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aus "AnwaltsGebührenSpezial" 2001, 122

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "AGS" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "AGS" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Pauschvergütung über Wahlverteidigerhöchstgebühr?

von RiOLG Detlef Burhoff, Ascheberg/Hamm

I. Einleitung

Das OLG Hamm hat vor kurzem einem Pflichtverteidiger in einem Wirtschaftsstrafverfahren eine über die Wahlverteidigerhöchstgebühr hinausgehende Pauschvergütung nach § 99 BRAGO bewilligt (OLG Hamm, Beschl. v. 19. 5. 2000–2 (s) Sbd. 48/2000 = StraFo 2000, 285 = ZAP EN-Nr. 461/2000 = StV 2000, 443 (Ls.) = NStZ 2000, 555 = wistra 2000, 398 = http://www.burhoff.de). Dies ist Anlass, die Rechtsprechung zu dieser - für den Pflichtverteidiger bedeutsamen - Frage zusammenzustellen.

In Zusammenhang mit dieser Frage gibt es in der Rechtsprechung immer wieder Streit. Dieser hat seinen Ursprung u. a. darin, dass die Funktion der Pauschvergütung teilweise noch immer nicht als eine die Tätigkeit des Pflichtverteidigers angemessen honorierende Vergütung angesehen wird, sondern nur unzumutbare Belastungen des Pflichtverteidigers vermeiden soll (vgl. dazu aus neuerer Zeit u. a. OLG Düsseldorf AGS 1999, 71). Deshalb wird von der überwiegenden Meinung als obere Grenze der Pauschvergütung in der Regel die dem Wahlverteidiger zustehende Höchstgebühr angesehen (OLG Karlsruhe NJW 1974, 110 = Rpfleger 1974, 34; BayObLG JurBüro 1977, 691; KG JurBüro 1992, 742; OLG Koblenz Rpfleger 1992, 268; OLG München JurBüro 1977, 370; Hartmann, Kostengesetze, 30. Aufl., § 99 BRAGO Rn. 11 m. w. N.; siehe auch Herrmann in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 3. Aufl. 1998, S. 1103 Ziffer 24 m. w. N.). Überschritten werden können soll diese Grenze grundsätzlich nur in Sonderfällen (siehe u. a. OLG Düsseldorf AnwBl 1992, 402; OLG Bremen JurBüro 1981, 1193; OLG Bamberg JurBüro 1982, 90; OLG Hamm JMBl. NW 1974, 94; JurBüro 1994, 101), und zwar dann, wenn auch die Wahlverteidigerhöchstgebühr in einem grob unbilligen Missverhältnis zu der Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers stehen würde, was z. B. bei außergewöhnlich umfangreichen und schwierigen Strafsachen in Betracht kommen kann (OLG Hamm ZAP EN-Nr. 142/2000 = AGS 2000, 7; OLG München JurBüro 1977, 369; Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert, BRAGO, 14. Aufl., § 99 Rn. 10 m. w. N.) oder wenn die Strafsache über einen längeren Zeitraum die Arbeitskraft des Verteidigers ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch genommen hat (so jetzt st.Rspr. des OLG Hamm, siehe z. B. StraFo 1997, 63 = JurBüro 1997, 84; OLG Dresden StV 1998, 619).

II. Die Entscheidung des OLG Hamm

1. Sachverhalt

Der Entscheidung des OLG Hamm lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Pflichtverteidiger war dem Angeklagten etwa sechs Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung in einem Wirtschaftsstrafverfahren, das seinen Ursprung im Balsam-Verfahren hatte, beigeordnet worden. Er war zuvor nicht als Wahlverteidiger tätig gewesen.

Nach seiner Beiordnung nahm der Pflichtverteidiger Akteneinsicht in die Hauptakten mit etwa 1000 Seiten. Er sah außerdem die zahlreichen Beweismittel ein. Diese hatten einen Umfang von rund 600.000 Seiten.

Die Hauptverhandlung fand an 22 Terminen vor der großen Strafkammer - Wirtschaftstrafkammer - des LG Bielefeld statt. Die durchschnittliche Dauer der Hauptverhandlungstermine betrug rund 5 Stunden 30 Minuten. 3 Termine dauerten mehr als 8 Stunden, 7 mehr als 7 Stunden, 5 zwischen 4 und 5 Stunden und 7 Termine weniger als 4 Stunden. Die 22 Termine waren auf 24 Wochen verteilt, einmal war die Hauptverhandlung für 30 Tage unterbrochen. In der Hauptverhandlung wurden 18 Zeugen vernommen. Außerdem wurden zahlreiche teilweise umfangreiche Schriftstücke - Verträge, Protokolle und Berichte - verlesen. Der Antragsteller hat selbst mehrere, zum Teil umfangreiche, (Beweis-)Anträge gestellt.

Neben der Tätigkeit in der Hauptverhandlung hat der Pflichtverteidiger an 18 Besprechungen mit dem Angeklagten und seinem Wahlverteidiger teilgenommen. Diese mehrstündigen Besprechungen fanden in der Regel in den Nachmittagsstunden statt. Insgesamt erbrachte er insoweit 70 Stunden.

Gegen das 117 Seiten lange Urteil der Strafkammer hat der Pflichtverteidiger Revision eingelegt, die er auf 23 Seiten mit der Rüge des formellen Rechts begründet hat.

2. Entscheidungsgründe

Das OLG Hamm hat dem Pflichtverteidiger, dessen gesetzliche Gebühren 8.800 DM betragen hätten, eine über den Wahlverteidigerhöchstgebühren von 18.750 DM liegende Pauschvergütung von 20.000 DM bewilligt. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Das Verfahren sei nicht nur "besonders schwierig" im Sinn des § 99 Abs. 1 BRAGO, sondern auch "besonders umfangreich" gewesen. Neben den umfangreichen Akten und Beiakten, der schon überdurchschnittlichen Hauptverhandlungsdauer von rund 5 Stunden 30 Minuten und der auch im Revisionsverfahren - verglichen mit anderen Verfahren - im oberen Bereich liegenden Tätigkeit war ausschlaggebend, dass sich der Pflichtverteidiger in verhältnismäßig kurzer Zeit in das - insoweit - äußerst umfangreiche Aktenmaterial habe einarbeiten müssen. Ihm seien nach seiner Beiordnung bis zum Beginn der Hauptverhandlung dafür nur gut sechs Wochen verblieben. Hinzu kämen die zahlreichen zeitintensiven Besprechungen mit dem Mandanten und dem Wahlverteidiger. Diese gehen mit rund 70 Stunden erheblich über das hinaus, was sonst in Verfahren vor der Strafkammer üblich ist. Auch sonst habe der Antragsteller für die Vor- und Nachbereitung der Hauptverhandlung und sonstige Tätigkeiten anrechenbar noch weitere 20 Stunden erbracht.

Bei der überschlägigen Bemessung der Pauschvergütung hat der Senat den von dem Pflichtverteidiger erbrachten Zeitaufwand pauschal pro Hauptverhandlungstag mit etwa der Zeit berücksichtigt, die ungefähr für jeweils einen weiteren Hauptverhandlungstag aufzubringen gewesen wäre. In die Berechnung sind somit rund 22 weitere Fortsetzungsgebühren eingeflossen.

Die Überschreitung der Wahlverteidigerhöchstgebühr hat das OLG im übrigen mit folgenden weiteren Punkten begründet:

· Es werde an der ständigen Rechtsprechung des Senats, wonach die Wahlverteidigerhöchstgebühr grundsätzlich nur dann in Betracht komme, wenn das Verfahren den Pflichtverteidiger über einen längeren Zeitraum ganz oder fast ausschließlich in Anspruch genommen habe (vgl. OLG Hamm AGS 1998, 87 = StraFo 1998, 215 = JurBüro 1998, 413; AGS 1999, 104 = JurBüro 1999, 134; StraFo 1999, 431) festgehalten. Obwohl das hier (noch) nicht der Fall sei, sei gleichwohl eine Pauschvergütung über den Wahlanwaltshöchstgebühren festgesetzt worden. Der Pflichtverteidiger habe sich nämlich in den insgesamt äußerst umfangreichen Verfahrensstoff innerhalb kurzer Zeit einarbeiten müssen. Das sei so zeitintensiv gewesen, dass der Pflichtverteidiger zumindest während dieser Einarbeitungszeit keine anderen Anwaltsmandate habe annehmen und führen können.

· Auch während des laufenden Verfahrens sei der Pflichtverteidiger erheblich durch das Verfahren in Anspruch genommen worden. Insoweit sei von rund zwei Arbeitsstagen/Woche auszugehen.

· Schließlich spreche das Gesamtgefüge der gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers dafür, eine über die Wahlverteidigerhöchstgebühr hinausgehende Pauschvergütung zu bewilligen. In dem Zusammenhang sei entscheidend, dass gerade in Wirtschaftsstrafverfahren, die in der Regel eine schwierige Materie zum Gegenstand haben, die Tätigkeit des Pflichtverteidigers häufig nicht angemessen entlohnt werde. Dabei könne dahinstehen, ob und wenn ja in welchem Umfang dem Pflichtverteidiger von Verfassungs wegen ein Sonderopfer auferlegt worden sei (dazu u. a. BVerfGE 68, 237, 245, 255; und jüngst Beschl. v. 24. 11. 2000, 2 BvR 813/99). Jedenfalls dürfe der Pflichtverteidiger in einem Wirtschaftsstrafverfahren nicht gegenüber dem in Schwurgerichtsverfahren tätigen Rechtsanwalt unzumutbar benachteiligt werden. Das sei aber bei einem Vergleich der dort anfallenden gesetzlichen Gebühren in der Regel der Fall. Diese Ungleichbehandlung, für die nicht immer ein rechtfertigender Grund besteht, lasse sich in umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren durch ein großzügigeres Annähern an oder Überschreiten der "Grenze" der Wahlverteidigerhöchstgebühr korrigierend ausgleichen.

III. Hinweise für die Praxis

Die Entscheidung ist in ihrer Tendenz erfreulich. Die umfangreichen Tätigkeiten des Pflichtverteidigers werden durch die Gewährung der über der Vergütung eines Wahlverteidigers liegenden Pauschvergütung angemessen berücksichtigt. Für die Praxis ist auf folgendes hinzuweisen:

1. Auch für die Zubilligung der Höchstgebühr ist eine Gesamtschau erforderlich (OLG Hamm StraFo 1998, 431 = JurBüro 1999, 134), wobei z. B. auch von Belang ist, ob der Pflichtverteidiger an allen Hauptverhandlungsterminen teilgenommen hat oder nicht (OLG Hamm AGS 1998, 87 = StraFo 1998, 215 = JurBüro 1998, 413; OLG Hamm ZAP EN-Nr. 142/2000 = AGS 2000, 7; OLG Hamm StraFo 1999, 431 [zusätzlich äußerst umfangreiches Aktenmaterial]).

2. Der Pflichtverteidiger muß außerdem die Fälle aus der Rechtsprechung kennen, in denen in der Vergangenheit bereits über der Wahlverteidigergebühr liegende Pauschvergütungen bewilligt worden sind. Hinzuweisen ist dabei auf folgende Einzelfälle (siehe im übrigen Herrmann, aaO, S. 1104 ff. Ziffer 25 m. w. N. aus der Rechtsprechung der OLG; siehe auch Burhoff StraFo 1999, 261, 271 [und Burhoff StraFo 2001, 119] ):

– Etwa bis zur Höchstgebühr angehoben durch das OLG Hamm (OLG Hamm, aaO; StraFo 1998, 413 = JurBüro 1999, 134; und auch JurBüro 1994, 101; OLG Hamm, Beschl. v. 28. 9. 2000, 2 (s) Sbd. 6–157 u. 158/2000 = http:/www.burhoff.de. [äußerst umfangreiches Verfahren, insbesondere aufgrund der enormen Fülle des Aktenmaterials – 600.000 Seiten –, des Umfangs der Vorbereitung der Hauptverhandlung und der auch außerhalb der Hauptverhandlung erforderlichen Zeit für die Bearbeitung des Verfahrens]) und durch das OLG Karlsruhe bei 13 Bänden Akten mit insgesamt 3.400 Seiten; Tätigkeitsdauer über 1 Jahr; zahlreiche Besprechungen mit dem Mandanten in einer auswärtigen JVA; Abkürzung der zunächst auf 4 Tage anberaumten Hauptverhandlung auf 1 Tag durch weit überdurchschnittliches Engagement des Verteidigers (OLG Karlsruhe (StV 1994, 500) oder das OLG Koblenz bei 131 Hauptverhandlungstagen beim LG, von denen der Pflichtverteidiger 124 wahrgenommen hat (OLG Koblenz StraFo 1997, 320).

– Etwa bis zum Doppelten der Höchstgebühr angehoben durch das OLG München bei einem inhaftierten Angeklagten, der an mehreren Taten in außerordentlich vielfältiger und schwer zu durchschauender und aufzuklärenden Form beteiligt war; Beanspruchung auch außerhalb der Hauptverhandlung in einem weit über den Rahmen des Üblichen hinausgehenden Maße; 34 Hauptverhandlungstage (AnwBl 1982, 213).

– Um mehr als das Doppelte der Höchstgebühr angehoben durch das OLG Karlsruhe in einem besonders umfangreichen und besonders schwierigen Verfahren; der Pflichtverteidiger war drei Jahre mit der Sache befasst; weit überdurchschnittlicher Aktenumfang; Vorbereitung einer auf 14 halbe Tage angesetzten Hauptverhandlung, von der sich dann erst am ersten Tag herausstellte, dass sie gegen den Angeklagten wegen Verhandlungsunfähigkeit nicht durchgeführt werden konnte (OLG Karlsruhe StV 1988, 353 = AnwBl 1989, 113), sowie vom OLG München in einem Verfahren mit 50 Anklagepunkten, 34 Zeugen, 1 Sachverständigen, Verlesung der Aussagen von 43 kommissarisch vernommenen Zeugen, 9 überwiegend ganztägige Hauptverhandlungstage, 63 Seiten Protokoll, 53 Seiten Urteil; anstelle gesetzlicher Gebühren von 2.080 DM Pauschvergütung von 4.500 DM (OLG München JurBüro 1977, 369; ähnlich JurBüro 1982, 94 = AnwBl 1982, 213) und schließlich vom OLG Stuttgart in einem besonders umfangreichen und schwierigen Schöffengerichtsverfahren, in dem wegen eines Zuständigkeitsstreits der BGH angerufen werden musste; Verhandlungsdauer 111/2 Stunden; anstelle der gesetzlichen Gebühren von 240 DM 500 Pauschvergütung (OLG Stuttgart KostRsp. BRAGO § 99 Nr. 5 mit krit. Anm. H. Schmidt).

– Etwa bis zum Vierfachen der Höchstgebühr angehoben vom OLG München bei außerordentlich umfangreichen Akten, Hauptverhandlungsdauer 1 1/4 Jahr mit 109 Verhandlungstagen, insgesamt 550 Stunden, Vernehmung von 212 Zeugen und 10 Sachverständigen; unübersichtliches Verfahren mit schwieriger Beweiswürdigung; anstelle der gesetzlichen Gebühren von 13.320 DM 100.000 DM (OLG München AnwBl 1977, 118).

– Etwa bis zum Fünffachen angehoben vom OLG Bamberg bei einem Zeitaufwand von 81 Arbeitsstunden, bevor das Verfahren nach 3 3/4 Jahren ohne Hauptverhandlung eingestellt wurde; anstelle von 450 DM gesetzlicher Gebühren 2.250 DM (OLG Bamberg JurBüro 1980, 1043).

– Bis zum Sechsfachen angehoben durch das OLG Hamm bei einer Verhandlungsdauer von 2 Jahren mit der Vernehmung von 105 Zeugen und 22 Sachverständigen; mehr als 100 Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Dauer von mehr als 6 Stunden bei der großen Strafkammer und umfangreicher Revisionsbegründung (OLG Hamm JurBüro 1994, 101).

– Abgelehnt worden ist eine Pauschvergütung in Höhe einer Wahlverteidigerhöchstgebühr u. a. vom OLG Koblenz, obwohl Einarbeitung in die Sache und Vorbereitung der Hauptverhandlung besonderen Einsatz erforderten und eine Vielzahl von Zeugen und Sachverständigen gehört werden musste und trotz großer Zahl und Dauer der Hauptverhandlungstage: nur (allgemeine) Pauschvergütung von 12.000 DM (OLG Koblenz Rpfleger 1992, 268) und auch vom OLG Hamm, obwohl 120 Hauptverhandlungstage vorlagen, diese sich aber auf rund 1 1/2 Jahre verteilten, also die Hauptverhandlung mit etwa 1 bis 2 Tagen/Woche nicht dicht terminiert war und die durchschnittliche Terminsdauer mit rund 3 Stunden nur unterdurchschnittlich war (OLG Hamm StraFo 1997, 63 = JurBüro 1997, 84).

3. Es ist dringend zu empfehlen, im Pauschvergütungsantrag dem OLG den erbrachten Zeitaufwand darzulegen. Dieser ergibt sich nämlich, wie die Entscheidung des OLG Hamm vom 19. 5. 2000 (s.o.) anschaulich zeigt, nicht immer aus der Akte. Wird im Pauschvergütungsantrag der vom Pflichtverteidiger erbrachte Aufwand nicht ausreichend dargelegt, läuft der Pflichtverteidiger nicht nur Gefahr, dass dieser bei der Bewilligung der Pauschvergütung unberücksichtigt bleibt. Vielmehr kann die fehlende oder nicht ausreichende Begründung dazu führen, dass der Antrag insgesamt zurückgewiesen wird (vgl. z. B. OLG Hamm, Beschl. v. 22. 12. 2000 –2 (s) Sbd. 6–205/2000 = http://www.burhoff.de m. w. N.; siehe dazu auch Burhoff StraFo 1999, 261, 265).


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