aus Verkehrsrecht Aktuell (VA) 2003, 14
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "VA" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "VA" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von RiOLG Detlef Burhoff, Ascheberg/Hamm
Die Verteidigung Betroffener wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen gehört zur täglichen Praxis der anwaltlichen Verteidigung. Diese wird, da die technische Entwicklung der Messgeräte immer weiter fortschreitet, zunehmend schwieriger. Mit Recht wird deshalb daraus als Konsequenz gefordert, dass die formalen Anforderungen an die Geschwindigkeitsüberwachung wieder stärker berücksichtigt werden (so Starken DAR 98, 85). Wir zeigen Ihnen, worauf Sie insoweit achten müssen, insbesondere wenn Ihr Mandant im Bereich des Orteinsgangsschildes "geblitzt" worden ist.
Hinweis: Die nachfolgenden Ausführungen gelten nicht nur für das so genannte "Blitzen im Ortseingangsbereich", sondern für alle Geschwindigkeitsüberwachungen in der Nähe einer Geschwindigkeitsbeschränkung.
1. Von welchem Grundsatz ist auszugehen?
Grundsätzlich muss der Kraftfahrer seine Geschwindigkeit (immer) so einrichten, dass er bereits beim Passieren eines die Geschwindigkeit beschränkenden Schildes die von diesem vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten kann (BayObLG DAR 95, 495 = NZV 95, 496; OLG Oldenburg NZV 94, 286; OLG Saarbrücken zfs 87, 30; OLG Stuttgart VRS 59, 251). Der in eine geschlossene Ortschaft hineinfahrende Kraftfahrer muss also bereits am Orteingangsschild die innerorts in der Regel nur zulässigen 50 km/h erreicht haben, während der die Ortschaft verlassende Kraftfahrer demgemäss erst ab Erreichen des Ortsausgangsschildes schneller als 50 km/h fahren darf. Erst an dieser Stelle hebt die so genannte Ortsendtafel (Zeichen 311 der StVO) eine innerörtlich angeordnete Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf (BayObLG DAR 93, 394).
Praxishinweis: Etwas anderes gilt, wenn die innerörtliche Beschränkung der Geschwindigkeit auf Grund besonderer Orts-, Sicht oder Lichtverhältnisse nur schwer rechtzeitig erkennbar war (BayObLG, a.a.O.; NStZ-RR 98, 248; OLG Stuttgart, a.a.O.). Das gilt z.B. dann, wenn das Ortseingangsschild für den Betroffenen durch einen vor ihm fahrenden Lkw verdeckt war (vgl. aber BayObLG NStZ-RR 98, 248).
2. Gibt es von diesem Grundsatz Abweichungen?
Nein. Die gesetzliche Regelung ist eindeutig. Es gibt allerdings Richtlinien und Erlasse zu Verkehrs- und Geschwindigkeitsüberwachung, die u.a. auch das "Blitzen in der Nähe einer Geschwindigkeitsbeschränkung" regeln. Festgelegt ist in diesen Richtlinien häufig, in welcher Entfernung zu einer Geschwindigkeitsbeschränkung eine Geschwindigkeitsüberwachung durchgeführt werden darf.
3. Sind diese Richtlinien verbindlich?
Ja. Die Richtlinien sind zwar nur innerdienstliche Vorschriften. Sie sichern aber auch die Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer in vergleichbaren Kontrollsituationen, indem sie für alle mit der Verkehrsüberwachung betrauten Beamten verbindlich sind (BayObLG DAR 95, 495 = NZV 95, 496; zuletzt NStZ-RR 02, 345; OLG Oldenburg NZV 94, 286).
4. Gelten bundeseinheitliche Richtlinien?
Nein. Die Richtlinien werden von den Bundesländern erlassen und haben teilweise unterschiedliche Inhalte (siehe die Zusammenstellung bei Starken DAR 98, 85). Das kann für den Verteidiger Auswirkungen bei der Begründung eines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde haben (siehe dazu unten 8.).
Praxishinweis: Teilweise haben die Bundesländer ihre Richtlinien vollständig veröffentlicht (vgl. die Zusammenstellung bei Starken a.a.O.), dies teilweise aber auch unter Hinweis auf den internen Dienstgebrauch abgelehnt. Der Verteidiger muss versuchen, den Inhalt der jeweiligen Richtlinie in Erfahrung zu bringen, da er sonst nicht prüfen kann, ob die Geschwindigkeitsüberwachung entsprechend den vom Bundesland aufgestellten Richtlinien erfolgt ist. Dazu wird er, wenn die Richtlinie nicht veröffentlicht ist, beim jeweiligen Verkehrs- oder Innenministerium anfragen müssen. Erhält er von dort keine Auskunft, muss er in der Hauptverhandlung ggf. einen entsprechenden (Beweis-)Antrag stellen. In dem muss er behaupten, dass die durchgeführte Geschwindigkeitsüberwachung nicht den aufgestellten Richtlinien des zuständigen Bundeslandes entspricht und Beiziehung der Akten bzw. Richtlinien beantragen.
5. Welche Besonderheiten gelten beim Blitzen in der Nähe des Ortseingangsschildes?
In den Richtlinien werden Entfernungen festgelegt. Diese betragen zwischen mindestens 150 m so z.B. in Baden-Württemberg und Bremen bzw. mindestens 200 m z.B. in Bayern und in NRW (siehe im Übrigen Starken DAR 98, 85). Innerhalb dieses Bereichs sollen vor und hinter Geschwindigkeitsbeschränkungen, wie z.B. dem Ortseingangsschild, keine Geschwindigkeitsmessungen stattfinden.
Praxishinweis: Aus sachlichen Gründen kann allerdings von diesen Entfernungsangaben abgewichen werden (vgl. OLG Hamm DAR 00, 580). Das kann z.B. der Fall sein, wenn sich in dem Bereich besondere Gefahrensituationen, wie Zu- und Abfahrten zu stark frequentierten Parkplätzen, Kindergärten und Schulen befinden (siehe dazu auch OLG Oldenburg NZV 96, 375). Etwas anderes kann auch gelten, wenn die Geschwindigkeit vor dem Ortseingang durch einen "Geschwindigkeitstrichter" herabgestuft wird und die Messung nicht in der ersten Stufe erfolgt (OLG Oldenburg NZV 95, 288; OLG Hamm DAR 96, 382 bei Burhoff).
6. Führt ein Verstoß gegen die Richtlinien zur Unverwertbarkeit der Messung?
Nein. Die Messung bleibt grundsätzlich verwertbar, allerdings können die Rechtsfolgen für den Betroffenen gemildert sein.
7. Welche Milderungen können sich aus dem Verstoß gegen die Richtlinien ergeben?
Der Verstoß gegen die Richtlinien zur Verkehrsüberwachung kann insbesondere Auswirkungen auf ein ggf. zu verhängendes Fahrverbot haben. Wird nämlich das Geschwindigkeitsmessgerät entgegen den Richtlinien relativ kurz nach oder vor einer Ortstafel eingesetzt, so ist das in der Regel eine besonderer Tatumstand, der hinsichtlich des Fahrverbotes die Annahme eines Ausnahmefalles rechtfertigen kann, auch wenn die Messung in ihrem Ergebnis korrekt war (BayObLG DAR 95, 495; NStZ-RR 02, 345). Es liegen dann nämlich keine "gewöhnlichen Tatumstände" i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 BKatVO vor (OLG Oldenburg NZV 96, 375; OLG Köln VRS 96, 62; OLG Brandenburg JMBl BB 96, 173; BayObLG, a.a.O.)
Wenn die Geschwindigkeitsmessung unmittelbar nach dem Ortseingangsschild vorgenommen wird, wird die Verhängung eines Fahrverbotes in der Regel nicht in Betracht kommen (OLG Oldenburg NZV 96, 375; OLG Köln VRS 96, 62; OLG Brandenburg JMBl BB 96, 173; BayObLG, a.a.O.; OLG Hamm DAR 00, 580).
Etwas anderes gilt, wenn vor dem Ortseingang ein Geschwindigkeitstrichter eingerichtet war (OLG Oldenburg NZV 95, 288) oder sich eine Gefahrenstelle befand (OLG Hamm DAR 00, 580).
Das Orteingangsschild bzw. die Gefahrenstelle muss für den Betroffenen erkennbar gewesen sein (OLG Brandenburg zfs 97, 434; OLG Hamm, a.a.O.). Ist das nicht der Fall oder hat er das Schild aus leichter Fahrlässigkeit übersehen, kann ebenfalls das Absehen von einem Fahrverbot in Betracht kommen (BayObLG NStZ-RR 98, 248; vgl. grundlegend zum "Augenblicksversagen" BGH NJW 97, 3252).
Praxishinweis: In diesem Zusammenhang ist immer von Bedeutung, ob der Betroffene nicht aus sonstigen Umständen erkennen konnte, dass er sich bereits im Ortsbereich befand. Das kann z.B. eine eindeutige geschlossene Bebauung sein. Dem OLG Hamm hat insoweit allerdings die Feststellung, längs der Straße habe sich "Wohn- und Industriebebauung" sowie in regelmäßigen Abständen Bushaltestellen, nicht ausgereicht (vgl. DAR 96, 245). Anders hat das BayObLG argumentiert und aus einer vorhandenen Straßenbeleuchtung geschlossen, dass der Betroffene habe damit rechnen müssen, dass er sich schon innerhalb des Ortsbereichs befunden habe (vgl. NZV 98, 212).
8. Welche Auswirkungen hat diese Rechtsprechung auf die Verteidigungspraxis?
Der Verteidiger muss zunächst durch Akteneinsicht prüfen, ob die Geschwindigkeitsmessung den entsprechenden Richtlinien entspricht. Das muss sich aus dem sog. Messprotokoll ergeben. Ggf. wird er eine Ortsbesichtigung vornehmen (müssen), um Besonderheiten festzustellen und zu überprüfen, ob die angegebene Messstelle tatsächlich den vorgeschriebenen Abstand zum geschwindigkeitsbeschränkenden Ortseingangsschild eingehalten hat.
Der Verteidiger muss die von ihm festgestellten Umstände beim AG vortragen, um so die Annahme eines Ausnahmefalls zu begründen. Ggf. muss er entsprechende Beweisanträge stellen. Das AG muss sich mit diesen Umständen im Urteil auseinandersetzen (vgl. u.a. BayObLG NStZ-RR 02, 345; OLG Brandenburg JMBl BB 96, 173). Es genügt dann nicht nur die bloße Verweisung auf die BKatVO, da eben keine gewöhnlichen Tatumstände i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 BKatVO vorliegen.
Die Unterschiede in den Richtlinien können Auswirkungen auf die Argumentation eines gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG gestellten Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde haben. Hier kann argumentiert werden, dass diese entweder zur Sicherung einer einheit-lichen Rechtsprechung oder zur Fortentwicklung des Rechts zuzulassen ist. Der Verteidiger sollte auf die Ungleichbehandlung hinweisen, die durch die unterschiedliche Richtlinienpraxis der Bundesländer entsteht. Diese führt nämlich dazu, dass ein Verstoß, der in einem Bundesland schon verfolgt wird, in einem anderen noch folgenlos bleibt.
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