von RiOLG Detlef Burhoff, Ascheberg/Hamm
aus StraFo 2002, 379
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "StraFo" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "StraFo" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Hinweise:
Zur besseren Lesbarkeit im Internet sind die
Fußnoten des Originalbeitrags in Klammerzusätze umgewandelt worden;
der darin enthaltene Text ist hier in roter Schrift gesetzt.
Soweit
Rechtsprechung des OLG Hamm auf meiner Homepage im
Volltext eingestellt ist, kann die jeweilige Entscheidung durch
Anklicken der Fundstelle aufgerufen werden.
A. Ausreichende Akteneinsicht gewährt?
B. Allgemeine Voraussetzungen der U-Haft
I. Bekanntmachung des Haftbefehls
II. Anforderungen an den Haftbefehl (§114 StPO)
1. Fluchtgefahr (§112 Abs.1 Nr.2 StPO)
b) Fluchtgefahr bei Ausländern/bei Auslandskontakten
c) Fluchtgefahr allein infolge hoher Straferwartung?
2. Verdunkelungsgefahr (§112 Abs.2 Nr.3 StPO)
3. Haftgrund der Tatschwere (§112 Abs.3 StPO)
4. Wiederholungsgefahr (§112a StPO)
C. Besondere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht (§§121, 122 StPO)
II. Berechnung der Sechs-Monats-Frist
1. Berücksichtigung von sonstigem Freiheitsentzug bei der Fristberechnung
2. Ende der Sechs-Monats-Frist
3. ,,Dieselbe Tat" im Sinn des §121 StPO
III. Wichtiger Grund für Fortdauer der U-Haft (§121 StPO)
2. ABC der neueren Rechtsprechung
I. Außervollzugsetzung des Haftbefehls
2. Katalog von Maßnahme/Auflagen
3. Invollzugsetzung des Haftbefehls
IV. Haftfragen in der Hauptverhandlung
2. Übergang von Untersuchungshaft in Strafhaft?
Anfang 2000 habe ich an dieser Stelle über die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht nach den §§ 121, 122 StPO und über die damit zusammenhängenden Praxisfragen berichtet (Burhoff, Die besondere Haftprüfung durch das OLG nach den §§121, 122 StPO, eine Übersicht anhand neuerer Rechtsprechung mit Hinweisen für die Praxis, StraFo 2000, 109). Die nachfolgenden Ausführungen sollen diesen Bericht, der auch die allgemeinen Fragen der Untersuchungshaft umfasste, aktualisieren. Vorgestellt wird die seitdem veröffentlichte Rechtsprechung zu (Untersuchungs-)Haftfragen, wobei wegen der Vielzahl der Veröffentlichungen eine Auswahl getroffen werden musste. Beschränkt habe ich mich daher auf die m.E. für die Praxis besonders bedeutsamen Entscheidungen. Bei meinen Ausführungen habe ich versucht, mich im Wesentlichen an den Aufbau des früheren Beitrags zu halten, diesen allerdings um einige Praxisfragen ergänzt. Stand der Ausführungen ist Oktober 2002.
Ein in der Verteidigungspraxis häufiges Problem ist die Frage, welche Auswirkungen eine dem Verteidiger im Ermittlungsverfahren nicht oder nicht vollständig gewährte Akteneinsicht im Hinblick auf die Untersuchungshaft des Mandanten hat. Jeder Verteidiger kennt die Situation, dass die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf §147 Abs.2 StPO nicht oder nicht vollständig Akteneinsicht gewährt. Das kann dann möglicherweise dazu führen, dass Verteidiger und Mandant über mehrere Monate hin nicht konkret wissen, worauf sich die gegen den Mandanten erhobenen und im Haftbefehl konkretisierten Vorwürfe stützen (Vgl. die Fallgestaltung bei OLG Hamm ZAP EN-Nr. 242/2002 = StV 2002, 318 m. Anm. Deckers = wistra 2002, 277; die zitierten Entscheidungen des OLG Hamm sind im Übrigen weitgehend alle im Volltext auf meiner Homepage www.burhoff.de eingestellt).
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die neuere Rechtsprechung des EGMR zur Akteneinsicht (EGMR StV 1993, 283; NJW 2002, 2013 = StV 2001, 201; NJW 2002, 2015 = StV 2001, 203; NJW 2002, 2018 = StV 2001, 205 m. zust. Anm. Kempf StV 2001, 207). Während das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 11.7.1994 (BVerfG StV 1994, 465 = NStZ 1994, 551; vgl. dazu auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3.Aufl. 2002, Rn. 92 ff. m.w.N. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV], die im Übrigen nicht dadurch an Bedeutung verloren hat, dass der Gesetzgeber dem inhaftierten Beschuldigten inzwischen in §147 Abs.5 StPO eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verweigerung der Akteneinsicht eingeräumt hat (So auch Schlothauer, StV 2001, 192, 195), noch davon ausgegangen ist, dass der Anspruch auf Akteneinsicht nur dann gegeben sei, ,,wenn die Tatsachen und insbesondere das Beweismaterial, auf das das Gericht seine Haftentscheidung stützt, mündlich nicht (mehr) mitteilbar seien" (BVerfG, a.a.O.), hat der EGMR nun ausdrücklich festgestellt, dass zur notwendigen Verteidigung im gerichtlichen Haftverfahren die uneingeschränkte Akteneinsicht gehört und die ggf. bloße mündliche Mitteilung von Tatsachen und Umständen nicht ausreicht (S. dazu auch Burhoff, a.a.O.). Dem der Staatsanwaltschaft nach wie vor zustehenden Informationsvorsprung, den sie unter Berufung auf §147 Abs.2 StPO sichern kann, steht auf der Seite des Beschuldigten die Sicherung seiner Freiheitsrechte dadurch gegenüber, dass der nicht informierte Beschuldigte, der sich gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ohne Akteneinsicht nicht verteidigen kann, nicht weiter in Untersuchungshaft gehalten werden darf (S. auch Deckers, a.a.O.).
Folge dieser Rechtsprechung, die auf die sog. Lamy-Entscheidung des EGMR (EGMR StV 1993, 283) zurückgeht, ist, dass auf solche "Tatsachen, die dem Beschuldigten infolge einer Akteneinsichtsverweigerung unbekannt sind, keine Haftentscheidungen, vor allem auch keine Haftfortdauerentscheidungen gestützt werden dürfen (So auch Schlothauer, a.a.O.). Es besteht insoweit ein verfassungsrechtliches Verwertungsverbot (OLG Hamm, a.a.O.; ähnlich OLG Brandenburg OLGSt §114 StPO Nr. 1) hinsichtlich der dem Verteidiger und Beschuldigten unbekannten Aktenteile, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Akteneinsicht berechtigt oder unberechtigt verweigert worden ist (So auch Schlothauer, StV 2001, 192, 195, 196: OLG Hamm, a.a.O.). Dieses Verwertungsverbot bezieht sich auch nicht nur auf die Tatsachen, deren Kenntnis zur Beurteilung des ,,dringenden Tatverdachts" erforderlich sind -- das wird allerdings der in der Praxis häufigste Fall sein --, sondern auch auf den Haftgrund und vor allem auch auf die ,,wichtigen Gründe" im Sinne des §121 Abs.1 StPO, die die Haftfortdauer rechtfertigen sollen (Schlothauer, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O.). Das hat der 2.Strafsenat des OLG Hamm vor kurzem erst in einem sog. 6-Monats-Beschluss dargelegt und den Haftbefehl im Haftprüfungsverfahren aufgehoben, weil eben wegen der verweigerten Akteneinsicht nicht überprüft bzw. nicht dargelegt werden konnte, ob die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gegeben waren (OLG Hamm, a.a.O.). Dem ist zuzustimmen (So auch Deckers, a.a.O., der von einem ,,weiteren Meilenstein" in der obergerichtlichen Rechtsprechung spricht).
Was muss auf der Grundlage dieser Rechtsprechung der Verteidiger tun? M.E. muss er, wenn er zur Haftfrage Stellung nimmt, auf die nicht ausreichend gewährte bzw. vollständig verweigerte Akteneinsicht hinweisen. Das gilt nicht nur für eine Stellungnahme gegenüber dem Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach den §§121, 122 StPO, sondern auch im Rahmen anderer Haftprüfungen. Das mit der Sache befasste Gericht muss sich dann mit der Frage der Akteneinsicht auseinandersetzen. In der Regel wird es die Stellungnahme des Verteidigers der Staatsanwaltschaft zuleiten, die dann entscheidet, ob möglicherweise (jetzt noch) Akteneinsicht gewährt werden kann bzw. muss. Geschieht das, dann hat der Verteidiger zwar zunächst nicht die Aufhebung des Haftbefehls erreicht, aber zumindest nun doch eine manchmal lange Zeit verweigerte Akteneinsicht erhalten. Bei der besonderen Haftprüfung nach den §§121, 122 StPO stellt sich in dem Zusammenhang m.E. die weitere interessante Frage, wie mit der nun -- spät -- gewährten Akteneinsicht umzugehen ist. Bei ggf. umfangreichem Aktenmaterial, das dem Verteidiger erst jetzt im Rahmen der Haftprüfung zur Verfügung gestellt wird, kann sich nämlich nun die Frage von Verfahrensverzögerungen ergeben (Vgl. dazu unten C, III, 2). Denn der Verteidiger muss -- das Akteneinsichtsrecht ist Ausfluss des verfassungsrechtlich in Art.103 Abs.1 GG normierten Rechts auf rechtliches Gehör -- nun Gelegenheit haben, zu den ihm erst jetzt bekannt gewordenen Aktenteilen Stellung zu nehmen, und zwar in einer ausreichend langen Zeit. Das kann dann zu einer solchen Verfahrensverzögerung führen, dass schon deshalb -- obwohl das Verfahren bis dahin möglicherweise beschleunigt geführt worden ist -- der Haftbefehl aufzuheben ist (S. dazu auch Burhoff, EV, Rn. 924 ff.). Gewährt die Staatsanwaltschaft hingegen keine Akteneinsicht, dann treten die soeben dargelegten Auswirkungen ein. Alles das, was dem Verteidiger unbekannt ist, kann nicht Grundlage der Haftfortdauerentscheidung sein. Das zuständige Gericht muss sich also mit der Frage auseinandersetzen, ob der übrige Akteninhalt ausreicht, den ,,Haftbefehl zu halten" (S. dazu nochmals die Fallgestaltung bei OLG Hamm, a.a.O.). Ist das nicht oder nur hinsichtlich "bestimmter Vorwürfe der Fall, muss der Haftbefehl aufgehoben werden.
Der Haftbefehl, der im Übrigen grundsätzlich immer schriftlich ergehen muss (LG Zweibrücken VRS 99, 445), muss dem Beschuldigten bekannt gemacht werden bzw. bekannt gemacht worden sein (Wegen der Einzelh. dazu Burhoff, EV, Rn. 2008 ff.). Das gilt vor allem auch für einen erweiterten bzw. geänderten Haftbefehl (BVerfG StV 2001, 691; Burhoff, StraFo 2000, 110, jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung). Diese Frage hat insbesondere bei der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht Bedeutung, wenn im Laufe des Verfahrens der Haftbefehl Änderungen, vor allem Ergänzungen hinsichtlich der Tatvorwürfe, erfahren hat (Wegen der Einzelheiten dazu deshalb unten C, I.).
Bei der Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht übersehen werden darf die Frage, ob der vorliegende Haftbefehl überhaupt den Anforderungen des §114 StPO entspricht (Siehe dazu schon Burhoff, StraFo 2000, 110; s. auch Kempf, Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht und §§114, 115 Abs.3, 115a Abs.3 StPO, in: Festschrift für Peter Rieß, S. 217). Dazu ist auf Folgendes hinzuweisen:
Der notwendige Inhalt des Haftbefehls ergibt sich aus §114 Abs.2 StPO. Von besonderer Bedeutung ist dabei die sog. Konkretisierung des Tatvorwurfs. Dazu lässt sich allgemein feststellen, dass diese so eingehend sein muss, dass der Haftbefehl letztlich wie eine Anklageschrift -- allerdings angepasst an den jeweiligen Ermittlungsstand -- aus sich selbst heraus verständlich ist (Siehe zuletzt u.a. OLG Hamm StraFo 2000, 30 = StV 2000, 153; OLG Karlsruhe StraFo 2002, 25; s. auch Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3.Aufl. 2000, Rn. 313 ff. (im Folgenden kurz: Schlothauer/Weider). Das ist besonders wichtig bei Serienstraftaten (Vgl. dazu OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 107), bei Straftaten aus dem Bereich der BtM-Kriminalität (Vgl. dazu OLG Köln StV 1999, 156 [zugleich auch Geldwäschevorwurf]) oder vor allem auch aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität (Vgl. dazu OLG Hamm, a.a.O. [für Verstoß gegen das Markengesetz]). Dabei ist von Bedeutung, dass die Anforderungen an die konkrete Schilderung der Tat im Haftbefehl wachsen, je länger die U-Haft andauert (OLG Karlsruhe a.a.O.; s. wegen weiteren Nachweisen Burhoff StraFo 2000, 110 Fn. 24.).
Der Haftbefehl muss natürlich auch Ausführungen zur Beweiswürdigung erhalten. Darauf hat erst vor kurzem das OLG Hamm noch einmal ausdrücklich hingewiesen (OLG Hamm, Beschl. v. 5.8.2002, 2 Ws 335/02). Die Begründung des Haftbefehls dient nämlich vor allem der Unterrichtung des Beschuldigten darüber, auf welcher rechtlichen und tatsächlichen Grundlage in sein Freiheitsrecht eingegriffen wird, weshalb auf die Begründung des Haftbefehls -- so das OLG Hamm -- besondere Sorgfalt zu verwenden ist. Das Begründungserfordernis gilt hinsichtlich des dringenden Tatverdachts gerade deshalb, weil der Beschuldigte sonst nicht erkennen kann, worauf er seine Verteidigung einrichten muss und wie die Strafverfolgungsbehörden die vorliegenden Beweismittel werten und gewichten (OLG Hamm, a.a.O.; in dem Verfahren hatte das AG hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes gegenüber einem bestreitenden Beschuldigten zum dringenden Tatverdacht nur ausgeführt: ,,Er ist dieser Tat dringend verdächtig aufgrund der Feststellungen am Tatort sowie des weiteren polizeilichen Ermittlungsergebnisses", und das LG hat die dagegen gerichtete Haftbeschwerde aus den ,,zutreffenden Gründen" der angefochtenen Entscheidung verworfen).
Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehl ist nach §112 Abs.1 S.1 StPO zunächst ,,dringender" Tatverdacht. Dieser ist gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45.Aufl. 2000, §112 Rn. 5 m.w.N. (im Folgenden kurz: Kleinknecht/Meyer-Goßner); vgl. zu allem auch Schlothauer/Weider, Rn. 397 ff.). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine neuere Entscheidung des BGH zum ,,dringenden Tatverdacht", die auch deshalb von Interesse ist, weil wegen der gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen Entscheidungen des BGH zu diesen Fragen nicht so häufig sind. In Terroristenverfahren ergehen sie dann aber doch gelegentlich (S. den BGH-Beschluss vom 6.8.2002, 2 BJs 9/02-3; auf www.hrr-strafrecht.
de.). Hier hat auch der BGH noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ,,dringender Tatverdacht" im Sinne von §112 Abs.1 S.1 StPO nicht schon dann vorliegt, wenn für die Täterschaft des bestreitenden Beschuldigten -- nur -- eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Vielmehr müssen Beweise vorhanden sein, durch die der Beschuldigte mit großer Wahrscheinlichkeit überführt werden kann (Bestätigung von BGH NJW 1992, 1975, 1976; s. auch OLG Hamm in 2 Ws 335/02).
Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Verurteilung des Beschuldigten in dem Sinn wahrscheinlich ist, sind sämtliche Verfahrensumstände heranzuziehen. Dazu gehört, dass sich das Gericht damit befasst, ob ein im Ermittlungsverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten zur Frage der Glaubwürdigkeit eines Zeugen den von der Rechtsprechung des BGH gestellten Anforderungen entspricht (Deckers in der Anm. zu OLG Hamm StV 2001, 115 = StraFo 2000, 203 = NStZ-RR 2000, 188; das OLG Hamm hatte die Klärung dieser Frage der Hauptverhandlung ,,vorbehalten", zum Glaubwürdigkeitsgutachten und den insoweit vom BGH geforderten Standards s. Burhoff, EV, Rn. 904 ff.; zum Sachverständigenbeweis allgemein Burhoff, EV, Rn. 1476 ff.). Ggf. muss sich das Gericht auch mit der Problematik des ,,Zeugen vom Hörensagen" auseinandersetzen (Siehe die Fallgestaltung bei OLG Hamm, Beschl. v. 30.9.2002, 2 Ws 379/02). Diese Prüfung der Beweis-/Verfahrenslage kann dann dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung vollständig entfällt oder zumindest so gemindert wird, dass der Tatverdacht nicht mehr dringend ist. Das ist in der Rechtsprechung in letzter Zeit z.B. angenommen worden, wenn im Hinblick auf den auslieferungsrechtlichen Grundsatz der Spezialität ein Verfahrenshindernis für die davon betroffenen Taten besteht (OLG Dresden StV 2001, 519), wenn der Vorwurf nur auf Indizien gestützt war und Unstimmigkeiten bestanden, die erst in der HV geklärt werden konnten (LG Berlin StV 1999, 322), ggf. bei einer fehlerhaften Lichtbildvorlage (LG Essen StV 2000, 32; zur Gegenüberstellung und zur Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren eingehend Burhoff, EV, Rn. 860) oder wenn in den Angaben einer verdeckt vernommenen Vertrauensperson Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten waren (LG Frankfurt NJW 1998, 3727; ähnlich LG Koblenz StV 2000, 508; zum ggf. entfallenden dringenden Tatverdacht, wenn als einziges Beweismittel nur Niederschriften aus einer TÜ vorhanden sind OLG Köln StraFo 1998, 207). Zu berücksichtigen ist auch der Stand und der zeitliche Ablauf der Ermittlungen. So können Umstände, die in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens zur Bejahung und Begründung des dringenden Tatverdachts ausgereicht haben, im weiteren Verlauf so an Bedeutung verlieren, dass auf sie dann nicht mehr verwiesen werden darf. Das hat das OLG Köln für den Verweis auf ein ausländisches, nach sieben Wochen immer noch nicht übersetzt vorliegendes Urteil angenommen, wenn der darauf gegründete Tatvorwurf aufwändige und umfangreiche Ermittlungen im Ausland erfordern würde (OLG Köln StraFo 2002, 243).
Im Zusammenhang mit dem dringenden Tatverdacht ist für den Verteidiger immer die Frage von Bedeutung, ob er dazu überhaupt Stellung nehmen soll, um nicht über die dann erforderliche Auseinandersetzung des Gerichts mit den gegen den dringenden Tatverdacht vorgetragenen Argumenten eine eingehende Beweiswürdigung zu riskieren. Das ist zwar eine Frage, die von Fall zu Fall entschieden werden muss, m.E. ist aber von einer Stellungnahme grundsätzlich eher ab- als zuzuraten. Das gilt vor allem im Rahmen einer (weiteren) Haftbeschwerde, um so nicht eine Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts zu ,,riskieren" (S. auch schon Burhoff, StraFo 2000, 111; s. auch Burhoff, EV, Rn. 924 ff.).
Die in der Praxis bedeutsamsten Fragen bei der Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft ergeben sich in Zusammenhang mit den Haftgründen im Sinn des §112 Abs.2, 3 StPO bzw. §112a StPO (Zur Frage, ob es über die gesetzlichen Gründe hinaus noch andere Haftgründe gibt, s. die Nachw. bei Burhoff, StraFo 2000, 111, Fn. 27).
Fluchtgefahr im Sinne des §112 Abs.2 Nr.2 StPO besteht, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, es wahrscheinlich macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren eher entziehen als sich zur Verfügung halten werde (dazu Burhoff, EV, Rn. 1685 ff.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 Rn. 22 m.w.N. aus der Rspr. auch zur a.A.). Erforderlich ist also ein Verhalten des Beschuldigten, das dazu führt, den Fortgang des Strafverfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft des Beschuldigten, für Ladungen zur Verfügung zu stehen, zu verhindern (Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 Rn. 18 m.w.N.). Ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert die Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falles. Das wird in der Praxis häufig übersehen, wenn meist z.B. nur auf die ,,hohe Straferwartung" abgestellt wird (Vgl. dazu unten B, IV, 1 c). Bei der Abwägung aller Umstände hat natürlich die Frage der ,,hohen Straferwartung" Bedeutung (Vgl. dazu unten B, IV, 1 c). Sie steht aber gleichwertig neben allen anderen Umständen. Hervorzuheben sind daneben insbesondere starke familiäre und sonstige soziale Bindungen des Beschuldigten in seinem "persönlichen Umfeld (Vgl. dazu u.a. OLG Köln StV 2000, 628 m.w.N.; OLG Frankfurt StV 2001, 687). Auch der Umstand, dass der Beschuldigte (inzwischen) einen (weiteren) Beruf erlernt und sich hierauf eine berufliche Existenz aufgebaut hat, kann gegen Fluchtgefahr sprechen (OLG Frankfurt StV 2000, 151). Von Bedeutung ist zudem das Verhalten des Beschuldigten während des (Ermittlungs-)Verfahrens. Hat er z.B. die zeitweise Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht zur Flucht genutzt (OLG Hamm StraFo 2002, 23 = StV 2001, 685) bzw. sich über einen längeren Zeitraum für das Verfahren zur Verfügung gehalten50, lässt sich daraus sicherlich der Schluss ziehen, dass er das auch in Zukunft nicht tun wird. Auch die Stellung einer Kaution kann von Bedeutung sein (OLG Hamm StV 2000, 320 = wistra 2000, 239).
b) Fluchtgefahr bei Ausländern/bei Auslandskontakten
Ein besonderes Problem für den Verteidiger hinsichtlich der Annahme von Fluchtgefahr besteht, wenn ,,Auslandsberührung" festzustellen ist, sei es, dass der Beschuldigte Ausländer ist, sei es, dass ein deutscher Beschuldigter im Ausland lebt oder Auslandsverbindung hat. Häufig wird dann damit begründet, dass die Fluchtgefahr in diesen Fällen besonders groß sei (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., §112 Rn. 20; vgl. die weiteren Nachweise bei Burhoff, StraFo 2000, 110 Fn.36; siehe auch noch Böhm, Auswirkungen des Zusammenwachsens der Völker in der Europäischen Gemeinschaft auf die Haftgründe des §112 Abs.2 StPO, NStZ 2001, 633.).
Ich habe bereits früher darauf hingewiesen, dass allein aus dem Umstand der Auslandsberührung nicht auf Fluchtgefahr geschlossen werden kann (Burhoff, StraFo 2000, 112). Vielmehr ist auch das ein Umstand, der gleichwertig neben den übrigen bei der Abwägung zu berücksichtigenden Umständen steht54. Auslandsvermögen allein indiziert also beim völligen Fehlen anderer Verdachtsgründe noch keine Fluchtgefahr (Vgl. dazu eingehend Böhm, a.a.O.). Bei Ausländern, die schon länger in der Bundesrepublik Deutschland leben, liegt insbesondere auch dann keine Fluchtgefahr vor, wenn sie hier sozial und beruflich verwurzelt sind, jedenfalls haben diese Umstände dann in der Reihe derjenigen, die gegen die Fluchtgefahr sprechen, ein erhebliches Gewicht (OLG Saarbrücken StV 2002, 489). So hat das OLG Hamm Fluchtgefahr bei einem seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland lebenden, verheirateten Türken verneint (OLG Hamm wistra 2000, 397 = StV 2001, 44 (für Fluchtgefahr für den im Auslieferungsverfahren geltenden §15 IRG), ähnlich OLG Köln StV 2000, 508 (Ls.)). Das gilt erst recht dann, wenn der Ausländer schon seit Anfang 1980 in der Bundesrepublik Deutschland lebt, verheiratet ist, zwei Kinder hat, einer Arbeit nachgeht und zudem seit Juli 1991 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung ist (OLG Hamm StV 2001, 527 = StraFo 2001, 359 (ebenfalls für das Auslieferungsverfahren). Fluchtgefahr wird auch zu verneinen sein, wenn in Kenntnis des betriebenen (Auslieferungs-)Verfahrens nichts unternommen worden ist, um unterzutauchen oder sich dem (Auslieferungs-)Verfahren zu entziehen (OLG Hamm StraFo 2001, 240; StV 2001, 526). Auch ist schließlich ein Ausländer, der sich in sein Heimatland begibt, ohne dass dieses mit seiner Straftat in Zusammenhang steht, nicht flüchtig (OLG Saarbrücken StV 2000, 208; ähnlich OLG München StV 2002, 205 für den Fall der Arbeitsaufnahme; Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 StPO Rn. 13; Böhm, NStZ 2001, 633, 636).
c) Fluchtgefahr allein infolge hoher Straferwartung?
Eins der Hauptprobleme ist die -- teilweise schematische -- Begründung der Fluchtgefahr mit einer hohen Straferwartung. Dass das nicht zutreffend ist, habe ich bereits dargelegt (Vgl. Burhoff StraFo 2000, 113; s. auch Burhoff, EV, Rn. 1701; aus der Literatur der letzten Zeit siehe auch Fröhlich, Fluchtprognose durch Strafprognose? -- Zur praktischen Handhabung des §112 Abs.2 Nr. 2 StPO, NStZ 1999, 331; Naujok, Kann eine (hohe) Straferwartung zur Begründung der Fluchtgefahr i.S.d. §112 Abs.2 Nr. 2 StPO beitragen?, StraFo 2000, 79). In dem Zusammenhang ist noch immer nicht geklärt, was eigentlich eine ,,hohe Straferwartung" ist (Vgl. dazu Burhoff, StraFo 2000, 112 m.w.N.; Burhoff, EV, Rn. 1701). Das OLG Brandenburg hat die Frage danach vor kurzem bei einer zu erwartenden Strafe von vier Jahren noch verneint (OLG Brandenburg StV 2002, 147). Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls (OLG Brandenburg, a.a.O.), wobei Paeffgen (Paeffgen, a.a.O.) dafür plädiert hat, nicht mit abstrakten Zahlen zu arbeiten, sondern auf die mutmaßliche Strafempfindlichkeit und sonstige personale Umstände abzustellen. Bei allem spielt dann natürlich einerseits auch eine Rolle, dass von einer verhängten Strafe von vier Jahren durch Untersuchungshaft schon zwei Jahre verbüßt sind (OLG Hamm StraFo 2002, 177). Andererseits ist es nach Auffassung des BGH aber auch zulässig, die strafschärfende Wirkung verjährter Tatvorwürfe zu berücksichtigen (BGH StraFo 2002, 98; a.A. Gaede, StraFo 2002, 98 in der Anm. zu BGH, a.a.O.).
In dem Zusammenhang erlangen -- neben den Vorstellungen des (Haft-)Richters -- die Vorstellungen, die der Beschuldigte vom Ausgang des Strafverfahrens hat, Bedeutung (OLG Hamm StraFo 2000, 203 = StV 2001, 115 m. insoweit zust. Anm. von Deckers, a.a.O. = NStZ-RR 2000, 188; so auch Deckers, Strafverteidigung in der Praxis, 2.Aufl. 2001, §5 Rn. 103 (im Folgenden kurz: StrafPrax-Deckers); Burhoff, EV, Rn. 1701). Dazu muss der Verteidiger allerdings vortragen, da diese Vorstellungen dem Gericht naturgemäß i.d.R. kaum bekannt sind.
Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr im Sinne des §112 Abs.2 Nr.3 StPO ist gegeben, wenn das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, dass durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel eingewirkt und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden wird (Vgl. dazu zuletzt u.a. OLG Frankfurt StV 2000, 151; OLG Hamm StV 2002, 205 = wistra 2002, 236 = PStR 2002, 76 = ZAP EN-Nr. 279/2002). Erforderlich ist ein aktives Verhalten des Beschuldigten (OLG Karlsruhe StraFo 2002, 15; dazu auch StrafPrax-Deckers, § 5 Rn. 113 ff.; eingehend zur Verdunkelungsgefahr Park, Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, wistra 2001, 247), so dass die nur potenzielle Einwirkung auf den Partner einer (nichtehelichen) Lebensgemeinschaft zur Begründung der Verdunkelungsgefahr nicht ausreicht (OLG Karlsruhe, a.a.O.). Auch die Benennung von Familienangehörigen und Mitarbeitern als Zeugen ist das gute Recht des Beschuldigten und kann daher Verdunkelungsgefahr selbst dann nicht begründen, wenn es sich bei den benannten Zeugen um wirtschaftlich vom Beschuldigten abhängige Personen handelt (
72OLG Saarbrücken StraFo 2002, 489). Etwas anderes gilt natürlich, wenn auf Zeugen so Druck ausgeübt wird, dass diese sich ,,in die Pflicht genommen" fühlen (OLG Karlsruhe StraFo 2001, 395 = StV 2001, 686 m.w.N.). Auch der Umstand, dass Waffen, durch deren Besitz der Beschuldigte gegen das WaffenG verstoßen haben soll, nicht sichergestellt werden konnten, kann allein die Verdunkelungsgefahr nicht begründen (OLG Köln StV 2001, 628.).
Die Verdunkelungsgefahr muss ebenfalls aufgrund bestimmter Tatsachen begründet sein (Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 112 Rn. 27 m.w.N.), die bloße Möglichkeit verdunkelnder Handlungen genügt nicht (OLG Hamm StV 2002, 205 (s.o.); s. auch die weiteren Nachw. bei Burhoff StraFo 2000, 114 Fn.73). Diese ,,bestimmten Tatsachen" können sich aus dem Verhalten, den Beziehungen und den Lebensumständen des Beschuldigten ergeben (Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 Rn. 28 m.w.N.; Burhoff, EV, Rn. 1707). Nach inzwischen wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung können sich die ,,Tatsachen" aber nicht allein aus dem dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikt ergeben (Vgl. u.a. aus neuerer Zeit OLG Hamm, a.a.O. (für Steuerhinterziehung); OLG Frankfurt StV 2000, 151 (für §§331ff. StGB); OLG Köln StraFo 2000, 135 (für §§331ff. StGB); OLG Karlsruhe StraFo 2002, 147 (für professionelles Betrugssystem); dazu eingehend Park, wistra 2001, 247; Burhoff, StraFo 2000, 113 f.), was jedoch in der Praxis von den Instanzgerichten häufig angenommen wird. Vielmehr müssen auch bei den auf Verschleierung angelegten Delikten, wie z.B. Betrug oder Steuerhinterziehung, alle Umstände des Einzelfalls geprüft werden. Für die Bejahung von ,,Verdunkelungsgefahr" kommt es m.E. darauf an, ob der Beschuldigte mehr getan hat, als zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich ist, wobei dann auch von Bedeutung ist/wird, ob er ggf. andere in seine Taten mitverstrickt hat (Vgl. dazu die Fallgestaltung bei OLG Hamm, a.a.O.). Es reicht also nicht ,,nur" das Einreichen unrichtiger Steuererklärungen und das Ausführen solcher Handlungen, mit denen auf die Besteuerungsgrundlagen eingewirkt wird, wenn es sich dabei um Handlungen handelt, die unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des §264 StPO zur -- aus Sicht des Beschuldigten -- erfolgreichen und dauerhaften Hinterziehung von Steuern erforderlich waren (OLG Hamm, a.a.O.). Die zur Begründung der ,,Verdunkelungsgefahr" herangezogenen Handlungen müssen vielmehr darüber hinausgehen.
Bei der ,,Verdunkelungsgefahr" ist immer auch von Bedeutung, ob dieser Haftgrund überhaupt noch (fort-)besteht, also aktuell noch Verdunkelungsgefahr gegeben ist. Mit fortschreitender Dauer des Verfahrens und damit fortschreitender ,,Dichte" des Ermittlungsergebnisses kann und wird sich in der Regel nämlich der Haftgrund der ,,Verdunkelungsgefahr" abschwächen. Je mehr ermittelt worden ist, desto mehr wird gegen noch aktuelle ,,Verdunkelungsgefahr" sprechen. Oder anders: Wo alles oder fast alles ermittelt ist, bleibt kaum noch Raum zum Verdunkeln bzw. kann der Beschuldigte die Ermittlungen nicht mehr behindern (Vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 Rn. 31 m.w.N.). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Abschluss der Ermittlungen verfügt und Anklage erhoben ist (OLG Hamm StV 2002, 318 = wistra 2002, 277).
In dem Zusammenhang noch folgender Hinweis: Die Verdunkelungsgefahr wird bei einem bislang bestreitenden Beschuldigten sicherlich auch dadurch ausgeräumt bzw. erheblich vermindert werden, wenn dieser sich zur Sache geständig einlässt. Tut der Beschuldigte das gegenüber Polizei oder Staatsanwaltschaft, während ein Beschwerde- oder das Haftprüfungsverfahren beim Oberlandesgericht läuft, dann sollte der Verteidiger dem zuständigen Gericht nicht nur diesen Umstand, sondern auch den Inhalt des Geständnisses mitteilen. Denn ohne Kenntnis vom Inhalt der Einlassung wird das Gericht nicht beurteilen können, ob durch die Einlassung nun tatsächlich die Verdunkelungsgefahr ausgeräumt wird.
Bei bestimmten schweren Straftaten ist nach §112 Abs.3 StPO die Anordnung der Untersuchungshaft auch zulässig, wenn keiner der o.a. Haftgründe gegeben ist. Dieser Haftgrund der ,,Tatschwere" wird in Rechtsprechung und Literatur zum Teil als ein offensichtlicher Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesehen (Vgl. die Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112 Rn. 37) und hat durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Einschränkungen erfahren (Vgl. die Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O.). Danach ist im Fall des §112 Abs.3 StPO der Richter nur von den strengen Anforderungen der Haftgründe des §112 Abs.2 StPO befreit, es müssen nämlich nicht mehr bestimmte Tatsachen die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr begründen. Es müssen aber auch bei diesem Haftgrund bestimmte Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne die Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte (Siehe zuletzt OLG Düsseldorf StraFo 2000, 67; so u.a. schon BVerfG NJW 1966, 723). Der Erlass eines Haftbefehls ist auch in diesen Fällen verfehlt, wenn eine Flucht ganz fernliegend und eine Wiederholung der Tat ausgeschlossen ist oder dieser Gefahr durch mildere Maßnahmen begegnet werden kann. Das hat das OLG Köln z.B. bejaht für einen 60 Jahre alten, zu 60 % schwerbehinderten, verheirateten und nicht vorbestraften Rentner, dem ein Totschlag zur Last gelegt wurde (OLG Köln NJW 1996, 1686). Ähnlich hat das LG Kiel bei einem türkischen Angeklagten argumentiert, der sich über seinen Verteidiger mit den Ermittlungsbehörden in Verbindung gesetzt hat, einen Auslandsaufenthalt nicht dazu genutzt hat, sich abzusetzen und zudem erheblich Mühen darauf verwandt hat, in Verlust geratene Ausweispapiere zu ersetzen, um so ins Inland zurückkommen zu können (LG Kiel StraFo 2002, 360).
Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr wird in der Literatur ebenfalls stark kritisiert (Vgl. dazu die Lit.-Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, §112a Rn. 1). Zu diesem Haftgrund ist an dieser Stelle nur darauf hinzuweisen, dass er nach Auffassung des OLG Hamm auch im Jugendrecht anwendbar ist. Das aufgrund der gesetzlichen Regelungen des JGG bestehende Konkurrenzverhältnis zu §71 Abs.2 JGG ist jedoch dadurch aufzulösen, dass anstelle der Untersuchungshaft die weniger einschneidende Reaktion der einstweiligen Unterbringung nach §71 Abs.2 JGG zu wählen ist, wenn dadurch der Wiederholungsgefahr ausreichend begegnet werden kann (OLG Hamm ZAP EN-Nr. 720/01 = StV 2002, 432).
Jeder Haftbefehl, auch der außer Vollzug gesetzte und der nicht vollzogene (BVerfG StV 1996, 156), steht nach §112 Abs.1 S.2 StPO unter dem Gebot der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der besonders nochmals in §120 Abs.1 S.1 StPO erwähnt ist. Danach darf die Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht außer Verhältnis steht. Entsprechendes gilt für die Fortdauer der Untersuchungshaft (OLG Brandenburg StraFo 2002, 243). Bei der insoweit erforderlichen Abwägung müssen alle Umstände des (Einzel-)Falles berücksichtigt werden (Zur Verhältnismäßigkeit der U-Haft im Steuerstrafverfahren Rüping, wistra 2000, 11). Diese Abwägung, bei der auch durch die Ermittlungsbehörden verursachte Verfahrensverzögerungen zu berücksichtigen sind (Vgl. die Fallgestaltung bei OLG Hamm StraFo 1998, 283 = NStZ-RR 1998, 307), erlangt insbesondere dann Bedeutung, wenn ein Teil der verhängten Strafe bereits durch Untersuchungshaft verbüßt ist (Vgl. dazu u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 9.11.2000, 2 Ws 291/00, ZAP EN-Nr. 800/2000.). Dann kann der (weitere) Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig werden. Das hat z.B. das OLG Oldenburg angenommen, wenn von einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren bereits fünf Monate verbüßt waren (OLG Oldenburg StV 1996, 388), oder das OLG Hamm, wenn von einer noch nicht rechtskräftigen Freiheitsstrafe von einem Jahr inzwischen mehr als neun Monate (!) verbüßt waren und eine alsbaldige Entscheidung über die Revision nicht zu erwarten war (OLG Hamm StV 1998, 553; ähnlich OLG Hamm StraFo 2001, 179 = NStZ-RR 2001, 123, s. dazu auch LG Köln StraFo 1998, 351).
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Frage, auf welcher Grundlage die Untersuchungshaft eigentlich vollzogen wird, insbesondere bei der besonderen Haftprüfung Bedeutung erlangt, und zwar vor allem dann, wenn der gegen den Beschuldigten erlassene Haftbefehl im Laufe des Verfahrens Änderungen oder Erweiterungen erfahren hat, was in der Praxis gar nicht so selten ist (Siehe oben B, I.). Häufig ist der (geänderte) Haftbefehl dem Beschuldigten dann aber nicht verkündet worden. Zu dieser Problematik gilt Folgendes:
Es ist schon immer einhellige Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung gewesen, dass der Haftbefehl und ihn später bestätigende gerichtliche Entscheidungen, auch die des Haftprüfungsverfahrens nach §§121, 122 StPO, nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden dürfen, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er sich äußern konnte (BVerfG NJW 1992, 1749; NStZ 1994, 551, 552 = StV 1994, 465). Für das Haftprüfungsverfahren hat das zur Folge, dass nur der Haftbefehl zugrunde gelegt werden darf, der dem Beschuldigten ordnungsgemäß bekannt gemacht worden ist (Vgl. dazu Burhoff StraFo 2000, 110; Burhoff, EV, Rn. 929, 2004). Der Haftbefehl muss also dem Beschuldigten verkündet worden sein, und der Beschuldigte muss die Möglichkeit gehabt haben, sich zu den erhobenen Vorwürfen zu äußern. Das hat jetzt ausdrücklich auch noch einmal in Bestätigung der überwiegenden Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht entschieden (BVerfG StV 2001, 691 m.w.N. und m. zust. Anm. Hagmann, StV 2001, 693; so auch die st.Rspr. des OLG Hamm, schon seit OLG Hamm StV 1995, 200, wegen weiterer Nachw. siehe Burhoff, StraFo 2000, 110 Fn. 17). Und das gilt auch, wenn der ursprüngliche Haftbefehl ,,nur" erweitert worden ist (OLG Hamm, a.a.O., und StV 1998, 273 = wistra 1998, 158; StV 1998, 555 = StraFo 1998, 242 = NStZ-RR 1998, 277, Kleinknecht/Meyer-Goßner, §115 Rn. 11 m.w.N.). Diese Problematik kann erhebliche Auswirkungen haben, und zwar insbesondere bei der Beurteilung der ,,besonderen Schwierigkeiten" oder des ,,besonderen Umfangs" der Ermittlungen. Die Gründe des §121 Abs.1 StPO können sich nämlich nur auf die Taten beziehen, die im Haftbefehl ausgeführt sind und derentwegen die Untersuchungshaft vollzogen wird (BVerfG NJW 1992, 1749; OLG Nürnberg StraFo 2000, 138, OLG Oldenburg StraFo 2002, 275). Enthält also der Haftbefehl nur zwei Vergewaltigungsvorwürfe, dann können auch nur die dazu angestellten Ermittlungen als ,,wichtiger Grund" im Rahmen des §121 StPO angesehen werden. Ermittlungen, die darüber hinaus in anderen Vergewaltigungsfällen, in denen der Beschuldigte als Täter in Betracht kommt, angestellt worden sind, bleiben bei der Begründung der Fortdauer der Untersuchungshaft außen vor (Siehe die Fallgestaltung bei OLG Nürnberg, a.a.O.). Das kann insbesondere auch oder vor allem in umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren Bedeutung erlangen (So OLG Hamm StV 2002, 318 m. Anm. Deckers = wistra 2002, 277).
Zu dem Punkt noch folgender Hinweis: Es ist nicht die Aufgabe des Verteidigers, auf die ordnungsgemäße Verkündung eines erweiterten Haftbefehls hinzuweisen (BVerfG 2001, 691 f.) oder zu drängen. Im Rahmen der besonderen Haftprüfung sollte er m.E. dazu aber vortragen, schon damit das Oberlandesgericht diese Frage nicht ,,übersieht" und auch, um sich im Rahmen einer ggf. eingelegten Verfassungsbeschwerde nicht deren Unzulässigkeit aus Gründen der Subsidiarität entgegenhalten lassen zu müssen (Vgl. dazu BVerfG, a.a.O.).
Im Rahmen der besonderen Haftprüfung ist für die Verteidigung zunächst von Bedeutung, ob die Sechs-Monats-Frist des §121 Abs.1 StPO schon verstrichen ist. In dem Zusammenhang vorrangig ist dann die Frage, wie die Frist zu berechnen ist, insbesondere ob andere Haftzeiten und/oder andere Art der Freiheitsentziehung bei der Haftprüfung zu berücksichtigen sind (Vgl. dazu auch Burhoff, StraFo 2000, 115).
Nach h.M. beginnt die Sechs-Monats-Frist des §121 Abs.1 StPO in dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergriffen oder nach vorläufiger Festnahme gegen ihn bei der Vorführung Haftbefehl erlassen wurde (Vgl. die Nachw. bei Burhoff, StraFo 2002, 115 Rn. 89.). In die sich anschließende Sechs-Monats-Frist kann anderer Freiheitsentzug einbezogen werden. Ob dazu auch Zeiten einstweiliger Unterbringung nach §126a StPO gehören, ist in Rechtsprechung und Literatur nach wie vor umstritten. Die Frage wird von der wohl h.M. bejaht (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., §121 Rn. 6; zuletzt OLG Nürnberg StV 1997, 537 (Ls.); zum Stand der Rechtsprechung siehe auch Schlothauer/Weider, Rn. 859.), vom OLG Schleswig in einer neueren Entscheidung hingegen verneint (OLG Schleswig NStZ 2002, 220). Nach Auffassung des OLG Dresden wird die Zeit einer Unterbringung (nach §81 StPO) allerdings nur dann berücksichtigt, wenn es sich nicht um eine Haftverschonung, sondern ,,nur" um eine Änderung des Verwahrungsortes handelt (OLG Dresden StV 2002, 149 = NStZ-RR 2002, 10; ähnlich KG NStZ 1997, 148; a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner, §121 Rn. 4).
Die Sechs-Monats-Frist endet nach §121 Abs.2 StPO mit der Vorlage der Akten beim OLG. Nach h.M. soll allein die verspätete Vorlage kein Grund sein, den Haftbefehl aufzuheben (Kleinknecht/Meyer-Goßner, §121 Rn. 28 m.w.N.; zuletzt OLG Karlsruhe StV 2000, 513; a.A. u. a. Schlothauer/Weider, Rn. 853). Ob das zutreffend ist, ist, da der Beschuldigte die verspätete Vorlage der Akten nicht zu vertreten hat, zweifelhaft (So auch Schlothauer/Weider, a.a.O.). Ob die Oberlandesgerichte an ihrer Rechtsprechung festhalten können, erscheint mir insbesondere auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zweifelhaft. Denn dieses hat in der Entscheidung, in der es zu dem Erfordernis der Verkündung auch eines erweiterten Haftbefehls Stellung genommen hat, ausdrücklich auf Art.104 Abs.1 S.1 GG hingewiesen. Danach darf die Freiheit der Person aber nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und ,,nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden" (BVerfG StV 2001, 691). In ähnliche Richtung geht im Übrigen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage von ,,Gefahr im Verzug" bei Hausdurchsuchungen (BVerfG StV 2000, 207). Das Gericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass Verstöße gegen die ,,Formen freiheitsbeschränkender Gesetze" stets auch eine ,,Verletzung der Freiheit der Person" darstellen. Macht man aber damit ernst und soll also die Fristenregelung in §121 Abs.2 StPO nicht zur bloßen Formalie mutieren, dann müsste eigentlich die Rechtsprechung -- zumindest in Zukunft -- anders entscheiden und allein die verspätete Vorlage der "Akten beim Oberlandesgericht zur Aufhebung des Haftbefehls führen (Siehe auch Burhoff, EV, Rn. 935 ff.; s. dazu auch Hagmann, StV 2001, 693 in der Anm. zu BVerfG StV 2001, 691). Die Verteidiger sollten unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Einhaltung der Fristen immer wieder anmahnen, um so vielleicht irgendwann eine Änderung der h.M. zu erreichen. Solange das nicht erreicht ist, führt die Verletzung der Frist aber zumindest dazu, dass an die Prüfung der materiellen Voraussetzungen der Haftfortdauer erhöhte Anforderungen zu stellen sind (OLG Karlsruhe StV 2000, 513).
Die 6-Monats-Frist bezieht sich auf ,,dieselbe Tat" im Sinne des §264 StPO (Vgl. dazu eingehend Summa, Der Tatbegriff i.S. des §121 I StPO, NStZ 2002, 69). Von erheblicher praktischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob ggf. in einem anderen Verfahren erlittene U-Haft in dem Verfahren, in dem Haftprüfung nach §§121, 122 StPO ansteht, hinzuzurechnen ist. Dass dies eine nicht einfach zu beantwortende Frage ist, beweist die Kontroverse zwischen den beiden Strafsenaten des OLG Koblenz, die zum Tatbegriff im Sinn des §121 StPO unterschiedliche Auffassungen vertreten (Siehe einerseits 1. Strafsenat des OLG Koblenz StV 2000, 629; 2001, 298 = NStZ-RR 2001, 158, und andererseits 2. Strafsenat des OLG Koblenz StV 2001, 297 = NStZ 2002, 82). Die Rechtsprechung legt den Begriff ,,derselben Tat" inzwischen wohl weitgehend dahin aus, dass entscheidend ist, ob die gegen einen Beschuldigten erhobenen Vorwürfe in einen Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob es sich um dieselben oder verschiedene Verfahren handelt (Vgl. die Nachw. bei Burhoff StraFo 2000, 116 Fn. 104; zuletzt auch noch OLG Karlsruhe StV 2000, 513). Allerdings darf eine Verbindung der Verfahren nicht nur theoretisch möglich sein, sondern muss sich von Ermittlungsstand und -richtung her angeboten haben (H.M., so auch OLG Karlsruhe, a.a.O. StV 2000, 513; zur a.A. siehe die o.a. Entscheidung des 2. Strafsenats des OLG Koblenz.).
Die in der Praxis bei der Haftprüfung durch das Oberlandesgericht in der Regel bedeutsamste Frage ist mit Sicherheit die, ob ein wichtiger Grund im Sinne des §121 Abs.1 StPO vorliegt, der die Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinaus rechtfertigt. Das kann nach der gesetzlichen Regelung nur die ,,besondere Schwierigkeit" oder der ,,besondere Umfang der Ermittlungen" oder eben ein ,,anderer wichtiger Grund" sein, wobei die Grenzen zwischen diesen Gründen fließend sind. Die Rechtsprechung zu dieser Problematik ist unüberschaubar und weitgehend auch einzelfallbezogen. Deshalb lässt sich kaum eine geschlossene Darstellung der Fragen geben, so dass ich mich hier auf einige allgemeine Anmerkungen und ein ,,ABC" zu der in der letzten Zeit ergangenen Rechtsprechung beschränken will (Siehe im Übrigen die Zusammenstellung der Rechtsprechung bei Burhoff, EV, Rn. 939 ff, sowie auch die Checkliste in StraFo 2000, 119 und bei Burhoff, EV, Rn. 951).
Bei der Vorschrift des §121 Abs.1 S.1 StPO handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte um eine Ausnahmevorschrift, die demgemäss eng auszulegen ist (Kleinknecht/Meyer-Goßner, §121 Rn. 19 m.w.N.; dazu auch Burhoff StraFo 2000, 116 m.w.N.; vgl. zum Auslegungsmaßstab u.a. auch noch BVerfG NStZ 1995, 295 = StV 1995, 199). Die Vorschrift ist Ausprägung des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes, der mit zunehmender Dauer des Verfahrens als Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes immer mehr Gewicht gewinnt (BVerfG StV 2000, 322 = NStZ 2000, 153; NStZ-RR 2002, 24; OLG Karlsruhe StV 2000, 210 = NStZ 2001, 79). Das erlangt vor allem dann Bedeutung, wenn eine bereits begonnene Hauptverhandlung ausgesetzt und Untersuchungshaft weiter vollzogen wird. Bei der Prüfung, ob ein ,,wichtiger Grund" vorliegt, sind im Übrigen nur die Umstände von Gewicht, die sich auf die Taten beziehen, die Gegenstand des der Untersuchungshaft zugrunde liegenden Haftbefehls sind. Das ist in der Praxis insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Ermittlungsbehörden im Ermittlungsverfahren andere Straftaten (mit) aufgeklärt haben. Der insoweit verursachte zeitliche Ermittlungsaufwand ist im Rahmen des §121 StPO dann ohne Belang (BVerfG NStZ 2002, 100; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2002, 217; früher schon OLG Brandenburg StV 2000, 37; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 268; OLG Nürnberg StraFo 2000, 138; ähnlich auch OLG Hamm StV 2002, 318 = wistra 2002, 277). An einem wichtigen Grund fehlt es jedoch bei Serienstraftaten nicht schon dann, wenn der Tathintergrund mitaufgeklärt wird, ohne den die zur Anklageerhebung erforderliche rechtliche Bewertung der haftgegenständlichen Taten nicht möglich ist (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Es darf allerdings nicht der Abschluss der Ermittlungen der verfahrensrelevanten Taten in spürbarem Maße verzögert werden (OLG Düsseldorf, a.a.O.).
Die Frage, inwieweit Ermittlungen zu Einkünften und zur Vermögenslage des Beschuldigten zu Verfahrensverzögerungen geführt haben und ob diese den ,,besonderen Umfang" oder auch die ,,besondere Schwierigkeit" der Ermittlungen begründen können, ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch nicht entschieden. Auf diese muss sich der Verteidiger m.E. aber vorbereiten. Denn in der Rechtsprechung ist die Tendenz zur Abschöpfung von Straftatgewinnen nicht zu übersehen, die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen zu Verfall und/oder Rückgewinnungshilfe nimmt zu. Demgemäss wird auch die Zahl der Verfahren, in denen im Hinblick darauf Ermittlungen durchgeführt werden, zunehmen. M.E. wird man in diesem Bereich unterscheiden müssen, wobei man nicht aus dem Auge verlieren darf, dass es bei diesen Entscheidungen häufig nur um den Rechtsfolgenausspruch geht. Unterscheiden wird man m.E. danach müssen, ob die Vermögensermittlungen nur eine Ermessensentscheidung "vorbereiten, wie z.B. bei der Durchführung der Rückgewinnungshilfe (Kleinknecht/Meyer-Goßner, §111b Rn. 6) oder den Entscheidungen zu den Surrogaten (§73 Abs.2 S.2 StGB). In diesen Fällen wird man einen wichtigen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft verneinen müssen. Etwas anderes kann dann gelten, wenn es um zwingende Verfallsentscheidungen geht, wie z.B. in §73 Abs.1 StGB. Dann kann die Bejahung eines wichtigen Grundes in Betracht kommen. Der Verfall ist auch kein Gesichtspunkt der Strafzumessung. Allerdings wird man sehr sorgfältig prüfen müssen, ob die Vermögensermittlungen tatbezogen geführt worden sind und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet worden ist.
Absprachen mit Sachverständigen darüber, innerhalb welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist, versäumt: wichtiger Grund verneint (OLG Hamm StV 2000, 629 = StraFo 2001, 433 = NStZ-RR 2001, 60; ähnlich OLG Bremen StV 1997, 143),
Anberaumung der HV verspätet: wichtiger Grund ggf. zu verneinen, wenn damit mehr als 3 Monate gewartet wird (OLG Hamm StV 2000, 515) oder mehr als 7 Monate in einer Überhaftsache (OLG Bremen StV 2000, 35 = NStZ 2001, 77),
Anklage verzögert erhoben: wichtiger Grund ggf. zu verneinen (OLG Hamm StV 2000, 631 (Ls.) für 3-monatige Verzögerung; ähnlich OLG Bremen StV 1992, 182; OLG Frankfurt StV 1995, 141),
Arbeitsteilung in der Strafkammer mit der Folge, dass ein Richter ausschließlich Beschwerdesachen bearbeitet und dadurch Verzögerungen entstehen: wichtiger Grund verneint (OLG Celle Nds.Rpfl. 2002, 202), eine solche Arbeitsteilung widerspricht dem Beschleunigungsgrundsatz,
auslieferungsrechtliche Fragen nur verzögert geklärt: wichtiger Grund verneint (OLG Dresden StV 2001, 519),
Aussetzung der Hauptverhandlung: wichtiger Grund verneint, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung nicht aus sachlichen Gründen zwingend geboten bzw. unumgänglich war (OLG Karlsruhe StV 2000, 91 = NStZ-RR 2000, 157), was verneint worden ist, wenn kein Grund für die Annahme vorlag, dass Schöffen aus Sicht des Angeklagten befangen sein könnten (OLG Düsseldorf StraFo 2001, 255) oder grundlos wegen Beweisanträgen (OLG Zweibrücken StraFo 2000, 322) oder wegen Einholung eines Sachverständigengutachtens (OLG Celle Nds.Rpfl. 2000, 367) ausgesetzt worden ist, zumal wenn das Sachverständigengutachten schon vor der Hauptverhandlung hätte eingeholt werden können und müssen (OLG Hamm, Beschl. v. 9.9.2002, 2 BL 90/02, StraFo 2002, 367 = NStZ-RR 2002, 348) oder das Gericht die Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens nicht begründet (OLG Celle Nds.Rpfl. 2002, 202 (für Aussetzung einer siebentägigen Hauptverhandlung),
Berichterstatterwechsel bzw. Wechsel der gesamten Kammerbesetzung: wichtiger Grund verneint, wenn der Verzögerung nicht durch zumutbare Maßnahmen entgegengewirkt worden ist (BVerfG NJW 1999, 2280),
Doppel- oder Mehrfachakten nicht angelegt: wichtiger Grund verneint, wenn dadurch Verzögerungen bei der Akteneinsicht durch mehrere Verteidiger entstanden sind (Zuletzt KG StV 2000, 36, 37; OLG Düsseldorf StraFo 2002, 26; vgl. dazu schon. BVerfG NJW 1994, 2081 f. = StV 1993, 481) oder bei der Durchführung von Rechtsbehelfsverfahren (BVerfG StV 1999, 162; OLG Koblenz StraFo 2001, 398),
Ermittlungsstillstand über mehrere Monate ohne nachvollziehbaren Grund: wichtiger Grund verneint (OLG Hamm StraFo 2001, 32; ähnlich OLG Koblenz StraFo 2001, 398; StraFo 2002, 208),
Eröffnung des Hauptverfahrens verspätet: wichtiger Grund ggf. zu verneinen (Siehe u.a. OLG Brandenburg StraFo 2002, 243 (10 Monate, wobei bei schweren Anklagevorwürfen aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein kann); OLG Hamm StV 2000, 90 = StraFo 2000, 69 (4 ½ Monate); OLG Jena StraFo 2002, 274 = StV 2002, 555 (5 Monate); s. auch die Nachw. bei Burhoff StraFo 2000, 117, Fn.131 f.), und zwar auch in einer Überhaftsache (OLG Bremen StV 2000, 35 = NStZ 2001, 71 (7 Monate in einer Überhaftsache); KG StraFo 2002, 242 = StV 2002, 554 (11 Monate in Überhaftsache),
Kompetenzkonflikt: wichtiger Grund dann zu verneinen, wenn die erfolgte Verweisung an das andere Gericht ggf. auf einem groben Fehler beruht (BVerfG NJW 2000, 1401 = StV 2000, 321 = StraFo 2000, 202; OLG Braunschweig StV 1998, 558 (Ls.); nicht aber bei nicht völlig unvertretbarer Anklageerhebung beim unzuständigen Gericht, OLG Düsseldorf StraFo 1996, 185; a.A. insoweit BVerfG StV 1992, 522),
Nachermittlungen in Form von Vernehmung zahlreicher tatferner Zeugen: wichtiger Grund verneint, wenn diese nicht erforderlich war, da der Beschuldigte bereits zu Beginn des Ermittlungsverfahrens ein glaubhaftes Geständnis abgelegt hatte (OLG Jena StV 1998, 141),
Nichtbearbeitung der Akten während eines längeren Zeitraums: wichtiger Grund z.B. verneint, wenn das Gericht zwei Monate bis nach dem Eingang der Anklageschrift wartet, um sich erst dann für örtlich unzuständig zu erklären (OLG Celle Nds.Rpfl. 2001, 21),
Sachverständigengutachten verspätet eingeholt: wichtiger Grund verneint, wenn z.B. die Anklageerhebung vom Ergebnis des Gutachtens nicht zwingend abhängig war (BVerfG NStZ 1994, 553; Schlothauer, Verteidigung des inhaftierten Mandanten, StraFo 1995, 5, 10), vor allem dann, wenn durch unterlassene Einholung des Sachverständigengutachtens die Aussetzung der Hauptverhandlung verursacht worden ist (OLG Hamm, Beschl. v. 9.9.2002, 2 BL 90/02, StraFo 2002, 367 = NStZ-RR 2002, 348),
Teilanklage hätte erhoben und damit eine Möglichkeit der Verfahrensbeschränkung und/oder -trennung ergriffen werden können: wichtiger Grund verneint (OLG Hamm StV 2000, 90 = StraFo 2000, 68; s. auch OLG Frankfurt StV 1995, 423 und BVerfG NStZ 1994, 553 = StV 1994, 589),
Überlastung des Gerichts: wichtiger Grund verneint, wenn es sich nicht nur um eine kurzfristige Überbelastung handelt, der zudem auch nicht zeitgerecht entgegengewirkt worden ist (OLG Celle StraFo 2002, 103 = Nds.Rpfl. 2002, 199; siehe im Übrigen die zahlr. N. aus der Rechtsprechung bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, §121 Rn. 22 und bei Schlothauer/Weider, Rn. 885 ff.; siehe auch BVerfG StV 1997, 535), wobei ggf. auch auf Richter anderer Spruchkörper außerhalb der Strafgerichtsbarkeit zurückgegriffen werden muss (OLG Celle Nds.Rpfl. 2002, 200),
Unnötige Aktenversendung: wichtiger Grund verneint (OLG Oldenburg StraFo 2002, 275),
Urlaub des Vorsitzenden bzw. von Kammermitgliedern: wichtiger Grund verneint, wenn der Eröffnungsbeschluss in einer übersichtlichen Sache nicht unter Hinzuziehung der geschäftsplanmäßigen Vertreter gefasst wird (OLG Celle Nds.Rpfl. 2002, 201) und/oder die während des Urlaubs des Vorsitzenden erforderliche und durchführbare Hauptverhandlung nicht mit einem Vertreter durchgeführt wird (OLG Celle, a.a.O.),
Verhinderung des Verteidigers und Terminsverlegungsantrag: wichtiger Grund grds. bejaht (OLG Düsseldorf StV 1994, 326), hingegen verneint bei einer unterlassenen Terminsabsprache (OLG Karlsruhe StraFo 1999, 430) oder wenn der Verhinderung des Wahlverteidigers nicht durch eine rechtzeitige Pflichtverteidigerbestellung begegnet worden ist (OLG Hamm StV 2002, 151 = NStZ-RR 2002, 124),
Vernehmung einer größeren Zahl von Zeugen im Ermittlungsverfahren: wichtiger Grund dann verneint, wenn in einem Zeitraum von sechs Monaten nur 21 Zeugen -- und dann noch mit längeren Vernehmungspausen -- vernommen worden sind (OLG Hamm StV 2000, 90 = StraFo 2000, 68),
Verweisung: wichtiger Grund verneint, wenn der Verweisungsbeschluss unwirksam war (BVerfG NJW 2000, 1401 = StV 2000, 321 = StraFo 200, 202; OLG Hamburg StV 1999, 163),
Vorrang der Haftsachen vor Nichthaftsachen nicht berücksichtigt: wichtiger Grund verneint: Der Vorrang geht so weit, dass ggf. Termine in Nichthaftsachen für die Haftsachen aufgehoben werden müssen, um diese verhandeln zu können (Vgl. OLG Hamm StraFo 2001, 32 = NStZ-RR 2001, 61 = StV 2001, 303 = wistra 2001, 77; früher schon OLG Karlsruhe Die Justiz 1986, 28; OLG Düsseldorf JMBl. NW 1984, 287), oder Sondersitzungstage anzuordnen sind (OLG Celle Nds.Rpfl. 2001, 196).
Die Frage der ,,Kompensation" der zögerlichen Behandlung des Verfahrens in einem Verfahrensabschnitt durch besonders bevorzugte = schnelle Behandlung des Verfahrens in einem anderen Abschnitt, so dass es auf die Verzögerung dann nicht mehr ankommt, ist im Berichtszeitraum in der Rechtsprechung ausdrücklich nicht entschieden worden. Das OLG Hamm hat allerdings inzwischen ausgeführt, dass es dazu neigt, die Möglichkeit der Kompensation zu verneinen (OLG Hamm, Beschl. v. 9.9.2002, 2 BL 90/02, StraFo 2002, 367 = NStZ-RR 2002, 348). Das OLG Koblenz scheint sie hingegen -- zumindest inzidenter-- zu bejahen (OLG Koblenz StraFo 2002, 208).
Nach §116 StPO kann die Vollstreckung eines Haftbefehls außer Vollzug gesetzt werden. Von dieser Möglichkeit wird häufig(er) Gebrauch gemacht, da die Gerichte eher geneigt sind, einen Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, als ihn ggf. ganz aufzuheben. Das muss der Verteidiger berücksichtigen und deshalb bei einem Haftprüfungsantrag immer zugleich auch den (Hilfs-)Antrag stellen, den Haftbefehl hilfsweise außer Vollzug zu setzen (So auch Burhoff, EV, Rn. 267).
Die Außervollzugsetzung kommt während des gesamten Verfahrens in Betracht. So kann auch das OLG im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht nach den §§121, 122 StPO den Haftbefehl (noch) außer Vollzug setzen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der U-Haft nach §121 Abs.1 StPO vorliegen (OLG Hamm StV 2000, 631 = StraFo 2001, 32 = wistra 2001, 35 m.w.N.). Ob eine befristete Aussetzung des Vollzugs statthaft ist, ist umstritten. Sie wird von der inzwischen wohl überwiegenden Meinung bejaht (Vgl. vor allem Neuhaus, Die Befristung der Haftverschonung: Stets unzulässiger Urlaub aus der Untersuchungshaft?, StraFo 2000, 13, 15 m.w.N.; a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner, §116 Rn. 2; in neuerer Zeit z.B. bejaht von AG Krefeld NStZ 2002, 559 (Ls.) m. zust. Anm. Neuhaus für die Regelung wichtiger persönlicher Angelegenheiten; s. auch OLG Hamm StraFo 1998, 423 = StV 1999, 38).
Die Voraussetzungen für eine Außervollzugsetzung richten sich danach, welcher Haftgrund im Haftbefehl angenommen worden ist. Der wegen ,,Fluchtgefahr" (Siehe oben B, IV, 1) erlassene Haftbefehl kann außer Vollzug gesetzt werden, wenn weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann (Vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 269). Dabei ist immer zu beurteilen, wie groß der Fluchtanreiz ggf. überhaupt noch ist und ob aus anderen Umständen abgeleitet werden kann, dass der Beschuldigte sich dem Verfahren eben nicht entziehen wird. Das kann z.B. der Fall sein, wenn er sich in Kenntnis des Antrags der Staatsanwaltschaft, ihn zu einer Haftstrafe zu verurteilen, dem (weiteren) Verfahren gestellt hat (OLG Karlsruhe StraFo 2000, 321 = StV 2000, 508; ähnlich OLG Hamm, Beschl. v. 6.2.2002, 2 Ws 34/02) oder wenn er eine frühere Außervollzugsetzung nicht zur Flucht genutzt hat (OLG Hamm StraFo 2002, 23 = StV 2001, 685). Das gilt auch bei Kapitaldelikten (Vgl. die Fallgestaltung bei OLG Köln StV 1999, 606).
Die StPO stellt in §116 Abs.1 StPO einen Katalog von Maßnahmen/Auflagen zur Verfügung, deren Anordnung/Erfüllung durch den Beschuldigten die Außervollzugsetzung rechtfertigen können. Die Aufzählung ist jedoch nicht erschöpfend. Die Anordnung anderer Auflagen ist zulässig, allerdings müssen sie z.B. dazu dienen, die Fluchtgefahr auszuräumen (Vgl. dazu eingehend Neuhaus, Haftverschonungsauflagen und ihre Kontrolle, StV 1999, 342; s. die weiteren Lit.-Nachw. bei Burhoff, EV, Rn. 266.). Das bedeutet, dass z.B. als Haftverschonungsauflage nicht ein (vorläufiges) Berufsverbot erlassen werden kann (OLG Hamm StraFo 2002, 178 = StV 2002, 315 = PStR 2002, 98 = ZAP EN-Nr. 316/2002).
Eine der in der Praxis häufigsten Auflagen ist die Meldeauflage (§116 Abs.1 S.2 Nr.1 StPO). Durch sie wird dem Beschuldigten in der Regel aufgegeben, sich an bestimmten Tagen oder innerhalb eines bestimmten Zeitraums bei der Polizei oder einer anderen Stelle zu melden. Sie kann aber auch darin bestehen, unmittelbar nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft eine stationäre Drogentherapie anzutreten (OLG Hamm StV 1999, 606 = NStZ 2001, 77). Ist eine Meldeauflage auferlegt, kann sie später im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgesetzt werden, um z.B. dem Beschuldigten eine längere Reise oder den Aufenthalt an einem anderen Ort als seinem Wohnort zu ermöglichen (OLG Hamm StraFo 1998, 423 = StV 1999, 38). Nach §116 Abs.1 S.2 Nr.3 StPO kann auch die Weisung erteilt werden, die Wohnung nur unter Aufsicht zu verlassen. Das bedeutet, dass unter Einsatz der heute vorhandenen technischen Mittel und Möglichkeiten als Überwachungsmittel mit Einverständnis des Beschuldigten auch die elektronische Fußfessel zur Verfügung steht (Eingehend dazu Neuhaus (s.o.), StV 1999, 340, 345 ff.; s. auch Burhoff, EV, Rn. 271).
Bei einem auf ,,Verdunkelungsgefahr" (S. oben B, IV, 2) gestützten Haftbefehl stellt sich ein besonderes Problem: Bei diesem Haftgrund ist nämlich in Rechtsprechung und Literatur immer noch umstritten, ob die Außervollzugsetzung gegen eine Kaution in Betracht kommt. Die Frage wird von der noch überwiegenden Meinung unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des §116 Abs.2 StPO verneint (Vgl. z.B. OLG Frankfurt NJW 1978, 838; KG JR 1990, 34; eingehend dazu Hohlweck, Sicherheitsleistung bei Verdunkelungsgefahr, NStZ 1998, 600; krit. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, §116 Rn. 16 m.w.N.), während eine m.E. fortschrittlichere Auffassung diese Frage bejaht (OLG Hamburg MDR 1974, 595; LG Bochum StV 1998, 207; LG München StraFo 1998, 209; siehe auch Amelung, Die Sicherheitsleistung gem. §116 StPO, StraFo 1997, 300, 301; Burhoff, EV, Rn. 276.; siehe auch OLG Köln StraFo 1997, 150, das sogar beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr die Möglichkeit einer Sicherheitsleistung bejaht). Ich meine, dass der Wortlaut des §116 Abs.2 StPO einer Kaution nicht entgegensteht. Das wird jedenfalls dann gelten, wenn dem Beschuldigten zusätzlich aufgegeben worden ist, mit Mitbeschuldigten und Zeugen keinen Kontakt aufzunehmen, und die Kaution auch der Sicherung dieses ,,Kontaktverbotes" gilt (OLG Hamm StraFo 2001, 397 = StV 2001, 688).
Nach §116 Abs.4 StPO wird der Vollzug des Haftbefehls wieder angeordnet, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt, er Anstalten zur Flucht trifft oder neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Insbesondere der letztere Anordnungsgrund ist immer wieder Gegenstand obergerichtlicher Entscheidungen, wobei insbesondere der Umstand, dass der Beschuldigte zu einer höheren Strafe als erwartet verurteilt worden ist, erhebliche Bedeutung erlangt (OLG Hamm wistra 1998, 364 = NStZ-RR 1999, 53 zur bejahten Frage, ob die Bedrohung eines Zeugen in einem anderen Verfahren zur Invollzugsetzung ausreicht; a.A. insoweit Kleinknecht/Meyer-Goßner, §116 Rn. 28; OLG Düsseldorf StV 1984, 339.). Denn gerade damit wird von den Gerichten immer wieder die Invollzugsetzung eines Haftbefehls begründet (Vgl. z.B. aus neuer Zeit OLG Koblenz StraFo 1999, 322; OLG Brandenburg StraFo 2001, 31). Dieser Umstand allein wird jedoch in der Regel nicht ausreichen. Vielmehr sind auch an dieser Stelle alle Umstände zu berücksichtigen und abzuwägen. So ist es z.B. von Bedeutung, wenn der Beschuldigte sich über einen längeren Zeitraum zur Verfügung gehalten hat, allen Ladungen gefolgt ist und insbesondere auch, ob er, nachdem ggf. die Staatsanwaltschaft einen unerwartet hohen Strafantrag gestellt hat, weiter am Verfahren teilnimmt. Von Belang ist auch, ob der (Haft-)Richter schon bei der Aussetzungsentscheidung von einer hohen Straferwartung ausgegangen ist (OLG Düsseldorf StraFo 2002, 142 = StV 2002, 207). An dieser Stelle ist dann auch die Straferwartung des Beschuldigten von Bedeutung (OLG Koblenz, a.a.O.), zu der der Verteidiger vortragen muss, da dieser Erwartungshorizont dem Gericht nicht bekannt ist.
Der Haftbefehl wird von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten/des Verteidigers außer Vollzug gesetzt. Ob der Richter an einen Antrag der Staatsanwaltschaft, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, gebunden ist, ist umstritten. Die Frage ist m.E. mit dem BGH im Hinblick auf §120 Abs.3 StPO zu bejahen (BGH NJW 2000, 967 = StV 2000, 31, 155 = wistra 2000, 145; a.A. OLG Düsseldorf NStZ 2001, 122 = StV 2001, 462, s. dazu auch Nehm, Umfang der Bindungswirkung des Ermittlungsrichters an Anträge der Staatsanwaltschaft, in: Festschrift für Meyer-Goßner, 2002, S. 277). Gegen den Außervollzugsetzungsbeschluss können der Beschuldigte und/oder die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen. Auch weitere Beschwerde ist nach h.M. in diesen Fällen zulässig (OLG Hamm StraFo 2002, 140 = StV 2002, 149 (Ls.) mit weiteren Hinw. zum Streitstand). Der Beschuldigte kann Beschwerde auch einlegen, wenn er Auflagen und/oder Weisungen als zu belastend empfindet. In diesem Fall ist nach überwiegender Meinung die weitere Beschwerde aber ausgeschlossen (OLG Hamm, a.a.O.). Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn es sich bei der als Auflage angeordneten Maßnahme nur der äußeren Form nach um eine Haftverschonungsauflage handelt (OLG Hamm StraFo 2002, 178 = StV 2002, 315 = PStR 2002, 98 = ZAP EN-Nr. 316/2002).
Aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bzw. des EGMR zu Haftfragen können folgende Entscheidungen insbesondere auch im Rahmen der mündlichen Haftprüfung praktische Bedeutung erlangen (Zur mündlichen Haftprüfung eingehend Burhoff, EV, Rn. 1125 ff.):
Das sind zunächst die Entscheidungen des EGMR zur Akteneinsicht (Vgl. EGMR NJW 2002, 2013; 2002, 2015; 2002, 2018; s. auch oben A). Denn auch die nach einer mündlichen Haftprüfung ggf. ergehende Haftfortdauerentscheidung darf nicht auf solche Tatsachen und Umstände gestützt werden, die dem Verteidiger/Beschuldigten infolge einer beschränkten bzw. verweigerten Akteneinsicht nicht bekannt sind. Auch insoweit besteht das bereits erwähnte verfassungsrechtliche Verwertungsverbot, das der Verteidiger gegenüber dem Gericht geltend machen muss (OLG Hamm StV 2002, 318 (s.o.); s. aber auch OLG Hamm NStZ-RR 2001, 254; s. auch Deckers, a.a.O., §5 Rn. 57, und Burhoff, EV, Rn. 1126, die einen kombinierten Haftprüfungsantrag: Akteneinsichts-Antrag an Staatsanwaltschaft, Haftprüfungsantrag an das Gericht, um so die Staatsanwaltschaft in die Frist des §118 Abs.5 StPO einzubinden, empfehlen).
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Vgl. BVerfG StV 2001, 691 (s.o.)) müsste zudem insofern Auswirkungen haben, als sie, wenn man nicht bei einer Fristverletzung sogar zur Aufhebung des Haftbefehls kommen will (So AG Kamen StV 1995, 476), die Gerichte zumindest dazu anhalten müsste, die 2-Wochen-Frist des §118 Abs.5 StPO auf jeden Fall einzuhalten (Vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 1131). Der Haftbefehl wird aber jedenfalls dann aufzuheben sein, wenn im Haftprüfungstermin dem Gericht die Akten nicht vorgelegt werden (OLG Oldenburg StV 1995, 87; AG Kamen StV 2002, 315 (Ls.)).
Die ,,Geltungsdauer" von §166 StPO, der dem Verteidiger die Möglichkeit eines Beweisantrages im Haftprüfungsverfahren eröffnet, ist fraglich. Nach Auffassung des OLG Hamm gilt §166 StPO nur während des Ermittlungsverfahrens und nicht auch noch nach Erlass des Urteils (OLG Hamm StraFo 2002, 100 m. Anm. Nobis = StV 2002, 209). A.A. sind insoweit mit beachtlichen Argumenten Nobis (StraFo 2002, 101 in der Anm. zu OLG Hamm, a.a.O.) und wohl auch Schlothauer/Wieder (Schlothauer/Weider, Rn. 742).
Nach § 306 Abs.2 Hs.2 StPO ist eine Beschwerde im Fall der Nichtabhilfe spätestens vor Ablauf von 3 Tagen dem Beschwerdegericht vorzulegen. Diese Frist wird in der Praxis -- leider -- häufig übersehen/missachtet, und die Akten werden -- teilweise erheblich -- verspätet beim Beschwerdegericht vorgelegt. Deshalb muss der Verteidiger bei einer Haftbeschwerde auf diese gesetzliche Vorlagefrist unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Vgl. BVerfG StV 2001, 691 (s.o.)) und der Obergerichte (S. dazu OLG Hamm StV 2000, 153; StraFo 2002, 177 = StV 2002, 492) hinweisen. Der Verteidiger kann allerdings selbst auch zur Beschleunigung beitragen. Kündigt er eine Stellungnahme bzw. weitere Begründung der Haftbeschwerde an, dann sollte er diese aber auch zeitnah abgeben und nicht durch unnötige Fristverlängerung selbst zu einer verzögerten Abgabe der Akten an das Beschwerdegericht beitragen (Vgl. die Fallgestaltung bei OLG Hamm, a.a.O.).
Wird der Angeklagte freigesprochen, muss ein Haft- oder Unterbringungsbefehl nach §§120 Abs.1 S.2, 126a Abs.3 S.1 StPO aufgehoben werden, da dann die Voraussetzungen für diese Anordnungen nicht mehr vorliegen. Das gilt auch dann, wenn der Angeklagte nur zu einer Bewährungs- oder Geldstrafe verurteilt wird. Der Haftbefehl wird nicht automatisch gegenstandslos (OLG Düsseldorf StraFo 1999, 357 = StV 1999, 607 = NStZ 1999, 585). Entsprechendes gilt für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl und einen Haftverschonungsbeschluss (OLG Düsseldorf, a.a.O.).
Wird der Haftbefehl aufgehoben, kommt es nicht selten zu Schwierigkeiten bei der Entlassung aus der Haftanstalt. Der Angeklagte darf aber gegen seinen Willen nicht in die Haftanstalt zurückgebracht werden (LG Berlin StV 2001, 690; StraFo 2002, 273 m.w.N.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, §120 Rn. 9 m.w.N.; eingehend Stahl, Aufhebung des U-Haft-Befehls in der Hauptverhandlung und verzögerte Entlassung aus der U-Haft, StraFo 2001, 261; weitere Nachw. bei Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 4.Aufl. 2003, Rn. 538.). Auch ein Festhalten eines ausländischen Angeklagten zu dem Zweck, den zuständigen Behörden die Prüfung zu ermöglichen, ob ausländerrechtliche Maßnahmen gegen ihn einzuleiten seien, ist unzulässig. Eine solche Prüfung kann und muss vor Aufhebung des Haftbefehls durch die zuständige Stelle erfolgen. Denn gegen einen Ausländer kann bei Vorliegen der dazu erforderlichen Voraussetzungen Abschiebehaft nach §57 Abs.2 AuslG angeordnet werden, noch während er sich in Untersuchungshaft befindet (LG Berlin, a.a.O.; dazu umfassend Jung in einem Gutachten für die Vereinigung der Berliner Strafverteidiger e.V., das eingestellt ist auf http://www.strafverteidiger-berlin.de).
Wird der Mandant in der Hauptverhandlung ggf. nicht entlassen, kann dagegen mit der Beschwerde vorgegangen werden. Ist der Mandant dann vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts entlassen worden -- was in der Praxis nicht selten der Fall sein wird -- bleibt diese Beschwerde im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum fortwirkenden Rechtsschutzinteresse (Vgl. dazu BVerfG NJW 1997, 2163; eingehend Burhoff, EV, Rn. 1432 ff.) zulässig (So ausdrücklich LG Berlin StV 2001, 690; zum (bejahten) fortwirkenden Rechtsschutz bei einem gegenstandslos gewordenen, auf § 230 StPO gestützten Haftbefehl s. auch OLG Düsseldorf StV 2001, 332; a.A. insoweit OLG Hamm NJW 1999, 229 = wistra 1999, 77).
Wird ein Urteil, das den inhaftierten Mandanten zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt hat, im Termin rechtskräftig bzw. soll es das möglicherweise werden, stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, ob die ,,Noch-Untersuchungshaft" dann automatisch in Strafhaft übergeht. Diese Frage ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Die Rechtsprechung steht überwiegend auf dem Standpunkt, dass die vollzogene Untersuchungshaft bei Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung ,,automatisch" in Strafhaft übergeht (Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, §120 Rn. 15; so u.a. auch, allerdings ohne nähere Begründung, BGHSt 38, 63; BGH NStZ 1993, 31 bei Kusch; sowie auch OLG Düsseldorf StV 1999, 609, 610). Dem hat sich der 2.Strafsenat des OLG Hamm vor kurzem angeschlossen (OLG Hamm StraFo 2002, 100 m. krit. Anm. Nobis = StV 2002, 209.). Er hat allerdings darauf hingewiesen, dass eine eindeutigere gesetzliche Regelung, die diese seit mehreren Jahrzehnten umstrittene Frage in der Rechtsprechung der Obergerichte klärt, wünschenswert wäre.
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