geschädigt seien (vgl. BT-Drucks a.a.O., S. 106). Hingegen sei den Gesetzesmaterialien – insbesondere im Lichte der vorgenannten gewichtigen normativen Gesichtspunkte – kein Anhalt dafür zu entnehmen, dass er sich ausdrücklich gegen eine erweiterte Antragsbefugnis ausgesprochen habe.

Das Antragsrecht ergebe sich hier aus dem Gesichtspunkt der Prozessstandschaft. Eine gewillkürte Prozessstandschaft sei zulässig, wenn der Prozessführende vom Rechtsinhaber zu dieser Art der Prozessführung ermächtigt worden sei und er ein eigenes schutzwürdiges Interesse an ihr habe (vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 10.6.2016 – V ZR 125/15, NJW 2017, 486). Das schutzwürdige Eigeninteresse sei gegeben, wenn die Entscheidung Einfluss auf die eigene Rechtslage des Prozessführungsbefugten habe (vgl. BGH, Urt. v. 2.10.1987 – V ZR 182/86, NJW-RR 1988, 126, 127; v. 5.2.2009 – III ZR 164/08, NJW 2009, 1213, 1215). Es könne auch durch ein wirtschaftliches Interesse begründet werden (vgl. BGH, Urt. v. 23.9.1992 – I ZR 251/90, BGHZ 119, 237, 242). Eine solche Prozessführungsbefugnis sei im Zivilprozess (vgl. BGH, Urt. v. 25.11.2004 – I ZR 145/02, BGHZ 161, 161, 165; v. 2.10.1987 – V ZR 182/86, NJW-RR 1988, 126, 127), aber auch im Adhäsionsverfahren von Amts wegen zu prüfen.

Hinweis:

In vergleichbaren Fällen müssen zur Prozessstandschaft in der Antragschrift Ausführungen zum Verhältnis der Gesellschaften zueinander, insbesondere zum bestehenden wirtschaftlichen Interesse (vgl. BGH, Urt. v. 13.10.1994 – I ZR 99/92, NJW-RR 1995, 358, 361) und der erteilten Ermächtigung gemacht werden (so inzidenter BGH im Beschluss).

IV. Vorlage der Vollmacht im Kostenfestsetzungsverfahren

Muss, wenn der Rechtsanwalt/Verteidiger im Kostenfestsetzungsverfahren nach einem Auszahlung des festzusetzenden Betrages an sich verlangt, eine Geldempfangsvollmacht im Original vorlegen? Diese Frage hat das KG jetzt bejaht. Ein elektronisches Dokument in Form eines Scans des schriftlichen Originals ist nach Auffassung des KG zum Nachweis der Vollmacht im Kostenfestsetzungsverfahren nicht ausreichend (KG, Beschl. v. 12.1.24 - 1 Ws 122/23). Der Rechtsanwalt müsse seine Antragsberechtigung in Form einer aktuellen Vollmacht mit Geldempfangsvollmacht im Original nachweisen. Das begründet das KG mit dem Hinweis auf die über § 464b S. 3 StPO entsprechend anzuwendenden Vorschriften der ZPO, zu denen – so das KG - auch die für alle Verfahrensarten gültigen grundsätzlichen Bestimmungen über Prozessbevollmächtigte und Beistände in den §§ 78-90 ZPO gehören (vgl. BGH NJW 2011, 3722 m.w.N.). Gemäß § 80 S. 1 ZPO sei die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten zu reichen. Bei einem von dem Rechtsanwalt per beA übersandten und signierten Datei des Scans der Vollmachtsurkunde handele es sich nicht um eine schriftlich zu den Gerichtsakten gereichte Vollmacht i.S.d. des § 80 Abs. 1 ZPO. Ein elektronisches Dokument in Form eines Scans des schriftlichen Originals stehe insoweit Kopien gleich und sei zum Nachweis der Vollmacht nicht ausreichend.

Hinweis:

Das wird in Rechtsprechung und Literatur zum Teil anders gesehen (vgl. Burhoff/Volpert/Volpert, a.a.O., Teil A Rn 1448 m. Hinweis auf LG Duisburg StraFo 03, 104 = AGS 03, 219). Danach ist, wenn die Strafprozessvollmacht nebst Geldempfangsvollmacht dem Gericht nicht als Original schon im Hauptverfahren vorlag und das dort als ausreichend angesehen worden ist, ist Vollmacht im Kostenfestsetzungsverfahren nicht mehr zu prüfen. Mit dieser Ansicht hat sich das KG nicht auseinander gesetzt.

Allerdings: Als Verteidiger/Rechtsanwalt sollte man sich in solchen Fällen überlegen, ob es Sinn macht, sich auf einen Streit mit der Staatskasse einzulassen. Hier hatte der Verteidiger gegenüber der Forderung der Staatskasse nach der Originalvollmacht auf einer rechtsmittelfähigen Entscheidung bestanden. Das bringt aber ja nun kein Geld in die Kasse, sondern macht – wie hier – ggf. einen neuen Festsetzungsantrag erforderlich. Warum erspart man sich also die Arbeit nicht und erfüllt den Wunsch der Staatskasse, wenn auch „zähneknirschend“.

Oder noch besser: Warum lässt man sich nicht den Kostenerstattungsanspruch des Mandanten abtreten – ggf. auch noch nachträglich? Dann braucht man nämlich keine Geldempfangsvollmacht (mehr), weil man ja dann als Verteidiger/Rechtsanwalt einen eigenen Anspruch geltend macht (dazu AG Hamburg-Harburg, Beschl. v. 25. 4.2023 - 664 Ds 4/22 jug).

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