aus ZAP F 22 R, Seite 255
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
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a) Akteneinsicht zur effizienten Verteidigung
Ist die Sach- oder Rechtslage besonders schwierig, muss dem Beschuldigten nach § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich die besondere Schwierigkeit u. a. auch aus dem Umstand ergeben kann, dass die umfassende Kenntnis der Akten Voraussetzung für eine sachgerechte Verteidigung ist (BURHOFF, EV, Rn. 1238 m. w. N.). Das hat vor kurzem das OLG Hamm noch einmal bestätigt (vgl. Beschl. v. 22. 4. 2002 2 Ws 88/02, ZAP EN-Nr. 389/2002 = StraFo 2002, 293 = VRS 113, 122). Danach muss, wenn eine beweisrechtliche Problematik vorliegt, die nicht ohne Kenntnis der Akten gelöst werden kann, ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Das wird z. B. immer dann der Fall sein, wenn es um die Kenntnis von Sachverständigengutachten geht. Demgemäss hat das LG Gera (Beschl. v. 15. 7. 2002 1 Qs 277/02, PStR 2002, 217) einem wegen des Vorwurfs der Insolvenzverschleppung (§§ 84, 64 GmbHG) beschuldigten Geschäftsführer einer GmbH einen Pflichtverteidiger beigeordnet, weil ein im Rahmen des Insolvenzverfahrens eingeholtes Gutachten das entscheidende Beweismittel im Verfahren sei.
Tipp/Hinweis: Die Problematik wird insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren eine Rolle spielen. Darüber hinaus wird die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit dieser Begründung aber insbesondere auch in Insolvenzstrafverfahren nach den §§ 283 ff. StGB und in Steuerstrafverfahren nach §§ 370 AO ff. in Betracht kommen. Hat die Hauptverhandlung ohne den notwendigen (Pflicht-)Verteidiger stattgefunden, muss der darin liegende Verstoß gegen § 338 Nr. 5 in der (Sprung-)Revision mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden. |
b) Exkurs: Beiordnung im Vollstreckungsverfahren
Es ist inzwischen wohl allgemeine Meinung der Obergerichte, dass auch im Vollstreckungsverfahren die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in Betracht kommen kann (s. auch KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, StPO, 45. Aufl., 2001, § 140 Rn. 33 [im folgenden kurz: KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER]; vgl. u. a. OLG Hamm, Beschl. v. 6. 4. 2001 2 Ws 77/01, StraFo 2001, 394 = StV 2002, 320 m. w. N. = http://www.burhoff.de; vgl. dazu jetzt aber auch BVerfG NJW 2002, 2773). Dafür gelten die allgemeinen Beiordnungsgründe. In dem Zusammenhang hat allerdings die Frage, ob die Länge der noch oder der nach einem Widerruf zu vollstreckenden Strafe allein zur Beiordnung führen kann, erhebliche Bedeutung (vgl. zur Pflichtverteidigung im Verfahren zur Strafrestaussetzung eingehend ROTTHAUS NStZ 2000, 350). Die Frage wird von der Rechtsprechung übereinstimmend verneint (vgl. z. B. OLG Hamm NStZ-RR 1999, 319 = http://www.burhoff.de; NStZ-RR 2000, 113 = StV 2000, 92 = http://www.burhoff.de; ZAP EN-Nr. 411/2001 = StraFo 2002, 29 = http://www.burhoff.de, jeweils m. w. N.), und zwar auch dann, wenn noch eine Reststrafe von einem Jahr offen steht (OLG Hamm, Beschl. v. 4. 2. 2002 2 Ws 12/02, ZAP EN-Nr. 353/2002 = http://www.burhoff.de). Insbesondere ist auch im Fall des Widerrufs einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe die Länge der zu widerrufenden Strafe allein kein Kriterium für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO (OLG Hamm, Beschl. v. 10. 5. 2002 2 Ws 99/02, ZAP EN-Nr. 497/2002 = http://www.burhoff.de).
Tipp/Hinweis: Auch in diesen Fällen kommt es auf eine Gesamtabwägung der Umstände an, also z. B. auf die Persönlichkeit des Verurteilten und ob dieser aufgrund seiner Persönlichkeit überhaupt in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen.
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Fraglich ist, ob dem einem Zeugen nach § 68b StPO beigeordneten Vernehmungsbeistand das Recht zusteht, vor der Vernehmung seines Mandanten/des Zeugen Akteneinsicht zu nehmen. Während für den allgemeinen Zeugenbeistand dieses Recht von der wohl h. M. noch immer verneint wird (BVerfG NJW 1975, 103; KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, vor § 48 Rn. 11 m. w. N.; THOMAS NStZ 1982, 495; a. A. HAMMERSTEIN NStZ 1981, 125, 127; GILLMEISTER, in: Becksches Formularbuch für den Strafverteidiger, 4. Aufl., 2002, S. 1102; zw. BURHOFF, EV, Rn. 2067), wird hinsichtlich des Vernehmungsbeistandes vertreten, dass diesem als Vertreter eines Zeugen ein Akteneinsichtsrecht nach § 475 StPO (zumindest) dann zusteht, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht hat (OLG Hamburg, Beschl. v. 3. 1. 2002 2 Ws 258/01, NJW 2002, 1590; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21. 5. 2002 VI 9/01, StraFo 2002, 292; BURHOFF, EV, Rn. 1856 m. w. N.). Dem ist zuzustimmen.
Das OLG Düsseldorf (a. a. O.) hat allerdings ein berechtigtes Interesse abgelehnt, wenn es um die Vertretung eines ggf. nach § 55 StPO auskunftsverweigerungsberechtigten Zeugen geht. Zwar sei es Aufgabe des Vernehmungsbeistandes, diesem bei der Entscheidung über sein Auskunftsverweigerungsrecht behilflich zu sein, dafür sei aber Kenntnis der Sachakten nicht erforderlich. Die Entscheidung über die Auskunftsverweigerung müsse für die jeweils in der Hauptverhandlung tatsächlich gestellten Fragen getroffen werden und könne sich nicht danach richten, welche Fragen aufgrund von Akteneinsicht vorab als möglich angesehen werden. Der Zeuge müsse sich anhand des ihm mitgeteilten Beweisthemas und nicht anhand der Akte auf seine Befragung vorbereiten. Dem kann man m. E. nicht zustimmen. Denn der Beistand wird kaum die Interessen des Zeugen sachgerecht wahrnehmen können, wenn er dazu nur auf die Informationen gerade des Zeugen, der sich nicht sachgerecht verteidigen kann bzw. der gefährdet ist, angewiesen ist. Deshalb werden ihm auf seinen Antrag daher zumindest die Informationen aus den Akten zugänglich gemacht werden müssen, die ihn über den Tatvorwurf aufklären und die den Zeugen betreffen, wie z. B. Protokolle über frühere Vernehmungen des Zeugen (s. auch BURHOFF, a. a. O.; SENGE, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 4. Aufl., § 68b Rn. 9).
Tipp/Hinweis: Die in diesem Fall mit der Akteneinsicht zusammenhängenden Entscheidungen des Vorsitzenden sind für den Beistand allerdings nicht mit der Beschwerde anfechtbar (OLG Hamburg, a. a. O.; BURHOFF, EV, Rn. 128, 1856). Gegen die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft kann jedoch nach § 478 Abs. 3 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden (BURHOFF, a. a. O.). |
Das BVerfG hat in seinem Urt. v. 20. 2. 2001 (2 BvR 1444/00, NJW 2001, 1121 = StV 2001, 207; s. dazu auch BURHOFF ZAP F. 22 R, S. 182) ausgeführt, dass die Durchsuchung einer Wohnung ein schwerwiegender Eingriff ist, dessen Anordnung im Regelfall dem Richter vorbehalten bleiben muss. Dieser habe gem. § 162 Abs. 3 StPO zu prüfen, ob die von der StA beantragte (§ 162 Abs. 1 StPO) oder von der Polizei angeregte (§§ 163 Abs. 2 S. 2, 165 StPO) Untersuchungshandlung nach den Umständen des Falles gesetzlich zulässig ist. Nur wenn "Gefahr im Verzug" vorliegt, geht danach die Anordnungskompetenz auf die StA oder einen ihrer Hilfsbeamten über. Das setze aber voraus, dass konkrete, einzelfallbezogene Tatsachen ein sofortiges Tätigwerden zur Verhinderung eines Beweismittelverlustes erfordern. Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine richterliche Anordnung zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur dann, wenn ausnahmsweise schon die mit einem solchen Versuch verbundene zeitliche Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich vorher um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben (BVerfG, a. a. O.).
Offengelassen hat das BVerfG allerdings die Frage, welche Folgen eintreten, wenn der Begriff der "Gefahr im Verzug" verkannt worden ist (s. dazu ASBROCK StV 2001, 322 in der Anm. zu BVerfG, a. a. O.). Man wird jedoch in den Fällen, in denen in der Vergangenheit schon bei objektiv willkürlicher Bejahung von "Gefahr im Verzug" (BGH NStZ 1985, 262; KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, § 98 Rn. 7 m. w. N.; KREKELER NStZ 1993, 265 m. w. N.) oder bei bewusster Umgehung des Richtervorbehalts (vgl. dazu HOFFMANN Polizei 1969, 14 und LG Darmstadt StV 1993, 573) ein Beweisverwertungsverbot angenommen worden ist, dies jetzt erst recht tun müssen. Darüber hinaus wird man, wenn man mit der vom BVerfG beabsichtigten Stärkung des Richtervorbehalts Ernst machen will, ein Beweisverwertungsverbot zumindest auch dann annehmen müssen, wenn eine richterliche Entscheidung zeitlich ohne weiteres hätte beantragt werden können (BURHOFF, EV, Rn. 326; s. auch OLG Koblenz, Beschl. v. 6. 6. 2002 1 Ss 93/02, StV 2002, 533 [für Zufallsfunde im BtM-Verfahren]).
Tipp/Hinweis: Der Verteidiger sollte der Verwertung einer Sache als Beweismittel, die aus einer Beschlagnahme stammt, die unter Verkennung des Begriffs der "Gefahr im Verzug" von der StA oder der Polizei angeordnet worden ist, in der Hauptverhandlung auf jeden Fall widersprechen (BGHSt 38, 214; zur Widerspruchslösung s. auch BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 4. Aufl., 2003, Rn. 1166a m. w. N. [im folgenden kurz: BURHOFF, HV]). Darüber hinaus empfiehlt es sich, das Beweisverwertungsverbot auch schon im Ermittlungsverfahren geltend zu machen. Ist die beschlagnahmte Sache nämlich ggf. das einzige Beweismittel, kann dessen Unverwertbarkeit dazu führen, dass erst gar nicht Anklage erhoben wird (zur Bedeutung der Beweisverwertungsverbote im Ermittlungs- und Zwischenverfahren s. SCHLOTHAUER, in: Festschrift für LÜDERSSEN, 2002, S. 761). |
In der Praxis gibt es immer wieder noch Streit in der Frage, wann bei einer Rechtsmitteleinlegung dem Schriftformerfordernis Genüge getan ist. Das gilt für Berufung und Revision ebenso wie für den Einspruch gegen Strafbefehle nach § 410 StPO. Dazu hat jetzt das BVerfG ein klärendes Wort gesprochen. Danach ist beim Einspruch gegen den Strafbefehl das Schriftformerfordernis auch dann erfüllt, wenn der Einspruch (nur) mit einem sog. Computerfax mit maschinenschriftlicher Unterschrift des Angeklagten eingelegt worden ist (Beschl. v. 4. 7. 2002 2 BvR 2168/00, DAR 2002, 411 = PStR 2002, 196). Das BVerfG hat ausdrücklich ausgeführt, dass "Schriftform" nicht eine eigenhändige Unterschrift voraussetze. Diese sei keine wesentliche Voraussetzung der Schriftlichkeit. Es genüge vielmehr, wenn aus dem Schriftstück ansonsten in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ersichtlich ist, von wem die Erklärung herrührt und dass kein bloßer Entwurf vorliegt.
Tipp/Hinweis: Diese Auffassung des BVerfG bestätigt die bisher schon h. M. in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. u. a. BGH, Beschl. v. 26. 1. 2000 3 StR 588/99, NStZ-RR 2000, 305; BGH, Beschl. v. 17. 4. 2002 2 StR 63/02, StraFo 2002, 262). Etwas anderes folgt nicht aus der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 5. 4. 2000 (BGHZ 144, 160; s. hierzu auch NOTTHOFF ZAP F. 13, S. 1049 f.). Abgesehen davon, dass diese sich ausdrücklich ohnehin nur auf Parteienprozesse mit Vertretungszwang bezieht, ist sie nicht dahin zu verstehen, dass ausschließlich im Fall einer eingescannten Unterschrift das Schriftformerfordernis erfüllt sein soll. Es sind also immer die Gesamtumstände darauf zu prüfen, ob sich ihnen der Absender/Verfasser entnehmen lässt. In Fortführung dieser Rechtsprechung ist m. E. damit auch die Einlegung eines Rechtsmittels per E-Mail zulässig und möglich, da auch dadurch spätestens durch den Ausdruck bei Gericht die Schriftform gewahrt wird (so auch GÖHLER, OWiG, 13. Aufl., § 67 Rn. 22a für den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid; zu allem auch eingehend BURHOFF, HV, Rn. 182a ff.). |
Wird die Hauptverhandlung von dem Ort, an dem sie (zunächst) stattgefunden hat, an einen anderen Ort, ggf. sogar an einen außerhalb des Gerichtsgebäudes, verlegt, muss darauf in geeigneter Weise hingewiesen werden. Das geschieht regelmäßig durch einen Aushang am ursprünglichen Verhandlungsort/Sitzungssaal (BGH NStZ 1984, 470; zur Verlegung der Hauptverhandlung an einen anderen Ort s. auch BURHOFF, HV, Rn. 987 ff.).
Tipp/Hinweis: Ein Aushang ist grds. auch im Bußgeldverfahren erforderlich (OLG Hamm, Beschl. v. 10. 7. 2000 2 Ss OWi 216/00, StV 2000, 659 = VRS 100, 52 = DAR 2000, 581 = NZV 2001, 390), und zwar jedenfalls dann, wenn in dem Ortstermin nicht nur die Örtlichkeit in Augenschein genommen, sondern die Hauptverhandlung mit Urteilsverkündung dort zum Abschluss gebracht wird. |
Wird ein Hinweis auf den neuen Ort der Verhandlung nicht gegeben (zum Zeitpunkt s. BGH NStZ 1995, 221 [K]), können die Vorschriften über die Öffentlichkeit der Verhandlung verletzt und damit gem. § 338 Nr. 6 die Revision begründet sein. Voraussetzung dafür ist aber, dass das Fehlen des Hinweises auf ein Verschulden des Gerichts zurückzuführen ist und nicht ausschließlich auf einem Verschulden nachgeordneter Beamter beruht. Zwar hat das Gericht denen gegenüber eine Aufsichtspflicht, deren Vernachlässigung als eigenes Verschulden des Gerichts angesehen wird (KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, § 338 Rn. 49 f. m. w. N.). Doch dürfen nach der Rspr. die Anforderungen an die Aufsichtspflicht nicht überspannt werden (BayObLG MDR 1994, 1235; KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, a. a. O.). Dem Gericht ist ein Verschuldensvorwurf z. B. dann nicht zu machen, wenn es das Anbringen eines Hinweises veranlasst hat, der Hinweis aber nicht angebracht worden ist (BayObLG, a. a. O.). Etwas anderes gilt, wenn das Gericht Anhaltspunkte dafür hatte, dass die getroffenen Anweisungen nicht erfüllt werden würden. Auch darf sich das Gericht nicht lediglich auf die allgemeine Zuverlässigkeit des Protokollführers, der mit der Fertigung des Aushangs betraut ist, verlassen. Es muss nämlich nicht nur konkrete Anweisungen zur Fertigung des Aushangs geben, sondern diesen auch kontrollieren und insbesondere darauf achten, dass er die genaue Anschrift des neuen Verhandlungsortes enthält (OLG Hamm, Beschl. v. 7. 11. 2001 3 Ss 426/01, StV 2002, 474 = http://www.burhoff.de).
Tipp/Hinweis: Der Umstand, dass das Gericht nicht ausreichend deutlich genug auf die außerhalb des Gerichtsgebäudes stattfindende Hauptverhandlung hingewiesen hat, muss mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden (zum erforderlichen Umfang der Begründung s. OLG Hamm, a. a. O.; s. auch unten V). |
Das Unterlassen der nach § 243 Abs. 1 S. 1 StPO vorgeschriebenen Verlesung des Anklagesatzes ist zwar nur ein sog. relativer Revisionsgrund, der jedoch i. d. R. zur Aufhebung des Urteils führen wird (BGH NStZ 1982, 431; 1986, 39; 1995, 200; zur Anklageverlesung s. auch BURHOFF, HV, Rn. 989). Das gilt ausnahmsweise jedoch dann nicht, wenn ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht. Dies ist nach der st. Rspr. des BGH (vgl. die vorstehenden Nachw.) dann der Fall, wenn wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage weder der Gang der Hauptverhandlung noch das Urteil irgendwie von dem Verfahrensfehler berührt worden ist oder wenn die Prozessbeteiligten über den Gegenstand des Verfahrens auf andere Weise unterrichtet sind (OLG Hamm, Beschl. v. 8. 4. 1999 2 Ss 1425/98, NStZ-RR 1999, 276 = http://www.burhoff.de).
Eine solche Ausnahme muss man jedoch verneinen, wenn nicht angenommen werden kann, dass der Angeklagte bereits vor der Hauptverhandlung hinreichende Kenntnis vom Anklagevorwurf hatte. Das hat das OLG Hamm (Beschl. v. 14. 8. 2002 3 Ss 636/02) verneint für den Fall, dass der Angeklagte russischer Staatsbürger und der deutschen Sprache zumindest nicht hinreichend mächtig ist. In der Hauptverhandlung war zwar ein Dolmetscher für die russische Sprache anwesend. Der Anklagesatz ist dem Angeklagten jedoch so das OLG (a. a. O.) nicht erst in der Hauptverhandlung in einer ihm verständlichen Sprache bekannt zu geben. Beherrscht er die deutsche Sprache nicht hinreichend, so muss ihm neben der Anklageschrift eine schriftliche Übersetzung in seiner Muttersprache oder einer anderen Sprache, die er versteht, übersandt werden. Ist das nicht geschehen, kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte mit den Anklagevorwürfen erstmals in der Hauptverhandlung in ihm verständlicher Form konfrontiert worden ist.
Tipp/Hinweis: Ist dem Angeklagten die Anklageschrift vor der Hauptverhandlung nicht in übersetzter Form übersandt worden, kann er die Aussetzung der Hauptverhandlung verlangen, um seine Verteidigung genügend vorzubereiten (vgl. OLG Hamm, a. a. O., OLG Celle StV 1998, 533, 532 m. w. N.; BURHOFF, HV, Rn. 158a ff.). Kommt das Gericht einem entsprechenden Antrag des Angeklagten oder des Verteidigers nicht nach, ist der Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO gegeben. Dieser ist ebenso wie die Nichtverlesung der Anklageschrift mit der Verfahrensrüge geltend zu machen (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO). |
§ 252 StPO verbietet nach allgemeiner Meinung über seinen Wortlaut hinaus nicht allein die Verlesung der früheren Aussage eines Zeugen, der in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, sondern er enthält ein umfassendes Beweisverwertungsverbot des Inhalts, dass es bei berechtigter Zeugnisverweigerung schlechterdings unzulässig ist, eine frühere Aussage in irgendeiner Weise zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen (so schon BGHSt 2, 99, 104 f.; vgl. zuletzt BGHSt 45, 203, 205; BGH StraFo 2001, 86, 87; StV 2000, 236; JR 1998, 165, 167 f.; StV 1996, 522, 523; NStZ 1994, 593, 594; KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, § 252 Rn. 12; BURHOFF, HV, Rn. 725 ff.). Auch eine mittelbare Verwertung ist nach allgemeiner Meinung unzulässig.
Darauf hat vor kurzem noch einmal das OLG Hamm hingewiesen (Beschl. v. 5. 8. 2002 2 Ss 348/02). In dem Verfahren wurde dem Angeklagten ein Raub zum Nachteil seines Bruders vorgeworfen. Dieser belastete bei der Polizei den Angeklagten. Aufgrund der Angaben des Bruders erging Haftbefehl gegen den Angeklagten. In der Hauptverhandlung hat der Bruder das Zeugnis verweigert. Das Gericht hat die tatsächlichen Angaben aus dem Haftbefehl verlesen und diese bei der Beweiswürdigung verwertet. Das OLG Hamm hat das als mittelbare Verwertung der Angaben des Bruders angesehen und das Urteil wegen Verstoßes gegen § 252 StPO aufgehoben.
Tipp/Hinweis: Der Verstoß ist mit der Verfahrensrüge geltend zu machen. Zur Begründung muss in diesem Fall aber nicht vorgetragen werden, ob der Angeklagte oder sein Verteidiger die Verwertung der früheren Angaben des Zeugen und die ihr zugrundeliegenden Verfahrensvorgänge in der Hauptverhandlung beanstandet bzw. ihr widersprochen haben (zur Widerspruchslösung des BGH BURHOFF, HV, Rn. 1166a). § 252 StPO ordnet nämlich ein Beweisverbot an, welches von den Verfahrensbeteiligten nicht abbedungen werden kann (KLEINKNECHT/ MEYER-GOßNER, § 252 Rn. 12). Aus diesem Grund kann der Angeklagte einen Verstoß gegen § 252 StPO in der Revision auch dann rügen, wenn er oder sein Verteidiger der Verwertung in der Hauptverhandlung nicht widersprochen haben (zuletzt BGHSt 45, 203, 205 = NJW 2000, 596 = StraFo 2000, 17). |
Es gibt nur wenige (relative) Verfahrensfehler, die i. d. R. zum Erfolg der Revision führen. Einer dieser Verfahrensverstöße ist die entgegen § 63 StPO nicht erfolgte Belehrung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen über sein ihm nach §§ 63, 52 Abs. 1 StPO zustehendes Eidesverweigerungsrecht. Die unterlassene Belehrung begründet nämlich i. d. R. einen relativen Revisionsgrund (vgl. zuletzt BGH, Beschl. v. 7. 11. 2000 4 StR 398/00, StV 2002, 465; s. auch die weiteren Nachw. bei AHLBRECHT StV 2002, 465 in der Anm. zu BGH, a. a. O.). Der BGH geht dabei dann grds. auch davon aus, dass auf dem Verfahrensfehler der Nichtbelehrung über das Verweigerungsrecht das Urteil beruhen kann, weil es sich nicht ausschließen lässt, dass der Tatrichter die Glaubwürdigkeit des Zeugen anders beurteilt hätte, wenn dieser nach der Belehrung erklärt hätte, er wolle seine Aussage nicht beschwören.
Tipp/Hinweis: Die nicht erfolgte Belehrung ist mit der Verfahrensrüge geltend zu machen. Deren "Verlässlichkeit" (AHLBRECHT StV 2002, 465) hat für die Hauptverhandlung zur Folge, dass der Verteidiger auf keinen Fall auf die Vereidigung des eidesverweigerungsberechtigten Zeugen verzichten darf (so auch AHLBRECHT, a. a. O.). Bei ihm gilt das Gebot des "Verzichts auf den Verzicht" auf die Vereidigung eines Zeugen gem. § 61 Nr. 5 StPO erst recht (vgl. dazu STRATE StV 1984, 42; BURHOFF, HV, Rn. 925). |
Zur Literatur: Hinzuweisen ist zunächst auf den Beitrag von SANDER in NStZ-RR 2002, 1, der die Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH behandelt. Ausgewertet wurden darin alle Entscheidungen des BGH, die bis 29. 10. 2001 schriftlich begründet vorlagen. Hinzuweisen ist außerdem auf NEUHAUS (StV 2002, 43) und seine Ausführungen zu "Beruhensfrage (§ 337 Abs. 1 StPO) und unzureichende Verteidigerleistung". Schließlich beschäftigt sich GRABENWARTER mit der (starren) Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO und dem Recht auf angemessene Vorbereitung der Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3b EMRK (NJW 2002, 109). WEIDEMANN hat in der gerade erschienenen Gedächtnissschrift für ELLEN SCHLÜCHTER zur "Verfahrens- und Sachrüge" gegen Prozessurteile nach § 329 Abs. 1 StPO Stellung genommen (s. dort S. 653 ff.).
Tipp/Hinweis: Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der Verteidiger die Revisionsbegründungsschrift grds. selbst verfassen muss. Das bedeutet, dass er zumindest gestaltend an ihr mitwirkt, und zwar in einer solchen Weise, dass kein Zweifel bestehen darf, dass er die volle Verantwortung für den Inhalt der Schrift übernommen hat. Darauf hat vor kurzem noch einmal der BGH hingewiesen (s. Beschl. v. 13. 6. 2002 3 StR 151/02, NStZ-RR 2002, 309) und Zweifel bejaht, wenn der Verteidiger lediglich vom Angeklagten selbst stammende Beanstandungen vorlegt und in indirekter Rede zusammenfasst. |
Darüber hinaus ist aus der Rechtsprechung der letzten Zeit zur i. S. d. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ausreichenden Begründung der Verfahrensrüge auf folgende Entscheidungen hinzuweisen (zu früherer Rspr. s. BURHOFF ZAP F. 22 R, S. 153, 211 f. m. w. N.):
Tipp/Hinweis: Wiederholt werden muss noch einmal der Hinweis, dass der Verteidiger neben der Verfahrensrüge immer auch die Sachrüge erheben muss. Ggf. kann bei nicht ausreichendem Vortrag aufgrund des dann zulässigen Rückgriffs des Revisionsgerichts auf die Urteilsgründe damit die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge vermieden werden (vgl. z. B. die Fallgestaltung bei OLG Hamm, Beschl. v. 2. 7. 2002 3 Ss OWi 159/02 unter Hinw. auf BGHSt 36, 385). |
1. Entbindung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung
In ZAP F. 22 R S. 245 habe ich über den Vorlagebeschluss des OLG Naumburg v. 29. 11. 2001 berichtet (1 Ss (B) 251/01, zfs 2002, 251 = ZAP EN-Nr. 210/2002 = PA 2002, 95). Dieses hatte dem BGH die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob der Verteidiger, der zur Vertretung des Betroffenen auch in der Hauptverhandlung bevollmächtigt ist, die in § 73 Abs. 2 OWiG als Voraussetzung für eine Entbindung des Betroffenen vom Erscheinen in der Hauptverhandlung geforderten Erklärungen auch noch in der Hauptverhandlung wirksam für den unentschuldigt nicht erschienenen Betroffenen abgeben kann. Das OLG Naumburg wollte diese Frage bejahen und damit von der Rechtsprechung des OLG Köln (vgl. NZV 1999, 436) abweichen.
Der BGH hat nun in seinem Beschl. v. 13. 8. 2002 4 StR 592/01 die Vorlage des OLG Naumburg als unzulässig angesehen. Das OLG Köln habe nämlich die Frage, ob der Entbindungsantrag noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden konnte, ausdrücklich offengelassen. Das OLG Naumburg sei deshalb nicht gehindert, die Aufhebung des ihm zur Prüfung vorliegenden amtsgerichtlichen Urteils auf seine Rechtsauffassung zu stützen. Soweit das OLG Naumburg die Meinung vertreten wolle, dass der Verteidiger noch in der Hauptverhandlung Erklärungen nach § 73 Abs. 2 OWiG abgeben durfte, handelt es sich nicht um eine mit der Urteilsaufhebung mitzuentscheidende Rechtsfrage, für die möglicherweise eine Vorlegungspflicht bestünde. Denn mit der Urteilsaufhebung und der Zurückverweisung erübrige sich eine Stellungnahme zu dieser Frage, weil inzwischen durch die von dem Verteidiger für den Betroffenen in der Hauptverhandlung abgegebene Äußerung für die kommende Hauptverhandlung eine Erklärung i. S. d. § 73 Abs. 2 OWiG vorliege.
Tipp/Hinweis: Wegen der praktischen Bedeutung der Frage wird verwiesen auf BURHOFF ZAP F. 22 R, S. 246. |
Nach § 74 Abs. 2 OWiG muss das AG im OWi-Verfahren den Einspruch des Betroffenen verwerfen, wenn dieser in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden ist. Dabei kommt es nach einhelliger Meinung der Obergerichte aber nicht darauf an, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob ein Entschuldigungsgrund tatsächlich vorliegt (GÖHLER, OWiG, 13. Aufl., § 74 Rn. 29 ff. m. w. N. aus der Rspr.). Bei seiner Verwerfungsentscheidung hat das AG alle in dem Zeitpunkt erkennbaren Entschuldigungsgründe zugrunde zu legen und im Urteil zu erörtern (OLG Köln = NStZ-RR 1999, 337 = VRS 97, 370, 371 m. w. N.; vgl. zu der entsprechenden Problematik bei § 329 StPO: OLG Saarbrücken NJW 1975, 1613, 1614 m. w. N.; OLG Hamm NJW 1963, 65; KLEINKNECHT/MEYER-GOßNER, § 329 Rn. 48). Die Erörterung eines Entschuldigungsgrundes ist allenfalls dann entbehrlich, wenn das Vorbringen von vornherein ungeeignet ist, das Fernbleiben im Hauptverhandlungstermin zu entschuldigen.
Zum Verfahren und zur Verpflichtung des Gerichts in diesen Fällen hat jetzt das OLG Köln noch einmal Stellung genommen (Beschl. v. 26. 2. 2002 Ss 45/02 [B]). Im entschiedenen Fall hatte der Betroffene über seinen Verteidiger sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung mit einem am Tag vor dem Termin bei der Heimreise erlittenen Verkehrsunfall im Ausland, aufgrund dessen das Fahrzeug nicht mehr fahrbereit war, entschuldigt. Davon hatte der Verteidiger die Geschäftsstelle des AG, da es ihm nicht gelungen war, telefonisch Kontakt mit dem Richter aufzunehmen, am Terminstag um 8:50 Uhr per Fax Mitteilung gemacht und um Terminsverlegung gebeten. In der Kopfzeile der Faxnachricht hatte der Verteidiger auf die Dringlichkeit und die um 10:55 Uhr angesetzte Hauptverhandlung hingewiesen.
Das OLG hat ausgeführt, dass dieses Vorbringen grds. geeignet sei, das Fernbleiben des Betroffenen im Termin zu entschuldigen. Zwar gehe aus der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht hervor, ob das Fax dem Richter in der Sitzung um 10:55 Uhr vorgelegen habe. Da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle jedoch auch noch kurz vor dem Termin davon verständigt wird, dass ein Betroffener verhindert ist, gebiete es die richterliche Fürsorgepflicht, dass der Tatrichter sich vor Erlass eines Verwerfungsurteils dort erkundige, ob eine Mitteilung vorliege und auch dieses Vorbringen gegebenenfalls im Urteil erörtere.
Tipp/Hinweis: Das OLG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass wegen des Zeitablaufs und der Vielzahl von Geschäftsvorgängen die genaue Stunde des Eingangs der Nachricht bei der Geschäftsstelle nachträglich im Wege des Freibeweises nicht mehr aufgeklärt werden könne, einen in die Sphäre des Gerichts fallenden Dokumentationsmangel darstelle, der nicht zu Lasten des Betroffenen gehen könne. Darauf, ob die Entschuldigung dem Richter im Termin vorgelegen habe oder nicht, komme es nicht an. Eine Erkundigungspflicht des Richters über einen Eingang auf der Geschäftsstelle bejahen auch BayObLG VRS 83, 56; OLG Frankfurt NJW 1974, 1151; OLG Stuttgart Justiz 1981, 288. Noch weiter geht SENGE (Karlsruher Kommentar zum OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 35). Danach ist nicht auf den Eingang bei der Geschäftsstelle, sondern bei Gericht abzustellen. |
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