aus Verkehrsrecht Aktuell (VA) 2002, 132
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "VA" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "VA" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von RiOLG Detlef Burhoff, Ascheberg/Hamm
Bei einem schwerwiegenderen Verkehrsverstoß trifft den Mandanten häufig die dafür nach der BKatV zu verhängende Geldbuße nicht so schwer. Größere Bedeutung hat für ihn in der Regel die Frage, ob er (auch) mit einem Fahrverbot rechnen muss. Mit dieser Frage muss sich der Verteidiger rechtzeitig beschäftigen und dazu die aktuelle Rechtsprechung kennen. Wir stellen Ihnen nachfolgend die neuere Rechtsprechung vor und zeigen auf, wann Ihr Mandant ggf. eine Chance hat, einem Fahrverbot zu entgehen.
1. Geschwindigkeitsüberschreitung
Die Geschwindigkeitsüberschreitung ist eine in der Praxis häufig anzutreffende Ordnungswidrigkeit und deshalb von erheblicher Bedeutung.
Umstände des Einzelfalls | Fahrverbot ja oder nein? | Fundstelle |
Erhebliche Geschwindigkeitsüber-schreitung, aber keine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer | Ja, die fehlende Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer steht einem Fahrverbot nicht entgegen | KG DAR 01, 413, 414 |
Geschwindigkeitsüberschreitung von 73 km/h, nachts auf der BAB im Bau-stellenbereich, in dem nicht gearbei-tet wurde, geringe Verkehrsdichte | Ja, aber Reduzierung der Länge des Regelfahrverbotes von drei auf zwei Monate | BayObLG DAR 01, 514 |
2. Rotlichtverstoß
Gerade bei einem Rotlichtverstoß können die Tatumstände dazu führen, dass ein Fahrverbot schon tatbestandsmäßig ausgeschlossen ist (vgl. dazu VA 00, 46).
Umstände des Einzelfalls | Fahrverbot ja oder nein? | Fundstelle |
Der Betroffene benutzt Busspur und umgeht das für die allgemeine Fahrbahn geltende Rotlicht; Rotlichtdauer mehr als 1 Sekunde | Nein, kein qualifizierter Rotlichtver-stoß nach Nr. 34.2 BKatV (jetzt Nr. 132.2), wenn eine abstrakte Gefährdung des Querverkehrs und von Fußgängern ausgeschlossen ist | OLG Frankfurt VA 02, 62, Abruf-Nr. 020312 |
Linksabbieger lässt sich auf Grund momentaner Unaufmerksamkeit vom anfahrenden Geradeausverkehr mitziehen | Nein, da in diesen Fällen nicht unbedingt Rücksichts-, Verantwortungslosigkeit oder grobe Nachlässigkeit unterstellt werden kann | KG NZV 02, 50 |
Die Sicht auf die Lichtzeichenanlage wird durch Sonnenblendung behindert | Ja, in diesen Fällen muss der Betroffene besonders aufmerksam fahren | OLG Hamm 6.9.01, 3 Ss OWi 199/01, Abruf-Nr 020879 |
Eingeschränkte Aufmerksamkeit wg. starker emotionaler Bewegung durch Beerdigung einer nahe stehenden Person und mangelnde Vertrautheit mit der Technik des erst seit einer Woche gefahrenen Pkws | Nein Hinweis: Das Fahren mit einem "unbekannten" Pkw entschuldigt einen Rotlichtverstoß in der Regel nicht (BayObLG NZV 01, 135) | OLG Frankfurt DAR 02, 82 |
3. Augenblicksversagen
Bei einem "Augenblicksversagen" (= leichter Fahrlässigkeit) kommt ein Fahrverbot nicht in Betracht (vgl. dazu den grundlegenden Beschluss des BGH vom 11.9.97 in NZV 95, 525). Wegen der Einzelheiten wird auf den Schwerpunktbeitrag in VA 01, 169, verwiesen.
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen ja oder nein? | Fundstelle |
Geschwindigkeitsüberschreitung: Das Bestehen der Geschwindigkeitsbe-grenzung drängt sich auch einem Ortsunkundigen auf | Nein | KG DAR 01, 413, 414 |
Durch Telefonieren beim Autofahren abgelenkt | Nein, Unaufmerksamkeit ist fast zwangsläufig, damit ist von Vor-satz auszugehen. Hinweis: Das gilt erst recht nach Inkrafttreten des § 23a Abs. 1a StVO am 1.2.01 | OLG Celle, VA 01, 111 = NZV 01, 196 m. Anm. Wrage; Abruf-Nr 010818 |
Übersehen der Anordnung einer Tempo 30-Zone und Befahren dieser Zone mit 69 km/h | Nein, da die innerorts an sich gültige Geschwindigkeit von 50 km/h deutlich überschritten wird | KG DAR 01, 318 |
Beschränkung auf 30 km/h bekannt. Fahrer meint aber, diese sei aufge-hoben; Fahrer durch Streit mit seinen im Wagen sitzenden Kindern abgelenkt | Nein | OLG Hamm |
Rotlichtverstoß: Der ortsunkundige Betroffene hat erst kurz vor einer Kreuzung erkannt, dass er sich falsch eingeordnet hatte und dann noch die Fahrspur gewechselt | Nein, da sich bei dieser Fallgestal-tung besondere Sorgfaltspflichten ergeben | OLG Hamm |
Geschwindigkeitsüberschreitung: Ver-kehrsschild befindet sich nur auf einer Straßenseite; Betroffener hat es beim Überholen nicht gesehen | Ja | OLG Düsseldorf VA 02, 95, Abruf-Nr 020547 |
Überschreitung um 42 km/h außerorts: Betroffener achtete wegen seiner in den Wehen liegenden Ehefrau nicht auf die einzuhaltende Geschwindigkeit | Ja | OLG Karlsruhe VA 02, 78 = DAR 02, 229; |
Hausarzt überschreitet auf dem Weg zu einem Notfallpatienten die zulässige Höchstgeschwindigkeit | Ggf. ja, entscheidend sind aber die Umstände des Einzelfalls Hinweis: Zu den konkreten Umständen des Falles muss ggf. unter Antritt von Beweisen vorgetragen werden | OLG Hamm |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 32 km unmittelbar nach Fahrtbeginn: Fahrerin ist durch gerade Erlebtes emotional "völlig derangiert" | Ja | AG Koblenz 21.6.02, 2040 Js 18396/02, Abruf-Nr 020880 |
Praxishinweis: Wenn die gem. § 25 StVG erforderlichen Voraussetzungen für die Verhängung eines Fahrverbotes nicht vorliegen, kommt auch die Erhöhung der Geldbuße nicht in Betracht. Das gilt auch, wenn es sich um einen objektiv schwerwiegenden Verkehrsverstoß handelt (OLG Hamm VA 01, 114, Abruf-Nr. 010824). Allerdings hindert das Vorliegen eines Augenblicksversagens nicht auch die Verhängung eines Fahrverbotes wegen "Beharrlichkeit" (OLG Köln NZV 01, 442).
4. Absehen vom Fahrverbot aus beruflichen Gründen?
Die Kasuistik zum Absehen vom Fahrverbot ist unüberschaubar, einzelfallbezogen (VA 01, 108).
Umstände des Einzelfalls | Absehen ja oder nein? | Fundstelle |
Kurierdienst mit Kfz | nicht bei 3. Geschwindigkeitsüber- | OLG Frankfurt VA 02, 94, Abruf-Nr 020255 |
Betroffener ist als Subunter-nehmer für einen Kurierdienst tätig | Ja, wenn der Betroffene wegen außer-gewöhnlich schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse weder Urlaub machen noch einen Fahrer einstellen kann | AG Offenbach |
Betroffener betreibt einen Vertrieb und Transport von pharmazeutischen Präparaten | Ja, wenn Betroffener einschlägig nicht in Erscheinung getreten ist und Überschreitung nur knapp oberhalb der Fahrverbots-Grenze des BKatV liegt | AG Montabaur |
Betroffener ist selbstständiger Kfz-Sachverständiger, Kfz-Werkstatt mit Personal und ASU-Prüfstand durch Fahrverbot gefährdet | Ja, da das Fahrverbot zu bedrohlichen Kundenverlusten, auch hinsichtlich von Folgeaufträgen, führen würde, was unverhältnismäßig wäre | AG Ahrensburg |
Steuerberater mit ländlicher | Nein, allein die berufliche Nutzung des Pkw reicht nicht | OLG Hamm VA 02 |
Selbständiger Rechtsanwalt | Nein, allein die berufliche Nutzung des Pkw reicht nicht | |
Selbständiger Rechtsanwalt | Ja, wenn er nach Kanzleiwechsel noch 50 % seines Umsatzes aus schwer erreichbarer früherer Kanzlei bezieht, die er dreimal in der Woche aufsucht. | AG Duderstadt |
Bauingenieur, der auch auswärtige Baustellen zu betreuen hat | Nein, Kosten eines Aushilfsfahrers sind selbstverschuldet. | BayObLG |
5. Absehen vom Fahrverbot bei einem Verstoß gegen § 24a StVG
Das Absehen vom Fahrverbot kommt bei § 24a StVG grundsätzlich nur bei außergewöhnlichen Umständen in Frage. Diese müssen im amtsgerichtlichen Urteil erörtert werden.
Umstände des Einzelfalls | Absehen ja oder nein? | Fundstelle |
Berufskraftfahrer, Verlust des Arbeitsplatzes droht | Nein, berufliche Gründe reichen allein nicht, wenn Fahrverbot nicht im Urlaub vollstreckt u. berufliches Führen des Betriebs-LKW nicht vom Fahrverbot ausgenommen werden kann | OLG Hamm |
angestellte Klinik-Oberärztin, die an Rufbereitschaft teilnimmt und innerhalb von 60 Minuten die 80 km von ihrem Wohnort entfernte Klinik erreichen können muss | Ggf. ja. Hinweis: Die Betroffene musste außerdem noch ihren pflegebedürftigen Vater versorgen. Zudem betrug der Zeitraum zwischen Tat und Ahndung schon fast 2 Jahre | OLG Hamm 3.6.02, 2 Ss OWi 316/02, |
6. Absehen vom Fahrverbot wg. langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil?
Die Rechtsprechung geht inzwischen wohl davon aus, dass grundsätzlich ein Zeitraum von zwei Jahren verstrichen sein muss, um wegen langen Zeitablaufs von einem Fahrverbot abzusehen (dazu der Schwerpunktbeitrag in VA 00, 77). Der Betroffene darf aber zwischen-zeitlich verkehrsrechtlich nicht neu in Erscheinung getreten sein und die Verfahrensverzögerung nicht zu vertreten haben (OLG Rostock DAR 01, 421; OLG Schleswig DAR 01, 40).
Umstände des Einzelfalls | Absehen ja oder nein? | Fundstelle |
Zeitraum von 2 1/2 Jahren | Ja | OLG Schleswig DAR 02, 326; BayObLG DAR 02, 275; OLG Düsseldorf VA 01, 73, Abruf-Nr 010470; NZV 01, 435 |
Zeitraum von weniger 2 Jahren | In der Regel nein | OLG Rostock DAR 01, 421; BayObLG zfs 02, 202; s. aber AG Duderstadt zfs 01, 519 |
Zeitraum von 15 Monaten | Ja, aber nur ausnahmsweise (hier: wirtschaftlich Schwächerer, der verkehrsrechtlich nicht in Erscheinung getreten und Taxifahrer ist) | OLG Hamm VA 01, 151, Abruf-Nr. 010986 |
Zeitraum von nur 13 Monaten | Nein, jedenfalls dann nicht, wenn das späte Urteil vom Betroffenen zu vertreten ist | KG VA 02, 94 = VRS 102, 127; Abruf-Nr 020460 |
7. Absehen vom Fahrverbot aus sonstigen Gründen
Zusätzlich ist immer darauf zu achten, ob neben sonstigen Gründen "berufliche" und/oder persönliche Umstände vorliegen, die gegen ein Fahrverbot vorgebracht werden können.
Umstände des Einzelfalls | Absehen ja oder nein? | Fundstelle |
Betroffener ist auf Fahrerlaubnis angewiesen, weil er sonst wegen fehlender Anbindung des Wohnorts an öffentliche Verkehrsmittel keine Bewerbungsgespräche zeitgerecht wahrnehmen oder bei evtl. Anstellung keine Außendiensttätigkeit ausführen kann | Ja, gegen Verdoppelung der Geldbuße (AG Ludwigsburg). | AG Ludwigsburg VA 02, 78 = zfs 02, 99; |
Geschwindigkeitsüberschreitung zur Nachtzeit | Nein, steht Fahrverbot wg. beharr-licher Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers nicht entgegen (VA 02, 58) | OLG Rostock DAR 01, 421, 422 |
Teilnahme an einem Aufbauseminar | Nein, da Aufbauseminar und Fahrverbot einen nicht vergleichbaren Zweck haben | AG Celle zfs 01, 520; aber AG Duderstadt zfs 01, 519 |
Betroffener ist Professor, der als Folge Bahnfahrt von 3 Stunden auf sich nehmen und dabei umfangreiches Material transportieren muss | Nein, solche Umstände sind die regelmäßige Folge eines Fahrverbotes | BayObLG |
Geschwindigkeitsüberschreitung von 45 km/h auf BAB, keine Eintragung im Verkehrszentralregister, Betroffene zu 70 % schwerbehindert | Ausnahmsweise ja | AG Göttingen |
8. Anforderungen an das tatrichterliche Urteil/Prozessuales
Bei der Verhängung eines Fahrverbots bestehen besondere Anforderungen an die Urteilsgründe, weil der Tatrichter zu erkennen geben muss, dass er sich der Möglichkeit bewusst gewesen ist, von einem Fahrverbot gegen Erhöhung der Geldbuße absehen zu können (vgl. zu den Anforderungen an die Urteilsgründe bei einem Fahrverbot VA 01, 131). Auf folgende neue Rechtsprechung dazu und zu prozessualen Fragen ist hinzuweisen:
Umstände des Einzelfalls | Auswirkung | Fundstelle |
Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch | Rechtsbeschwerde-Beschränkung unwirksam, wenn AG-Urteil nicht entnommen werden kann, ob geltend gemachtes Augenblicksversagen ausgeschlossen werden kann | OLG Köln VA 02, 111 = VRS 102, 212 |
Urteil nicht zu entnehmen, dass sich Gericht der Möglichkeit bewusst war, trotz Annahme eines Regelfalls vom Fahrverbot allein unter Erhöhung der Geldbuße absehen zu können | die Urteilsgründe sind lückenhaft | OLG Hamm DAR 02, 276; s. aber OLG Hamm DAR 02, 85 |
Es wird vom Fahrverbot abgesehen | Das Absehen bedarf einer eingehen-den Begründung | OLG Hamm 27.9.01, 2 Ss OWi 642/01, |
AG-Urteil enthält keine Fest-stellungen zu den persönlichen, insbesondere nicht zu den beruflichen Verhältnissen | Urteil ist lückenhaft, da OLG nicht prüfen kann, ob das Fahrverbot z.B. wegen besonderer Umstände in persönlichen Verhältnissen des Be-troffenen, eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat darstellt | OLG Hamm 22.5.02, 2 Ss OWi 200/02, VA 02, 124; |
Praxishinweis: Der Zusammenstellung lässt sich entnehmen, dass die OLG größere Anforderungen an das Absehen vom Fahrverbot stellen als die AG. Der Verteidiger darf daher nicht erst in der Rechtsbeschwerde die Umstände vortragen, die zu einem Entfallen des Regelfahrverbotes führen können. Vielmehr muss er versuchen, schon das AG zu einer für den Mandanten günstigen Fahrverbotsentscheidung zu veranlassen. Beim OLG ist der entsprechende Vortrag zudem meist zu spät, weil dieses an die Feststellungen des AG gebunden ist. Der Verteidiger muss auch alle Umstände vortragen, die zu einem Absehen vom Fahrverbot führen können. Er darf sich also nicht auf die aus seiner Sicht wichtigsten beschränken. Denn häufig führt nicht ein Grund allein zum Entfallen des Fahrverbotes, sondern erst das Zusammentreffen mehrerer Gründe, die jeder für sich allein nicht ausgereicht hätten.
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